Dieser Blog ist ein Beitrag zur Diskussion um Religion in unserer Gesellschaft.
Ich führe damit fort, was ich mit der Homepage www.der-schwache-glaube.de angefangen habe. Ich arbeite seit über 25 Jahren als evangelischer Pfarrer und habe in der Begegnung mit den Menschen vor Ort die Erfahrung gemacht, dass sich aktive und passive Gemeindemitglieder nicht besonders unterscheiden lassen.
Wie wichtig ist eine christliche oder religiöse Einstellung definitiv?
Warum jemand aktiv wird oder passiv bleibt, ist oft von Zufällen und Lebensumständen abhängig, also weniger von der Einstellung. Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hat 2008 festgestellt, dass über zwei Drittel der Menschen in der Gesellschaft religiös sind, dass aber Religion im Leben nur weniger ein zentrale Rolle spielt. Ausgehend von dieser Beobachtung habe ich versucht, den Unterschied zwischen starkem und schwachem Glauben zu markieren, nicht jedoch, um damit Glauben auf- oder abzuwerten.
Im Gegenteil: Ich möchte zeigen, dass diese Wahrnehmung eine theologische Herausforderung ist. Ist nicht Jesus nach seinen Worten gerade für die Schwachen gekommen und nicht für die Starken, und sucht er nicht das verlorene Schaf? Ist nicht gerade die “Rechtfertigung der Sünder” auf Menschen bezogen, die nicht aus eigener Kraft heraus glauben oder zu Gott kommen können? Wie wäre eine Kirche, die den Anspruch des “Aus-eigener-Kraft-Gott-Erkennen-und-glauben” aufgeben würde?
Vor Gott wertvoll und geachtet, alle ohne Unterschied!
Spricht nicht Paulus dabei sogar von sich selbst, wenn er sagt, dass die Kraft Gottes in den Schwachen mächtig ist? Kurzfassung: Menschen, deren Glaubenseinstellung religiös, aber nicht zentral ist, haben Interesse an religiösen Themen, Sendungen usw., kommen aber weniger in kirchlichen Veranstaltungen vor.
Sie glauben subjektiv an Gott oder an das Göttliche, ohne sich auf kirchliche Dogmen festlegen zu wollen. Gelegentlich interessieren sie sich auch für esoterische oder spirituelle Angebote oder sehen die Verwirklichung ihres Glaubens in ihrer familiären oder gesellschaftlichen Rolle. Gegenüber Institutionen sind sie kritisch oder ablehnend, besonders hinsichtlich ihrer Machtansprüche, zahlen aber brav Kirchensteuer.
Im Kirchenjahr ist es besonders das Weihnachtsfest, das rituell begangen wird. Sie beten in Krisenzeiten, aber nicht regelmäßig, nehmen als Kirchensteuerzahler die rituelle Lebensbegleitung in Anspruch, ja fordern sie regelrecht ein. Auch wenn sie weniger religiöse Gefühle pflegen, finden sie Gott doch in allem Leben, erleben Gott aber weniger als Person oder als Gegenüber. Ethische Grundregeln aus der christlichen Tradition sind ihnen wichtig. Zentral ist der Alltag, nicht der Glaube.
Wenn Glaube und Leben gesellschaftlich untrennbar sind, ist das so schlecht?
Die neuere Umfrage im Auftrag des Hessischen Rundfunks bestätigte dieses Ergebnis, stellte aber die Kriterien der Zentralität anders dar und kam so zum Ergebnis, dass diese Mehrheit der Bevölkerung nicht christlich sei. Dem ist eine weitere Beobachtung entgegenzuhalten, die ich bei der Überarbeitung der Homepage vor dem Hintergrund aktueller Erfahrungen in Gemeinde, Seelsorge und Schule gemacht habe. Wenn auch angesichts kirchlicher Betonung von Schrift und Bekenntnis der Eindruck entsteht, die Mehrheit der Kirchenmitglieder seien als bloße “Namenschristen” (Sören Kierkegaard) zu bezeichnen, ist es hilfreich, die aktuelle gesellschaftliche Situation von Religion und Glauben religionsphilosophisch zu betrachten.
Was heißt in der Gesellschaft zu leben, ohne den Glauben verteidigen oder als Macht missbrauchen zu müssen?
Hier spricht man inzwischen von einem “postsäkularen” Zeitalter (Jürgen Habermas). In unterschiedlichen Diskursen beobachtet die Philosophie eine “Wiederkehr der Religion”. Es ist sinnlos, dies zu bestreiten, wenn man verdeutlicht, dass der Begriff und das Phänomen der Religion in verschiedenen Bereichen erneut auftauchen, wo sie Jahrzehnte vor und nach dem zweiten Weltkrieg keine Rolle mehr gespielt haben.
Auch die evangelische Theologie bezeichnete die Religion als Ausdruck menschlicher Selbsterlösung und erwartete gar eine nicht-religiöse Verkündigung. Wenn auch die Philosophie religiös neutral argumentiert und im Prinzip von einem methodischen Atheismus ausgeht, findet sie doch gerade in der heutigen globalisierten Gesellschaft Gründe für eine Dekonstruktion des Christentums oder stellt die Entwicklung zur Säkularität geradezu als Ergebnis des Christentums heraus.
Anders gesagt: Die Wiederkehr der Religion ist keine Rückkehr in die Vormoderne, sondern die Erkenntnis, dass die Religion das stille Fundament unserer Gesellschaft ist, sowohl in den Fehlentwicklungen als auch in der Hoffnungsperspektive.
Es gibt kein Zurück zu einem Schwarz-Weiß-Denken, zu einer absoluten Heilsgewissheit. Glaube ist Vertrauen, nicht mehr aber auch nicht Weniger.
Da die gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Entwicklung der Aufklärung zuerst auch gegen kirchliche Dogmen erstritten wurde und sich bestimmte Förderer des Säkularismus als ausgesprochen atheistisch gaben, entstand der Eindruck, die Religion sei damit obsolet, was sich nun als Irrtum erweist. Damit ist aber gerade kein Zurück zu einer institutionellen Metaphysik gemeint.
Die christliche Religion ist als die Entdeckerin der “Welt” zu würdigen. Sie ist die Begründerin eines globalisierten Denkens, die in der Einheit auch den Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit in der Annahme der geschöpflichen Gleichheit und Vielfalt begründete. Diese religiöse Tradition bleibt in der urchristlichen Literatur lebendig, ohne andere religiöse Quellen als unwahr zu verdammen.
Das Christentum erfindet sich aus seinen Wurzeln neu, es wird tolerant.
Das Christentum ist auch unter den Bedingungen der Toleranz lebensfähig, ja findet in gewisser Hinsicht erst dadurch zu seinen Wurzeln zurück. Die Verkündigung Jesu und des biblischen Gottesbildes sind als Abschied einer Metaphysik der Macht und der patriarchalen Herrschaft wieder zu entdecken. Wie dies in der “Bibel in gerechter Sprache” beispielhaft praktiziert wird.
Allerdings darf die Erkenntnis dieser Toleranz nicht einhergehen mit elitärer und besserwisserischer Einstellung, die nur im solidarischen und politischen Engagement die wahre Religion Jesu sieht, denn auch darin offenbart sich eine Metaphysik der Macht, die nur auf Umkehrung basiert.
In diesem Zusammenhang sollte man auch Autoren der Occupy-Bewegung zur Kenntnis nehmen wie z. B. David Graeber. Auch die Herausforderung der Bewusstseinsentwicklung nach Ken Wilber oder die Frage nach einer “Nächsten Gesellschaft” von Dirk Baecker angesichts zunehmender Vernetzung bilden eine solche Herausforderung für Theologie und Seelsorge. Dies allerdings geschieht nicht, ohne den Hinweis von Jean-Luc Nancy aus dem Auge zu verlieren, dass Gemeinschaft notwendig immer auch unterbrochen und zuletzt nicht herstellbar ist.
Der deduktive Ansatz, dass jemand etwas besser weiß, auch in Sachen der Religion, ist zu Ende. Jeder Mensch ist der beste Fachmann für sein eigenes Leben und sein eigenes Bewusstsein. Auch die Psychologie ist ja ein Angebot dafür, herauszufinden, was das eigene Leben an Antwortmöglichkeiten bereithält, die oft noch verschlossen und unbewusst sind. In diesem Sinn eröffne ich diesen Blog und wünsche einen guten Austausch.
Lieber msgreif,
Da Sie sich über die Seite freuen, würde ich mich über eine partielle Mitarbeit freuen. Auch die von Ihnen angefragten Klärungen sind ja durchaus immer ein wenig in der Diskussion.
Meine persönliche Meinung hat sich auch etwas verändert. Formal gesehen würde ich heute sagen, dass ich einen Theismus unter Umständen akzeptiere, was man ja meinen Predigten auch anmerkt.
Es müsste ein „schwacher“ Theismus sein, der auch die Wahrheit in den Auffassungen der Anderen Religionen und Weltanschauungen sieht, aber natürlich auch eine eigene Position vertritt.
Die Frage 1. ist ein wenig unverständlich. Der Artikel bezieht sich auf das Nomen „Glaube“, der Glaube ist schwach. Das ist also eine Einschränkung oder Näherbestimmung. Es gibt dabei ein Abrengzungsproblem im Hinblick auf „Stärke“.
Die Stärke dieses Glaubens kommt aus dem Vollzug, aus der Praxis, und nicht aus dem vermeintlichen Wahrheitsbesitz. Meine Position ist doch recht nahe an der von Rudolf Bultmann (existentiale Interpretation).
2. Ist „negative“ Religion das gleiche wie „negative“ Theologie? Die Mystik ist ja bekanntlich auf die Unmöglichkeit der menschlichen Gotteserkenntnis gestoßen.
Das heißt aber nur, dass die Differenz zwischen Glauben und Wissen immer bestehen muss. Glaube wird imm Sinne Jesu als Praxis verstanden. In dieser lebendigen Praxis ist auch Gotteserfahrung möglich, z. B. im Sinn von Mystik. Gott kann dabei allerdings nicht auf ein kirchliches Lehramt, welcher Konfession auch immer, festgelegt werden.
3. Die dritte Frage kann ich momentan nicht klar beantworten. Das „Judentum“ Jesu darf nicht mit dem momentan praktizierten „Judentum“ verwechselt werden, es ist antik, hellenistisch geprägt. Sie kann aber auch nicht ausschließlich vom Alten Testament her abgeleitet werden, da diese Tradition im 2. Jahrhundert abbricht. Die weitere Geschichte des hellenistischen Judentums ist mir im Moment nicht klar. Ich weiß nur, dass sie einerseits im Christentum eine Fortsetzung fand und im Judentum ausgegrenzt wurde. Zum Beispiel wurden die Schriften von Philo und anderen nur im Christentum tradiert. Es gibt im Moment eine Diskussion um das messianische Judentum, wozu ich noch eine Rezension schreiben werde. Es darf nicht einfach mit einem Judenchristentum und damit mit einer problematischen Judenmission verwechselt werden.
4. Nach Derrida besteht im Moment die Problematik, dass man sich bei einer Definition immer auf eine Ausschließung anderer Alternativen festlegt. Das ist ein Zeichen dafür, dass der „schwache Glaube“ bei mir ursprünglich vom „schwachen Denken“ abgeleitet worden ist. Das ist philosophisch gesprochen ein epistemologisches Problem. Derrida entscheidet sich für Kants Religionsphilosophie, der im Grunde eine Art Vernunftreligion in der Ethik kombiniert mit einer der Philosophie nicht zugänglichen Unverfügbarkeit Gottes. Die Entscheidung zwischen eine mehr philosophisch gedachten Gottesbegriff wie „Grund des Seins oder des Lebens“ und einem theologischen Wie dem Gott der Beziehung oder dem lebendigen Gott ist nicht immer möglich. Bei einer sprachlichen Festlegung landet man dann wieder bei der Wahrheitsfrage und letztlich vor der Aporie, eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch treffen zu müssen.
Wes Geistes Kind bin ich? Mich reizt eigentlich immer wieder die Position des Sokrates, der sagte: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Danke für den leider anonym unterschriebenen Kommentar
Bin heute auf dieseSeite gestoßen.
Frage zum Motto:
Der schwacher Glaube,
Der christliche Glaube zwischen Moderne und Religion.
1.
Das „Der“ zeigt ein Zugesprochenes an, sodass das „schwach“ sich als ein „vermeintlich Schwach“ herausstellt.
2.
Wie bekomme ich den Bezug zudem was ich als „negative“ Religion verstehe,
die die Umkehrung der Verhältnisse im Bezug auf das Leben Jesu im Auge hat.
3.
meint das „christlich“ mehr den kirchlichen griechischen Christus oder den historischen jüdischen Jesus.
4.
Glaube als Loyalität (Religion) oder als Souveränität (Moderne)
Ein „Zwischen“ scheint mir schwierig. (Niemand kann zwei Herren dienen)
Ich wäre Ihnen dankbar wenn sie mir über mehr Klarheit über das Motto der Seite verschaffen könnten, damit ich erkenne kann, wessen Geistes Kind Sie sind.
Ich freue mich über diese Seite und hoffe auf regen Austausch.
Lieber Herr Wehrenbrecht, danke für die Bereitschaft zur Mitarbeit. Bitte senden Sie mir Ihren nächsten Beitrag per Email (Siehe Impressum).
Hallo, Herr Fleischer, ich danke Ihnen für dieses Forum und ich werde sicherlich den einen oder anderen Beitrag einstellen. Ich bin auf die Seite durch die Abendmahlsgebete von Wilhelm Willms aufmerksam geworden und habe durch meine Rezensionstätigkeit bei Amazon öfter einige ihrer Rezensionen gelesen. Ich wünsche Ihrem Projekt viel Erfolg und stimme ihren Beobachtungen als Kollege zu.