Von außen auf das Christentum sehen, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2020

Zu:

Francois Jullien: Ressourcen des Christentums, Zugänglich auch ohne Glaubensbekenntnis, aus dem Französischen von Ernst Landrichter, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019, gebunden, 119 Seiten, ISBN: 978-3-579-02395-3, Preis: 15,00 Euro

Link: https://www.randomhouse.de/Buch/Ressourcen-des-Christentums/Francois-Jullien/Guetersloher-Verlagshaus/e561316.rhd

 

Das Buch „Ressourcen des Christentums“ ist im Jahr 2018 in französischer Sprache erschienen und kam 2019 recht zügig auf Deutsch heraus. Francois Jullien (geb. 1951) ist auch in Deutschland kein Unbekannter (Preisträger des Hannah-Arendt-Preises). Seine philosophischen Arbeiten bauen auf seiner langjährigen Tätigkeit als Sinologe auf. Er befasst sich besonders mit der klassischen chinesischen Philosophie. Hierbei hat er auch ein Vokabular entwickelt, Begriffe zur Bezeichnung geisteswissenschaftlicher Kategorien, die er auch in diesem Buch über das Christentum anwendet.

Den Leserinnen und Lesern sei empfohlen, zuerst einen Blick auf das sogenannte Glossar zu werfen. Die hier kurz erläuterten Begriffe finden sich im Essay häufig wieder, wie z. B. Alterität, de-koinzidieren, Dispositiv, Inhärenz, Kohärenz, usw. (s. S. 124/125)

Am Anfang steht ein Gedenken an Sigmund Freud und Ludwig Feuerbach. Dessen Religionskritik lässt Jullien zwar unangetastet, stellt aber fest, dass diese das Christentum nicht im Ganzen trifft.

Im Christentum findet er eine Rede von der Subjektivität der Menschen, die nicht „als der Objektivität gegenüberstehend“ anzusehen ist (vgl. S. 17). Dies wird an dieser Stelle und im weiteren Fortgang des Textes am Johannesevangelium deutlich, in dem Jesus etwa das objektivierende Wort „Wunder“ durch den Begriff „Zeichen“ ersetzt.

Er knüpft hier explizit an Friedrich Nietzsche an, den er als konstruktiven Kritiker und nicht als Feind des Christentums versteht. Er meint, Nietzsche habe mit der „Umwertung aller Werte“ die Tendenz des Christentums angesprochen. Hier geht Jullien weiter, um fortan von „Ressourcen“ zu sprechen.

Die Funktionsweise des Christentums als Ressource, wird im Fortgang des Buches näher erläutert.

Die Frage der dogmatischen Wahrheit wird dabei bewusst ignoriert, da sie eher auf eine Glaubensentscheidung zielt, die Francois Jullien bewusst nicht intendiert. Er führt daher, vielleicht sogar ohne es selbst zu wollen, einen voraussetzungslosen Zugang zum Christentum ein.

Jullien beobachtet, dass das Christentum nicht nur zu einer Sprache oder einem Kulturkreis gehört, sondern dass sich die Wahrheit gerade in der Übersetzung verschiedener Sprachen abspielt (Nach dem Johannesevangelium deutet die Aufschrift am Kreuz auf die wichtigsten Sprachen: Hebräisch, Latein und Griechisch).

Interessant ist auch die hier entwickelt Rede vom „Ereignis“, was am Johannesprolog erörtert wird, den Jullien allerdings abweichend von der bisherigen Lesart übersetzt. Ein kurzer Textausschnitt dazu:

„Johannes beginnt also, der Frage nach dem Glauben vorausliegend, mit der Frage, was man denken muss, um das Ereignis in seiner Bedingung denken zu können. ‚Alles war durch ihn‘ löst das Werden im Sein auf und räumt von vornherein dem Ereignis keinen Platz im Denken ein. ‚Erschien ein Mensch‘ reduziert das Ereignis, wie es dieses, aus dem Blickwinkel eines Beobachters von außen gesehen, präsentiert.“ (S. 43)

Hier breche ich den Ausblick auf das Buch von Francois Jullien ab, mit einer Empfehlung, diese Sichtweise theologisch zu diskutieren.

Hier trifft sich aktuelle philosophische Begrifflichkeit mit einer individuellen, aber gut fundierten Schriftauslegung. Die Argumentation ist derer von Rudolf Bultmann nicht unähnlich.

Erzählte Philosophiegeschichte, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2020

Zu: 

Richard David Precht, SEI DU SELBST, eine Geschichte der Philosophie, Band 3, Von der Philosophie nach Hegel bis zur Philosophie der Jahrhundertwende, Wilhelm Goldmann Verlag, München 2019, gebunden, 608 Seiten, ISBN: 978-3-442-31402-7, 24,00 Euro (print)

Link: https://www.randomhouse.de/Buch/Sei-du-selbst/Richard-David-Precht/Goldmann/e475933.rhd

Vorbemerkung: Ich wurde durch ein Kurzabo von Audible auf die Reihe der Philosophiegeschichte aufmerksam, die Richard David Precht seit einigen Jahren herausgibt. Ich habe während meiner dienstlichen Autofahrten innerhalb von zwei Jahren einige Zeit lang den ersten Band gehört und fand die erzählte Philosophiegeschichte außerordentlich spannend. Precht gelingt es, die Lektüre der bekannten griechischen Klassiker der Philosophie nicht nur mit Geographie und Geschichte zu verbinden, sondern auch mit der sozialen Situation der damaligen Zeit. Als der dritte Band im letzten Jahr erschien, hatte ich gerade wieder etwas zu Friedrich Nietzsche gelesen, so dass diese Auswahl, die sich weitestgehend dem 19. Jahrhundert widmet, mir gerade recht kam. 

Und so nahm ich mir zuerst den Abschnitt zu Friedrich Nietzsche vor, hier unter der Überschrift „Der Sinn des Lebens“ (S. 331 – 371). 

Wie bekannt, führt Richard David Precht in die Philosophie ein, indem er die Lebensgeschichte desjenigen Philosophen verknüpft mit dessen Werkbiografie nacherzählt. Als Einstieg wählt er das Jahr 1870, in dem Nietzsche als Kriegsfreiwilliger im Sanitätsdienst für Preußen auf der deutschen Seite kämpft. Zum Dienst an der Waffe taugte er nicht, da er als inzwischen staatenloser Professor aus Basel der Neutralität verpflichtet war. 

Precht schildert die Heimkehr Nietzsches mit den Begriffen „geschwächt und traumatisiert“ (S. 332). Dieser hat ein Schlachtfeld mit 20.000 Toten gesehen und Verletzte versorgt. Ist dieses Erlebnis etwa der Einschnitt in Nietzsches Biografie, die eine Zäsur zwischen dem frühen und dem späten Philosophen nachzeichnen lässt?

Der Autor lässt den Einstieg so stehen und folgt mit der üblichen Kurzbiografie. Precht stellt Beziehungen her und zieht Verbindungslinien. An Wagner, den Friedrich Nietzsche zunächst fast hörig verehrte, arbeitete er sich ab. Erstaunlich ist trotzdem, wie eigenständig der junge Philologe, der zudem Griechisch an einem Gymnasium unterrichten musste, inhaltlich zur Philosophie wechselte, um dann in seiner Frühpensionierungszeit zum Schriftsteller zu werden.

Die Biografie Nietzsches gestaltet Richard David Precht zu einer kleinen Werkgeschichte. Dabei will Precht den Nachlass nicht ausblenden und auch den späten Nietzsche nicht dem jungen vorziehen. Zwar gesteht er zu, dass die Schwester Elisabeth Förster Nietzsche das „eigenwillig zusammengebastelte Nachlasswerk Der Wille zur Macht (1901)“ (S. 365) erst nach Nietzsches Tod herausgegeben hat, aber geht zugleich aber davon aus, dass auch diese Notizen dessen eigene Gedanken waren. Dass hier ein Weg zu Hitler führt, wird nicht verschwiegen, so bleibt der Philosoph schillernd und ist nicht nur positiv zu würdigen. Im gleichen Atemzug jedoch ist er mit Sigmund Freud zu nennen und zu konstatieren: „Der Mensch, hilflos zwischen dem Abgrund einer sinnlosen Welt und dem Abgrund einer dunklen, sich nach Sinn sehnenden Seele – nicht anders ist die Ausgangs Konstellation bei Freud.“ (S. 370) 

Der nächste Philosoph, den ich mir aussuche, ist zeitlich und inhaltlich ein Schritt zurück: Sören Kierkegaard: „Der Spion“ (S. 56 – 71). 

Auch hier gibt es ein erzählerischen Einstieg, die Kindheit des Philosophen. Sören lebte als Kind ausschließlich beim Vater, der ihn nicht nur zu Hause unterrichtete, sondern hier auch Spaziergänge durch die Stadt Kopenhagen simulierte und so eine Scheinwelt erschuf, um das Kind Sören vor der Realität zu bewahren. Kierkegaard studierte erst Theologie, um nach dem Examen zur Philosophie zu wechseln und innerhalb eines Jahres zu promovieren. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin, wo er noch Schelling und Hegel hört, kehrt er nach Kopenhagen zurück und zieht sich an den Schreibtisch zurück. So Precht: „Die Schriften folgen Schlag auf Schlag“ (S.60).

Und nachdem der Erzähler die Schriften auflistet und über Kierkegaard referiert, fasst er seinen Impetus in einem Satz zusammen: „Und nicht: ‚Erkenne dich selbst!‘ heißt die Devise, sondern ‚Sei du selbst!‘“. (S. 61) 

Stop – wo habe ich das schon einmal gelesen? – richtig: Es ist der Buchtitel. 

Kierkegaard wird als der Erfinder der modernen Subjektivität zum Stichwortgeber des 19. Jahrhunderts und zum ersten Vertreter der Existenzphilosophie, die im 20. Jahrhundert neu geboren wird.

Ich lese weiter („Die Erforschung der Seele“, ab S. 72) und erfahre etwas über Johann Friedrich Herbart, Fakten die ich eigentlich mal im Studium hätte wissen sollen, wo ich Herbart ausschließlich als Pädagogen ansah. Eingeflochten wird in die Darstellung der Philosophie Herbarts nun der Grundzug der neuen Psychologie, die später noch die Pädagogik und parallel die Soziologie hervorbrachte. 

Ich breche ab, denn ich wollte das Buch nur vorstellen und neugierig machen. Mir persönlich wird auf einmal klar, wieso Friedrich Nietzsche so viel von der Seelenlehre wusste und in die Welt der Philosophie einführen wollte, ja zuletzt als Psychologe entlarvt wurde. Und wieso Karl Marx nicht nur mit Begründer der Soziologie und der Ökonomie war, sondern vom Ansatz her Philosoph.

Die erzählte Philosophiegeschichte von Richard David Precht zeigt doch gerade darin, dass sie auch die in verschiedene Richtung auseinander strebende Philosophie zeigt und die Prägung durch philosophierende Schriftsteller wie Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche, dass in diesem Start der modernen Philosophie ein ganzer Wissenschaftsbetrieb der heutigen Zeit angelegt war. 

Er selbst lehrt nicht Philosophie, sondern erzählt sie. Damit wird klar, dass das Motto Sören Kierkegaards auch ein wichtiger Anstoß für die Gegenwart ist: 

Finde Deinen eigenen Weg und „Sei du selbst!“

Nietzsches Archiv, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu:

Nietzsches Nachlass, Schätze aus dem Goethe- und Schiller-Archiv, Band 2, Bearbeitet von Martina Fischer, Thomas Föhl und Bernhard Fischer, Weimarer Verlagsgesellschaft im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2014 (Neuauflage 2020 in Vorbereitung), Französische Broschur, farbig illustriert, 88 Seiten, ISBN: 978-3-7374-0215-6, Preis: 14,90 Euro (ab Februar 2020)

Link:

https://www.verlagshaus-roemerweg.de/Weimarer_Verlagsgesellschaft/Martina_Fischer-Thomas_Foehl-Bernhard_Fischer-Nietzsches_Nachlass-EAN:9783737402156.html

Das Buch begleitet(e) eine Kabinettausstellung der im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar verwahrten Teile des Friedrich-Nietzsche-Archivs. Das Archiv wurde noch zu Lebzeiten Friedrich Nietzsches in der Phase seiner schweren Gehirnerkrankung aufgebaut und nach einem Anfang im Haus der Mutter in Naumburg nach Weimar gebracht. Es blieb bis 1945 im dafür erworbenen „Haus Silberblick“ in dem seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, inzwischen verwitwet aus Paraguay zurückgekehrt, nicht nur den kranken Philosophen pflegte, sondern auch mit einigen Mitarbeitern die Schriften herausgab und den Nachlass erforschte. „Nietzsches Archiv, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019“ weiterlesen

Das Leben bejahen, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019,

Zu:

Christoph Quarch: Das große Ja, Ein philosophischer Wegweiser zum Sinn des Lebens, Legenda Q, Daun 2019, 3. Auflage, zuerst im Kailash-Verlag, München 2012, gebunden, 224 Seiten, ISBN: 978-3-948206-00-0, Preis: 19,90 Euro

Link: www.legenda-Q.de

Christoph Quarch, geboren 1964 in Düsseldorf, NRW, ist Philosoph, Autor und Hochschuldozent. Einer seiner Tätigkeiten ist auch die Durchführung von „Philosophiereisen“ z. B.   zu philosophischen Stätten der Antike. Man merkt diesem Buch an, dass er eine Lehre im Dialog mit Hörerinnen und Hörern vermittelt und deren Zeit- und Lebensfragen aufgreift. „Das Leben bejahen, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019,“ weiterlesen

Edvard Munchs Nietzsche, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu: Detlef Brennecke: Die Nietzsche-Bildnisse Edvard Munchs, Wahlverwandtschaft – Der Norden und Deutschland, Essays zu einer europäischen Begegnungsgeschichte, Herausgegeben von Bernd Henningsen, Band 5, Berlin-Verlag Arno Spitz GmbH, broschiert, 106 Seiten, ISBN: 3-8305-0073-4, Preis:

Detlef Brennecke (geb. 1944) ist emeritierter Professor in Frankfurt/Main. Seine Bücher und Übersetzungen handeln von den Skandinaviern Sven Hedin, Tanja Blixen, Roald Ammundsen und Fritjof Nansen und allgemein von Skandinavien und der Polarregion. So wird man sagen können, dass er zu Recht in dieser Reihe publiziert hat, die der Verbindung Skandinaviens zu Deutschland gewidmet ist.

Das hier zu besprechende Buch ist bereits im Jahr 2000 erschienen. Ich habe es auf der Suche nach Arbeiten zum Nietzsche-Bild Munchs im Internet gefunden und gesehen, dass eine Besprechung fehlt. Ich denke, dass die Rezension sowohl ein nachträglicher Beitrag zum Gastland der diesjährigen Buchmesse Norwegen sowie ein Beitrag zur Munch-Ausstellung in Düsseldorf sein kann.

„Edvard Munchs Nietzsche, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019“ weiterlesen