Beispiel aus der Ausstellung Shares History, Pressearbeit und Aufsatz, Fröndenberg 2021

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Ernst Gräfenbergs Kampagne für die Rechte der Frau

Jul 8, 2021, von Prof. Atina Grossmann | The Cooper Union

Genehmigung durch: Margarete Schwind, SCHWINDKOMMUNIKATION, Margarete Schwind und Sabine Schaub GbR, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Knesebeckstr. 96, 10623 Berlin

Die Beispiele des Gräfenberg-Pessars aus der virtuellen Ausstellung Shared History Project, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Die „Erfindung“ des Intrauterinpessars von Dr. Ernst Gräfenberg ist Teil einer transnationalen – konkret: einer gemeinsamen deutsch-jüdisch-amerikanischen – Geschichte von Sexualreform und Bevölkerungspolitik. Die Bewegung war geprägt vom einem breiten„Konsens über Mutterschaft und Eugenik“ der gesunde Mutterschaft und Fortpflanzung forderte – und jeweils in unterschiedlich radikaler Form – die Legalisierung von Homosexualität und Abtreibung und für das Recht der Frau auf körperliche Selbstbestimmung über ihren Zugang zu sicheren Verhütungsmethoden eintrat.

Ernst Gräfenberg wurde 1881 geboren; seine jüdische Familie lebte in Adelebsen, einer kleinen Stadt nahe Göttingen. Sein Vater besaß einen Eisenwarenhandel und war Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Ernst Gräfenberg studierte Medizin in Göttingen und München, ursprünglich mit der fachärztlichen Ausrichtung der Augenheilkunde, und schloss im Jahr 1910 seine Ausbildung in Geburtskunde und Gynäkologie in Kiel ab. Seine gerade erst begonnene Laufbahn als Arzt und Wissenschaftler in Berlin wurde unterbrochen, als er im Ersten Weltkrieg als Sanitäter diente.

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ließ sich Gräfenberg mit einer Praxis auf dem Kurfürstendamm mitten im belebten Berliner Geschäftszentrum Charlottenburg nieder, die bald florierte. Der Bezirk stand wie kein anderer für die experimentell-modernistische und jüdisch geprägte urbane Kultur der Weimarer Republik. Parallel übernahm er wie viele seiner jüdischen Kollegen einen Posten im umfassenden kommunalen Gesundheitssystem der Stadt, das von Ideen des Sozialismus bzw. Kommunismus geprägt war, und arbeitete als Chefarzt der Gynäkologie im städtischen Krankenhaus des Arbeitervororts Britz.

Im Jahr 1932, kurz vor ihrer Entlassung im Rahmen der von den Nazis betriebenen „Gleichschaltung“, waren in einer Stadt mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 4 % weit mehr als die Hälfte der 6.785 Ärztinnen und Ärzte an den städtischen Krankenhäusern Berlins Jüdinnen und Juden. Ab 1933 durften jüdische Ärztinnen und Ärzte, davon mindestens 270 von 722 Ärztinnen in Berlin, nicht mehr in den öffentlichen, Kassenpatienten offenstehenden Ambulatorien praktizieren.

Ein im Jahr 2016 in Haaretz erschienener Beitrag feierte Gräfenberg wegen seiner anderen (nach seinem Tod erkannten) Errungenschaft als den „Arzt, der den G-Punkt entdeckte, falls es diesen gibt“ und beschrieb ihn als Mann, „der seiner Zeit voraus war.“ Tatsächlich war er aber auch und gerade ein Mensch seiner Zeit. Sexualwissenschaftler, Ärzte, Sozialarbeiter und Politiker der Weimarer Republik beklagten den „Graben zwischen den Geschlechtern“, der sich im Ersten Weltkrieg aufgetan hatte, ebenso wie die offensichtlich unter den „neuen Frauen“ der 1920er Jahre verbreitete Verachtung für Ehe und Mutterschaft. Frauen hatten das Wahlrecht erhalten und einen gewissen Grad an wirtschaftlicher Unabhängigkeit erreicht – die Folge der neuen rationalisierten Wirtschaft, in der Angestellte und Fließbandarbeiter gebraucht wurden. Ebenso eröffneten sich den Frauen neue berufliche Chancen unter anderem in Medizin, Sozialarbeit, im Journalismus, in der Fotografie und sogar in der Rechtspflege. In seiner wissenschaftlichen Forschung befasste sich Gräfenberg mit der weiblichen Sexualität und dort besonders mit dem so schwer zu erreichbaren vaginalen Orgasmus, dem in dieser Zeit seit neuestem große Bedeutung als zentraler Aspekt harmonischer heterosexueller Beziehungen zugeschrieben wurde. Dieser, so die Annahme, hing vom Zugang der Frauen zu sicheren und verlässlichen Verhütungsmethoden ab.

Im Jahr 1928 organisierte das neu gegründete Deutsche Komitee für Geburtenregelung in Zusammenarbeit mit dem Verband Berliner Krankenkassen das erste Ärzteseminar zum Thema Geburtenregelung im Berliner Virchow-Krankenhaus. Die meisten der ungefähr 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren Mitglieder des Vereins sozialistischer Ärzte und/oder des Bundes deutscher Ärztinnen; viele von ihnen kamen aus jüdischen Familien.

In seinem Vortrag fasste Gräfenberg seine seit fast zehn Jahren betriebene experimentelle Forschung an Intrauterinpessaren (IUP) zusammen; diese waren erstmals von den deutschen Ärzten Richard Richter (1909) veröffentlicht und Walter Pust (1923) entwickelt worden. Gräfenberg hatte das IUP weiterentwickelt als einen Ring mit Seidenfäden, mit dem Spermien abgewehrt wurden. Das Gerät stellte eine „elegante“ medizintechnische Lösung dar, so formulierte er es, die Frauen vor häufigen Schwangerschaften und der Gefahr einer Sepsis oder einer möglichen Unfruchtbarkeit bewahrte, die mit einer illegalen Abtreibung verbunden war. Gräfenberg pries den Ring als besonders hilfreich für Frauen des Proletariats an, die unter Umständen wegen schlechter hygienischer Bedingungen, des Unwillens ihrer männlichen Partner und allgemeiner „Unkenntnis“ nicht in der Lage waren, ein Diaphragma (oder Pessar) richtig und regelmäßig zu verwenden. Sein Publikum begegnete dem Vortrag mit großer Skepsis, so dass der „Gräfenberg-Ring“ weiterhin wegen der weitverbreiteten Zweifel an seiner Sicherheit und Zuverlässigkeit umstritten blieb. Während die Ärzte das IUP in ihr Angebot an Verhütungsmitteln aufnahmen, wurden in den Ehe- und Sexualberatungsstellen für Frauen der Arbeiterklasse weiterhin den weniger invasiven und von den Frauen selbst eingesetzten Verhütungsmitteln der Vorzug gegeben, wobei allerdings regelmäßig darauf hingewiesen wurde, wie wichtig medizinische Anleitung und Kontrolle seien.

Davon unbeeindruckt präsentierte der Sexualwissenschaftler 1929 sein IUP auf dem Londoner Kongress der Weltliga für Sexualreform. Diese internationale Vereinigung, die Wilhelm Reich, Alexandra Kollontai und Bertrand Russell wie auch Aktivistinnen und Aktivisten aus Indien und Japan zu ihren Unterstützern zählte, trat für sexuelle Freiheit, die Rechte von Homosexuellen und die Legalisierung von Abtreibungen ein. Inspiriert war die Liga in ihrer Haltung von der frühen bolschewistischen Revolution und dem Leitsatz des von Magnus Hirschfeld gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin: Per Scientiam ad Iustitiam.

Im gleichen Jahr hielt Gräfenberg einen Vortrag auf der Internationalen Konferenz für Geburtenregelung in Zürich. Margaret Sanger, der Vorkämpferin der Verhütung in den Vereinigten Staaten, war es gelungen, Vertreter und Vertreterinnen einer auffallend großen Vielfalt von Gruppierungen und politischen Haltungen als Teilnehmende der Konferenz zu gewinnen. Anwesend waren überzeugte Kommunisten und Kommunistinnen und Mitglieder des Bundes deutscher Ärztinnen, sowie Dr. Hans Lehfeldt und Dr. Felix Theilhaber, beides Kollegen von Gräfenberg, die in den von Laienorganisationen der Sexualreformbewegung getragenen Beratungsstellen tätig waren. Auch Dr. Charlotte Wolff, die in einem Ambulatorium der Schwangerenfürsorge des Verbandes Berliner Krankenkassen arbeitete, nahm teil, wie auch Eugeniker, die zum Teil von der Rockefeller-Stiftung unterstützt wurden.

Auf der Züricher Konferenz mit ihren medizinischen Vorträgen – aber auch gemeinsamen Abendessen, Tänzen und Ausflügen in die Berge der friedlichen Schweiz – wurden Verbindungen geknüpft und intensiviert, die sich nur wenige Jahre später als lebensrettend herausstellen sollten, als viele der Teilnehmenden, darunter auch Hans Lehfeldt, Felix Theilhaber und Charlotte Wolff, aus Deutschland flüchten mussten. Eine weitere Folge dieser Konferenz waren globale Kooperationen nach dem Krieg und die Entstehung der International Planned Parenthood Federation. Kurze Zeit später organisierte die Weltliga für Sexualreform einen von radikaleren Positionen gekennzeichneten Kongress in Wien mit der Unterstützung des sozialistisch regierten Rathauses der Stadt. Es kann angenommen werden, dass in dessen Ausstellung von Verhütungsmitteln auch Gräfenbergs neuer Ring gezeigt wurde.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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