Liebe Gemeinde,
das öffentliche Wirken Jesu beginnt nach dem Evangelisten Lukas mit seiner Predigt im Synagogengottesdienst seines Heimatdorf Nazareth. Jesus liest aus der Schriftrolle des Propheten Jesaja. Es ist ein messianischer Text, der die Verheißung enthält, dass der kommende Messias die Gefangenen befreien wird. Wir hören die Worte in der Lutherübersetzung 2017:
„Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, das sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.
Und als er das Buch zutat, gab´s er dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden. Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ Lukas 4, 18-20
Messianische Verheißung
Umwälzung liegt in der Luft. Die Verhältnisse kehren sich um. Die Gefangenen werden befreit und die Unterdrücker werden zur Rechenschaft gezogen. Die Zerschlagenen werden geheilt. Jesus erinnert uns heute, die messianische Zeit ist erst dann vollendet, wenn alle Eingekerkerten befreit werden. Der jüdische Glaube weiß davon ein leidvolles Lied zu singen und wie ein piependes Ohrgeräusch ist es mahnend in das Christentum eingeschrieben: Erst wenn alle, die in Gefängnissen ihrer Würde beraubt wurden – heute, gestern oder zukünftig – befreit werden, ist die Sendung des Messias Jesus abgeschlossen. Wenn Jesus als Weltenrichter aus den Himmeln wiederkommt, werden alle Gefangenen freikommen und das Recht wird aufgerichtet. Das wird ein Auszug aus der Knechtschaft und physischen Unterdrückung sein, wie es noch kein Mensch gesehen hat. Der Kommende ist der Richter, der die Schafe von den Böcken scheiden wird (Matthäus 25, 31). Es ist der Weltenrichter an dem die Welt ihr Gericht durch Tod am Kreuz vollzog und den Gott mit der Auferstehung ins Recht gesetzt hat. Jesus ist ein Richter, der selbst Unrecht erlitten hat.
A Better Place
Menschlich gesehen sollten wir einen solchen Richter fürchten. Wer ist schon von Rachegedanken frei? Wenn wir richten könnten, wie würden wir die Menschen, die getötet und vergewaltigt haben, vielleicht sogar unser eigenes Kind, richten?
In der achtteiligen Drama-Serie „A Better Place“ ( ARD 2024/2025) wünscht eine über die Freilassung des Mörders ihres Sohnes zornentbrannte Mutter, dass der Mörder zeitlebens weggesperrt bleibt. Zu einer Mediation mit dem Täter ist sie nicht bereit. Verständlich! Oder? Das Experiment Gefangene eines Gefängnisses in der fiktiven Stadt Rheinstadt unter strengen Auflagen, aber mit einem Vertrauensvorschuss in die Freiheit zu entlassen, dass sie wieder Fuß fassen können, scheitert auf ganzer Linie.
Es ist die Angst Verurteilte frei zu lassen, weil wir ihr kriminelles Gewaltpotential fürchten. Dabei zeigen Studien, dass eine Täter-Opfer-Mediation und eine aktive Wiedergutmachung durch Täter zu einer stabileren und viel höheren Resozialisierungsrate führt und auch zu einem höheren Gerechtigkeitsempfinden auf Seiten der Opfer. Aber es ist einfacher und in der Gesellschaft akzeptierter Täter, zu isolieren. Eine aktive Wiedergutmachung durch Täter ist nicht gewollt. Dazu kommt unsere Vorstellung von Sühne, die von alters her unser Denken und Empfinden bestimmt. Der Täter soll für seine Tat büßen. Die Bußübung ist der Freiheitsentzug, das Wegsperren hinter Mauern und Gittern (Wegsperren, Thomas Galli). Das verhindert Täter als Teil der Gesellschaft zu sehen. Sie haben es verwirkt.
Der Weltenrichter Jesus
Jesus, der Weltenrichter, kehrt es um. Nicht Rache bestimmt sein Richten, sondern seine göttliche Empathie und seine göttliche Gerechtigkeit. Tätern und Opfern soll Gerechtigkeit widerfahren. In Jesu Rede über das Endgericht (Matthäus 25) gibt es einen Rollentausch. Jesus lässt sich selbst gefangen nehmen. Wo gibt es einen weltlichen Richter, der sich mit einem physisch Gefangenen und den damit verbundenen Freiheitsentzug identifiziert? Wo gibt es einen himmlischen Richter, der beim Jüngsten Gericht sagt: Wenn du einen Gefangenen aufgesucht hast, hast du mich aufgesucht? Gehe ein in das ewige Leben!
Es geht in Matthäus 25 noch nicht einmal um Befreiung, sondern bei diesem Werk der Barmherzigkeit um das Aufsuchen von Gefangenen: um Kommunikation, um Gespräch, um Gemeinschaft, um Würdigung. Jesus setzt sich der Entwürdigung aus, dem Ausgeliefertsein der Wächter, dem Verstummen, dem lauten und stillen Leiden der Gefangenen, der Folter und Isolationshaft. Jesus teilt die Scham und die Stigmatisierung der Gefangenen, ihre Sehnsucht dazu zu gehören, wieder ein Teil der Familie, wieder ein Teil der Gemeinschaft zu sein. Ein freier Mensch auf Gottes Erde und unter Gottes Himmel. Der Weltenrichter hat für alle gesühnt, ist an unserer Stelle leiblich gebrochen worden und hat die Tiefen der Hölle durchschritten. Mit Sühne sollte Schluss sein!
„Herr, du bist Richter, du nur kannst befreien, wenn du uns freisprichst, dann ist Freiheit da. Freiheit sie gilt für Menschen, Völker, [Ethnien], so weit wie deine Liebe uns ergreift (Eg 663,4).“
Gefängnishölle
Gefängnis ist in den meisten Ländern der Welt: Die Hölle. Und das nicht nur in den Autokratien und Diktaturen unserer Welt. Das hat uns nicht zuletzt das Drama der Gefangenschaft von Julian Assange gelehrt. Der in einen Hochsicherheitstrakt Eingekerkerte Whistleblower, der schlimmste Kriegsverbrechen aufgedeckt hatte, wurde wegen Staatsverrat angeklagt. Ein politisch Verfolgter, wie so viele, die in Gefängnissen drangsaliert und psychisch gebrochen werden. Ihre Zahl ist Legion.
Freiheit im Gefängnis?
Es ist die staatliche Willkür, die Menschen in Gefängnissen weltweit zerbrechen lässt, aber auch suchen lässt nach einem göttlichen Halt. Zurückgeworfen auf sich selbst, öffnen sich Menschen für geistige Wahrheiten, für die spirituelle Dimension ihres Lebens. Robert Rother, dem ich vor einem Jahr persönlich begegnet bin, erzählt in seinem Buch Drachenjahre, wie er 7 Jahre und 7 Monate in der chinesischen Gefängnishölle in Dongguan überlebt hat. Er fand zu Gott und Mithilfe seines Glaubens entwickelte er eine Überlebensstrategie. So paradox es klingt. Im Gefängnis erfährt er sich – immer wieder – als frei, wie nie zuvor in seinem Leben. Er schreibt: „Der Glaube half mir, meinen Absturz als etwas Relatives zu begreifen und meinen Bedeutungsverlust zu akzeptieren. Es war letztlich das Einzige, was mir blieb. Nicht einmal die im Knast allmächtige Staatsmacht konnte mir den Glauben nehmen – nicht den an Gott und nicht den an mich selbst. So bewahrte ich mir meine Würde (Drachenjahre S.134/135).“
Geschichten von Gefängnis und Befreiung
Auch wenn wir in die Bibel schauen, lesen wir von Geschichten, wie Gott rettend seine Kinder aus Gefangenschaft befreit oder wie Zeiten der Gefangenschaft zum einen zur Erfahrung der Abwesenheit Gottes, zum anderen zur Gotteserfahrung werden. Das Volk Israel und sein Gottesverhältnis ist entscheidend durch Gefangenschaft und Unterdrückung geprägt. Die wichtigste jüdische Hoffnungs- und Zukunftserzählung ist der Exodus aus der Sklaverei Ägyptens. Gott führ sein Volk in die Freiheit.
Da ist aber auch die Geschichte von Josef, der zu Unrecht ins Gefängnis verbannt wird. Gott steht ihm bei, segnet ihn mit Träumen und der Fähigkeit, Träume zu deuten. Der Pharao lässt ihn aus dem Gefängnis kommen und er wird der zweite Mann im Staat Ägypten. Die Geschichte von Josef hat mich schon als Kind beeindruckt. Ich habe als Kind mit Josef gelitten und mich über die wunderbaren Fügungen in seinem Leben gefreut: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen (Genesis 50,20).“
Als Zäsur der biblischen Geschichte Israels gilt die Gefangenschaft großer Teile der Elite Israels, ihre Deportation nach Babylon. Während der babylonischen Gefangenschaft hat Gott zu Israel geredet durch die Propheten. Nach der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung hielt ein kleiner Rest in der Fremde an Gott fest. Rückblickend lässt sich sagen, dass der jüdische Glaube auch ohne Tempelkult in Jerusalem weitergelebt hat. Der Glaube an den einen Gott hat der Krise standgehalten, mehr noch: Die babylonische Gefangenschaft war eine produktive Zeit für die schriftliche Fixierung des jüdischen Glaubens und für die messianische Hoffnung, dass Gott sein Volk befreien wird. In der Krise sind Psalmen und biblische Schriften entstanden, die uns heute in einer gottvergessenen Welt Wegzehrung und Weisung sind.
„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Völkern: Der HERR hat Großes an ihnen getan. (Psalm 126, 1-3)
Gefangenschaft und Recht
Aber auch das Neue Testament erzählt von wunderbaren Befreiungsgeschichten aus Gefängnissen. Als Paulus und Silas buchstäblich im innersten Bunker eines Gefängnislochs in Thessaloniki die eisernen Ketten von den Fesseln fallen, kommt der Gefängniswächter zum Glauben und will den zugefügten Schaden wieder gut machen „Und er [der Gefängniswärter] nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen (Apg 16,33)“
Das ist nicht das einzig Interessante an dieser Geschichte. Nachdem die Stadtrichter nichts gegen Paulus und Silas in der Hand hatten, aber vor ihrer Untersuchungshaft Stockschläge durch die Gerichtsdiener anordneten, waren sie furchtbar erschreckt, da sie erfuhren, dass Paulus und Silas das römische Bürgerrecht besaßen. Paulus und Silas beschwerten sich bei ihnen, dass sie als römische Bürger nicht hätten körperlich gezüchtigt werden dürfen. Sie traten selbstbewusst für ihr Recht ein.
Noch in den schlimmsten menschenverachtenden Systemen gibt es ein Rechtssystem. Auch Roland Rother hat die chinesischen Gesetzte und Gefängnisverordnungen studiert, um sich gegen Übergriffe zu wehren. Das hat die Willkür – selbst in einem korrupten System – begrenzt.
Die allgemeinen Menschenrechte der UNO helfen sehr, sich für Gefangene einzusetzen, deren Menschenrechte verletzt werden. Es gibt weltliche und christliche Organisationen, die sich für politisch und religiös Verfolgte und Inhaftierte einsetzen. Immer wieder führt die Schaffung von Öffentlichkeit zu Haftverbesserungen, manchmal auch zur Haftentlassung (Nelson Mandela).
Auch in unserem Land gibt es Forderungen, das Gefängniswesen zu reformieren (Wie wir das Verbrechen… Thomas Galli). Die Ziele der Resozialisierung werden mit Wegsperren nicht erreicht, im Gegenteil. Viele Inhaftierte werden in unseren Gefängnissen erst recht kriminalisiert. Diese Reformen scheitern bisher an einem rigiden Justizsystem und an der Angst der politisch Verantwortlichen vor dem Volk. Der Sühnegedanke ist zu tief in uns allen verankert. Christinnen und Christen sollten sich für eine Gefängnisreform, die Opfern und Tätern hilft, einsetzen. Es gilt nicht nur ein Werk der Barmherzigkeit an Gefangenen zu tun, sondern das Recht dahingehend zu verändern, dass Menschenwürde für Opfer und Täter angestrebt wird.
Gott befreit
Wenn Gott befreit, dann ist es eine echte Befreiung. Die größte Befreiung ist die Auferstehung Jesu von den Toten. Auferstehung ist die Befreiung vom Tod. Seitdem läuft zukünftig (eschatologisch) alles auf die Befreiung der physisch und psychisch Gefangenen heraus. Auf diese große Befreiung warten wir. Sie ist uns verheißen, wenn Jesus mit Macht und Herrlichkeit wieder kommt. Die Unterdrücker werden nicht das letzte Wort über ihre Opfer haben. Wir sind Kinder der Freiheit und stehen mit einem Fuß im Reich Gottes. Lasst uns unsere Berufung leben, Gefangene aufsuchen (Gefängnisseelsorge), und mit unseren Gebeten, unserer Haltung und unserer Kraft Gefangene aus der Isolation befreien.
Amen.
Anmerkung: Mit der Predigt will ich die Hoffnung und den Glauben stärken, dass Gott am Ende der Zeit die Gefangenen endgültig befreien wird. Die Unterdrücker werden nicht das letzte Wort haben.
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