Im Abstand von der Welt sich für die Welt einsetzen, Rezension von Markus Chmielorz und Christoph Fleischer, Dortmund/Welver 2019

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Gary Hall, Detlev Cuntz (Hg.): Das Menschenbild als Abbild Gottes bewahren, Beiträge zu Thomas Merton, Vier-Türme-Verlag, Abtei Münsterschwarzach 2019, Paperback, 148 Seiten, ISBN: 978-3-7365-0219-2, Preis: 20,00 Euro

Dieses Buch über die Thomas Merton-Tagung im Januar 2019 in Münsterschwarzach ist vollständig sowohl in deutscher als auch englischer Sprache erschienen. Die englischen Beiträge sind in der deutschen Ausgabe übersetzt und umgekehrt die deutschen in der englischen Ausgabe. Die Tagung erinnerte an den 50. Todestag des amerikanischen Ordensgeistlichen Thomas Merton (1915 – 1968), der am 10.12.1968 im Alter von 53 Jahren plötzlich und unerwartet an einem Stromschlag gestorben ist, den er sich in einem Hotel in Asien zuzog. Erst im Jahr 1965 ist der bekannte Schriftsteller und engagierte Geistliche aus dem Kloster und in eine Einsiedelei eingezogen.

Obwohl sich Thomas Merton in den 1960er Jahren in der Antikriegsbewegung und der Bürgerrechtsbewegung einen Namen gemacht hat, ist er u. E. relativ unbekannt geblieben. In der Literatur taucht allerdings auf, dass er die Theolog*innen Dorothee Sölle, Ernesto Cardenal und andere Theologen der Befreiungstheologie beeinflusst hat. Ein weiterer politisch engagierter Theologe, der aber zu Lebzeiten keinen Kontakt zu Thomas Merton hatte, war Karl Barth, dessen Todestag ebenfalls auf den 10. Dezember 1968 fällt. Barth ist im heimatlichen Basel in der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember im Alter von 82 Jahren friedlich verstorben.

Das Jahr 1968 ist weiterhin das Jahr des Todes von Martin Luther King und eines der meisten Aktionen der internationalen Studentenbewegung. 

Das Inhaltsverzeichnis bleibt in dieser Rezension außen vor. Die Rezensenten greifen sich sozusagen einige Rosinen heraus, Texte an denen sie meinen, anknüpfen zu können. (C.F.)

Anselm Grün aus Münsterschwarzach nähert sich der Schriftstellerei Thomas Mertons („Achtsamkeit des Sprechens“, S. 14 – 20). Schreiben für Gott bedeute für den schreibenden Mönch Thomas Merton, sich menschlicher Kritik auszusetzen. Merton geht es, so zeigt Anselm Grün, um Sprache im Sinn von Gespräch, im Sinn von Hölderlins „Seit ein Gespräch wir sind“.

Schreiben ist persönlich und authentisch, ohne zugleich andere Menschen (im direkten Gegenüber) zu verletzen. Merton hat zwar auch zu politischen Fragen klar Stellung bezogen, ist aber im Sinn von Kommunikation gedacht.

Genau wie Thomas Merton, so ist auch Anselm Grün an der Heilkraft der Sprache interessiert, sofern sie nicht das Ziel hat, sich selbst und andere zu verletzen. Schon das Schreiben ist ein heilsamer Prozess, nicht erst das Lesen.

Anselm Grün greift Martin Heideggers Rede vom „Sein“ auf, in der dieser meint, die „Sprache sei das Haus des Seins“. Auf Thomas Merton angewandt schreibt Grün: „Thomas Merton hat mit seiner Sprache das Sein, das wahre Sein, das ursprüngliche Sein sichtbar werden lassen. Er hat nicht über Gott geschrieben, sondern Gott in seiner Sprache erfahrbar werden lassen.“ (S. 19). (C. F.)

Bonnie Bowman Thuston reflektiert in ihrem Aufsatz „Die Gaben eines schuldigen Zuschauers“ (S. 21 – 34) und setzt dabei an einer Lebensstation des in Frankreich geborenen Thomas Mertons an, als er in einer relativ gesicherten Existenz im Kloster des ländlichen Kentucky (USA) lebte. Hier fühlte er sich als der „schuldige Zuschauer“. In einer Gesellschaft, die sich im Weltmaßstab schuldig machte, eine Randexistenz führend, setzte er sich mit dem sich unter Protesten auflösenden System des Rassismus auseinander, nahm Stellung zum nuklearen Wettrüsten, zur militärischen Intervention in Vietnam und zu sozialen Lage der armen Landbevölkerung in den USA.

Er bezeichnet sich insofern als Randperson, als dass er seine Beobachtung und die prophetische Stimme gleichwohl einbringt im Einsatz „für Frieden und Gerechtigkeit“. Merton wirkte durch seine Schriften quasi politisch, aber zugleich meint er, dass seine Spiritualität „Auswirkungen hat auf die bekannte materielle Welt“.

Er rezipierte die Überlieferung der Wüstenmönche (hier: Wüstenchristen) in der frühen Kirche und gab ihre Schriften heraus. „Für Merton ist ein Wüsteneremit eine spezielle Art von Zuschauer.“ (S.25). Er ist darin näher bei Gott, der sich wohl ebenfalls aus der (zivilen) Welt zurückzieht.

Hiermit kommt der Artikel zum Begriff des „schuldigen Zuschauers“ zurück, den Merton auch in einem Buchtitel verwendet hat. Die Rolle der Marginalität, wie sie dem Wüstenmönch vorschwebt, sei ein Bild für die Kirche. Christliche Gemeinden neigen im Allgemeinen dazu, zu sehr in die Gesellschaft involviert zu sein (im Sinn von Anpassung, C. F.). Damit kann auch übertriebener Aktivismus verbunden sein.

Christliche Eremiten, wie Thomas Merton zuletzt selbst einer war, versuchen, in ihrer Einsiedelei in sich selbst die Wunden der Welt zu heilen und sich aus den Formen der Knechtschaft zu befreien.

Dass dies kein totaler Rückzug ist, zeigt die Rolle der Gastfreundschaft (Hospitality), die nun theologisch ausgedeutet wird: So wie wir Menschen Gäste Gottes sind in der Welt, so sind wir dem Gastgeber unseres Lebens, Gott, dankbar, so sollen wir das Wohl der Anderen über das Eigene stellen.

Mertons Entdeckung der Marginalität ist also nur äußerlich ein Rückzug, der aber im Sinn des Ganzen gedacht ist. (C. F.)

Andreas Ebert legt einen Aufsatz mit dem Titel „Überwindung der Dualismen – Einheitserfahrungen in Thomas Mertons Traumerleben“ (S. 35 – 55) vor. In vier Kapiteln, „Träume und Archetypen“, „‘Proverb‘: Mertons Anima“, „Hochzeit von Ost und West“ und „Das göttliche Kind und das Selbst“ lotet er das Verhältnis von Außen- und Innenwelt in Thomas Mertons Denken -und hier in seinen Sprache gewordenen Träumen- aus. Das Benennen von Spannungsverhältnissen und das Leben in und mit ihnen kennzeichnet diesen Artikel, vor allem, wenn es um Welt und Mystik, um Thomas Mertons klösterliche Lebensform und dessen Zeitgenossenschaft geht – nicht das eine oder das andere, sondern beides: „Die gesamte Illusion einer separaten Existenz (i .e. die Welt der asketischen Entsagung) ist Traumtänzerei.“ (S. 36)

Es geht um die Überwindung von Dualismen, die Vermittlung polarer oder binärer Gegensätze wie männlich oder weiblich – und diese Entwicklung zeichnet der Autor anhand von Thomas Mertons Träumen nach. Träume transzendieren Welterfahrung hin auf psychische Integration; ein Bezug zu C. G. Jung und seinen Begriff des Archetyps ist hier zum Greifen nah. Es sind Mertons „Anima-Träume, in denen ihm weibliche Traumgestalten zu Wegweiserinnnen werden, die ihn zur Ganzwerdung einladen“. (S. 39) 

Traumerfahrungen sprechen von existenziellen Erfahrungen an der Grenze zur psychischen Leblosigkeit, wie Merton in einem Brief an „Proverb“, seiner weiblichen Traumfigur, schreibt: „Wie dankbar bin ich Dir dafür, dass Du in mir etwas liebst, von dem ich dachte (Hervorhebung M.C.), ich hätte es ganz verloren; jemanden, von dem ich dachte, er habe längst aufgehört zu existieren.“ (S. 41) Hieran schließt sich Mertons Christusbild unmittelbar an – Christus, der Vereinzelung, Getrenntsein, Isolation und Vereinsamung überwindet. Und bei Merton fallen die Berührung durch einen anderen Menschen und die Berührung des Geistes in diesem Christusbild zusammen. Das hat auch unmittelbar Auswirkungen auf das Gottesbild. Es überwindet eine Vorstellung von „dem Einen“ oder „der Anderen“, ist beides, Vater/Mutter, einsam-mächtig-dunkel/diffus-zärtlich-hell. Mertons Träume wirken hin auf Integration, auch im Hinblick auf die Unterscheidung von jüdisch-christlichem Westen und buddhistischem Osten.

Das letzte Kapitel widmet sich der Auseinandersetzung Mertons mit einem Traum Karl Barths. Es geht um die Bedeutung des Traums für Erfahrungen von Erlösung. Auch hier fokussiert Merton die Überwindung einer trennenden Unterscheidung, die von Agape und Eros. Dreh- und Angelpunkt ist hier die Musik Mozarts, über den Karl Barth geträumt hat. Merton arbeitet an Hand dieses Traums auf einer zweiten Bedeutungsebene die Unterscheidung erwachsen sein/Kind sein heraus und kommt zu Christus zurück: „Auch wenn Du erwachsen geworden bist, um Theologe zu werden, bleibt Christus in dir ein Kind.“ (S. 53) „Ohne Kontakt zu unserem inneren Kind“, so Andreas Ebert, „gibt es keine Ganzwerdung und keine Selbstwerdung“. (ebd.)

Wie radikal Merton ein anderes Gottesbild entwirft, darüber schreibt Malgorzata Poks in ihrem Aufsatz „‘Lamm bestätigt Verbindung zu Kain‘ – Das Menschliche, das Weniger-als-Menschliche und das Kin(g)dom in Thomas Mertons The Georgraphy of Lograire“ (S. 127 – 144) in einer Einführung „Mutmaßungen eine schuldigen (Post)Humanisten und den folgenden Kapiteln „The Geography of Lograire“, „Das Menschliche, das Weniger-als-Menschliche und das Ebenbild Gottes“, „Das Gottesbild in Mertons Lograire“, „The Kin(g)dom to Come: Von Lämmern und Männern (Menschen), „Theopoetik von Lograire“ und abschließenden Bemerkungen. Sie stellt ihrem Aufsatz ein programmatisches Zitat Mertons voran: „Sei menschlich in diesen unmenschlichen Zeiten; bewahre das Bild des Menschen, denn es ist das Bild Gottes.“ (S. 127) 

Der Ansatz der Autorin ist post-humanistisch, de-kolonial und intersektional. Er deckt systemimmanente Unterdrückung auf und stellt ein traditionales Gottesbild radikal in Frage, indem sie – mit Merton – Anwältin der Ausgeschlossenen, Unterdrückten und Kolonisierten ist. (S. 130): „Die traditionelle Theologie hat Gott oft mit weißen privilegierten Männern (Gott als allmächtiger, weißer Vater) identifiziert.“ (S. 131) – von dem normativen Begriff des Menschen, der daraus folgt, sind Minderheiten ausgeschlossen, Nicht-Weiße, Arme, Behinderte, Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und intergeschlechtliche Menschen, Queers. 

Die Idee der normativen Menschlichkeit zeigt sich so als ein exklusives, kolonialistisches und elitäres Konzept. (S. 134) Sie wurden und werden zu „Weniger-als-menschlich“ gemacht. Es ist im Gegensatz dazu der „sanfte Gott, der in der Aufmachung des Lammes daherkommt, um das Verlorene zu suchen“. (S. 136) Er ist „verantwortlich für dieses notleidende Glied seines mystischen Körpers (und gibt damit Verbindungen zu ihm zu)“ (ebd.). Historisch lässt sich eine „Strategie der Entmenschlichung“ zurückverfolgen, die einhergeht mit einer Animalisierung. Mit Rekurs auf Giorgio Agamben unterscheidet Poks zoe von bios, das nackte Leben von qualifiziertem Leben – Christus als Lamm ruft Assoziationen der Niedlichkeit, des Sanftmutes, der Hilflosigkeit, der Stille, des Irrationalen und der Tötbarkeit hervor. 

Mertons Aussage „Lamb admitting ties to Cain“ wird für Poks eine “epistemische Entkolonialisierung des Nichtmenschlichen oder des Nicht-Ganz-Menschen (…), die ohne die Stigmatisierung des jeweils anderen auskommt“. (S. 138) Hierin lässt sich eine radikal neue Ethik begründen für Mensch und Tier, eine Ethik der Solidarität, der Barmherzigkeit und des Mitgefühls, in der sich für Poks ein „weibliches Antlitz Gottes“ widerspiegelt. (S. 139). 

Mit Bezug auf Catherine Keller: „Das Königreich Gottes ist eine Dekonstruktion der Königreiche dieser Welt, es ist ein ‚Kin-dom‘ der Geringsten, der Armen, der Gefangenen, der Geflüchteten und der LGBTQ-Leute“. (S. 140) – „Welcher Gott (…) überlebt die dekoloniale/(de)konstruktivistische Kritik?“, fragt Poks im Anschluss daran. Am Ende des Aufsatzes bleiben mehr Fragen als Antworten, und die Autorin leiht sich die Stimme von John D. Caputo: „Wie wäre es, wenn es wirklich eine Politik der Humanität aus Fleisch und Blut gäbe, wie im Neuen Testament ausgeführt, eine Politik geleitet von Erbarmen und Mitgefühl, die im Land die schwächsten und wehrlosesten Menschen stärkt, eine Politik, die Fremde willkommen heißt und die auswärtigen Feinde liebt?“ (S. 142) – Wenn wir beide Aufsätze zusammendenken: Jenseits des Binären, jenseits des Urteils werden Ganzwerdung, Integration und Erlösung lebendig. (M. C.)

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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