Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres,
9. November 2025, Evangelische Lydia-Gemeinde Herzogenrath, Lukas-Gemeindezentrum, Herzogenrath-Kohlscheid
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes, des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!
(Amen)
Wir hören den Predigttext aus dem Lukasevangelium im 6. Kapitel. Da spricht Jesus:
27Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. 30Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!
32Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. 33Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. 34Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. 35Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
Was für ein Text. Was für ein Anspruch! Und: Was für eine zutiefst in uns lebende Sehnsucht berührt Jesus da.
Viele von uns haben in den letzten Wochen mitgefiebert, mitgebangt, gebetet und gehofft beim Blick auf den fragilen Prozess zurück in ein friedliches Miteinander in Gaza. Beim Hören und Lesen der Nachrichten scheint es fast täglich, dass das eine Aufgabe ist, die die menschlichen Möglichkeiten übersteigt. Fast möchte man darüber verzweifeln. Aber Glauben geht anders. Da ist die Tür immer mindestens einen Spaltbreit offen für die Hoffnung.
Diese Hoffnung entgegen allen äußeren Anzeichen halten schon die alttestamentlichen Propheten immer wieder hoch, wie Micha in dem starken Stück, das wir gerade gehört haben [der alttestamentlichen Lesung aus Micha 4,1-5]. Gott wird hier als der Handelnde, als der Friedens-Initiator beschrieben. In dieser Tradition stehen wir! Das ist eine der Kraftquellen, zu der uns unser jüdisch-christlicher Glaube immer wieder einlädt. Damit wir das augenscheinlich so hoffnungslose tägliche Leben ertragen und hoffnungsfroh gestalten können.
An dieser Quelle hat auch Jesus immer wieder aufgetankt. Auf diesem Fundament stand er. Bei Gott hat er immer wieder Kraft gefunden. Vor diesem Hintergrund, auf diesem festen Boden stehend, so erfahrungsgesättigt stellt nun Jesus seinen Anspruch auf Feindesliebe. Und der klingt doch echt verrückt, eine unsinnige Zumutung, utopisch. Hören wir also noch einmal genauer hin, was Jesus uns hier als Zuspruch und Anspruch sagt.
- „Liebet eure Feinde“: verrückt? Auf jeden Fall! Wir Christinnen und Christen sind im wahrsten Sinne ver-rückt. Nicht von dieser Welt. Wir stehen als Gemeinde Gottes in einem anderen Referenzrahmen. So spricht Gott schon zur Zeit des AT mehrfach zu Mose: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3Mo 11,44.45; 19,2). Und „heilig“ bedeutet hier weniger das, was wir heute vielleicht eher hören, etwa ethisch oder moralisch hochstehend und besonders brav. Nein, es heißt, abgesondert für Gott, zum exklusiven Tempelbereich gehörend. Es heißt Thomas Merton folgend, dass wir bei aller äußeren Aktion dadurch definiert sind, dass unsere Wurzeln tiefer reichen als die sichtbare Welt um uns herum. Dass wir in unserem Inneren bei Gott zur Ruhe kommen können und dass daraus unsere Kraft kommt für beherztes Handeln. Unsere Perspektive ist tiefer. Und weiter. Sie reicht über diese Welt hinaus. Das ist eine echte Verschiebung unserer Ausrichtung, da werden wir tatsächlich ver-rückt. Das gibt uns im besten Fall Um-Orientierung im Leben und lässt uns unsere Prioritäten neu ordnen.
Diese Ausrichtung auf Gott ist dem Evangelisten Lukas besonders wichtig. Er ist der Evangelist, der das mehr als seine „Kollegen“ Matthäus, Markus und Johannes in seiner Jesus-Biographie in den Mittelpunkt stellt: Es geht um Gott! Es geht um Jesu ganz besondere Beziehung zu ihm (Er spricht Gott von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater an) — und dann auch um unsere.
Was heißt das denn nun konkret für uns? Was erwarten wir denn tatsächlich (noch) von Gott? In unserem eigenen Leben, in der Gemeinde, gar für das, was derzeit bei uns gesellschaftlich passiert? Was ist möglich, wenn wir die Bibel lesen als ein Wort „wie Feuer,… und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“ (Jer 23,29)? Wer, wenn nicht wir, kann denn so manchem gesellschaftlichen Diskurs eine weitere Perspektive vielleicht nicht entgegen-halten, aber sie wenigstens offen-halten? Was könnten wir mit Gottes Hilfe sowohl als Individuen als auch als Kirche bewegen, wenn wir uns etwas mehr von Gott ver-rückt machen ließen?!
Da geht doch noch was! Wir glauben an einen mächtigen Gott! Da ist doch noch so viel mehr „drin“ als ein lascher Gott, in dessen Wort wir uns nur noch bei dem bedienen, was sich wohltuend und gefühlsstreichelnd für im besten Fall lieb gewordene, aber nicht wirklich aufrüttelnde Zeremonien am Sonntagmorgen oder Heiligabend eignet. Ein GOTT, dessen manchmal unbequeme Ansprüche wir lieber unter den Tisch fallen lassen, weil er in unseren aufgeklärten und verteidigungspragmatischen Zeiten doch sowieso als überholt angesehen wird.
Wie soll so ein zur Bedeutungslosigkeit eingehegtes Überbleibsel christlicher Tradition denn noch jemandem, der ganz verschluckt wird von der Dauerbelustigung am Handy oder der allgegenwärtigen Drohnenangst, in den Gottesdienst locken? — Und was erwarte ich persönlich denn tatsächlich (noch) von Gott? Vielleicht können wir ja versuchen, etwas weniger angepasst und etwas mehr ver-rückt zu sein?!
- Denn ja, es ist verrückt: Liebet eure Feinde! Außerdem ist es auch noch unsinnig, eine Zumutung. Es ist keine sinnlose (!) Challenge, die Jesus hier seinen Zuhörer_innen aufgibt. Wohl ist es eine Zu-Mut-ung im besten Sinn.
Jemandem, der mich schlägt, auch noch die andere Wange hinhalten? Jemandem, der mir meinen Mantel nimmt, auch noch den Pulli geben? Genau darin besteht die Zumutung. Dass Jesus uns herausfordert: Überdenkt die Norm. Dreht das Normale um. Dreht den Spieß um?! Im menschlichen System von Geben und Nehmen gilt „Wie du mir, so ich dir“. Du produzierst Waffen, also kurble ich meine Wirtschaft an und mache noch mehr. Dann bekommst du sicher ganz viel Angst und streckst mir die Hand zum Frieden entgegen. Oder?!
Diejenigen von uns, die Geschwister haben oder mit anderen Kindern irgendwann in unserem Leben mal Streitigkeiten hatten, wissen: Wenn dich der oder die andere haut, dann hau am besten zurück so fest du kannst. Dann hört das Gegenüber direkt auf. Oder?!
Seltsam eigentlich, dass sich etwas, das sich doch weder im Kleinen noch im Großen jemals wirklich bewährt hat, plötzlich wieder als sinnvoll, als zielführend gilt. Dass es sich in den letzten Monaten gar nicht heimlich, gar nicht still und leise seinen Weg zurück in unseren gesellschaftlichen Konsens gebahnt hat. Während Jesu Aufforderung als „unrealistisch“, als „naiv“ weggewischt wird.
Was passiert, wenn wir unser Verhalten verschieben von „Wie du mir, so ich dir“ nach „Wie Gott mir, so ich dir“? Vielleicht würden wir ja erleben, dass wir, wenn wir aus dem scheinbar unausweichlichen Spiel der sich hochschaukelnden Drohungen und Gegendrohungen aussteigen, gar nicht schwächer werden, sondern im Gegenteil freier und stärker?!
Gut, sagt ihr jetzt. Die Theorie klingt prima. Und ja, wir wollen alle versuchen, etwas netter zu sein, wenn wir heute beim Nachhausekommen der unmöglichen Nachbarin über den Weg laufen. Aber im großen Rahmen muss man doch auch vernünftig sein. Denn wie soll das funktionieren:
- „Liebet eure Feinde!“ Letztlich bleibt das doch utopisch. —Oder vielleicht nicht?! Liebet eure Feinde, ist das wirklich so weltfremd? Jesus selbst kann man diesen Vorwurf jedenfalls nicht machen. Ihm geht es hier um viel mehr als eine schöne fromme Idee. Es geht ihm um die direkte praktische Umsetzung. Unser Bibeltext ist eingebettet in die sog. Feldrede (quasi Lukas’ Version der Bergpredigt aus dem Matthäus-Evangelium). Und direkt im Anschluss an diese Rede schildert Lukas, wie Jesus in Kapernaum den Knecht eines Hauptmanns der römischen Besatzungsmacht heilt. Moment mal: Die Römer, das waren doch die Feinde Israels? Und was macht Jesus? Er heilt einen von ihnen. Und zeigt uns so, ganz ohne Worte: Es lohnt sich, immer wieder mal zu hinterfragen: Wer ist denn überhaupt mein Feind? Und wer ist mein Mitmensch, der mein Verständnis, meine Hilfe, meine Zuwendung braucht? Populistische Parteien schüren ja oft Ängste, indem sie Feindbilder an die Wand malen, Stereotype über „uns“ und „die anderen“ heraufbeschwören. Sobald wir jedoch jemanden von „denen da“ persönlich kennen lernen, wird oft unsere Wahrnehmung viel differenzierter. Selbst will ich schließlich auch nicht auf meine Nationalität oder Hautfarbe reduziert werden — ich bin doch viel mehr als das.
Okay, sagen wir vielleicht, aber Jesus war ja auch Gottes Sohn. Und das ist ja alles sehr lange her. Wie soll das denn funktionieren, so ein radikales Aussteigen aus der Logik von „Wie du mir, so ich dir“? Heute, in unserer Gesellschaft? Nun ja, ein Blick in die Geschichte zeigt: Er ist nicht der Einzige geblieben!
- In Pennsylvania hat der Quäker Benjamin Lay als einzelner Privatmann (!) jegliche durch Sklavenarbeit entstandene Waren boykottiert und Gastgeber, die Sklav_innen hatten, gemieden. Ein Vierteljahrhundert individuellen Boykotts und Agitation haben dann 1758 dazu geführt, dass die Quäker in Philadelphia die Sklavenhaltung geächtet haben. Die Quäker und auch andere christliche Gruppen haben durch ihr anhaltendes gewaltfreies Handeln entscheidend dazu beigetragen, dass Sklavenhandel und Sklaverei in immer mehr Ländern gesetzlich verboten wurden.
- Im Jahr 1955/56 fand in Montgomery, der Hauptstadt von Alabama, der berühmt gewordene Busboykott statt, ausgelöst von Rosa Parks und mit organisiert von Martin Luther King jr.: Ganz ohne Gewalt war das ein entscheidender Protest gegen die Politik der Rassentrennung in den USA.
- In Deutschland wurde nach dem 2. Weltkrieg das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht im Grundgesetz verankert.
- Seit 1983 gibt es das Kirchenasyl, mit dem Schutzsuchende vor einer Abschiebung bewahrt werden können.
- Die Montagsdemonstrationen in der DDR haben 1989/90 zur Friedlichen Revolution, zur Wende, geführt. Genau heute vor 36 Jahren fiel die innerdeutsche Mauer, lasst uns daran denken: Was für ein — ganz reales — Wunder!
Bei all diesen friedlichen, gewaltfreien Aktionen haben Christinnen und Christen eine entscheidende Rolle gespielt. Sie waren ver-rückt genug, um über bestehende Rahmen hinaus zu denken und zu handeln. Sie haben sich von Gott herausfordern lassen, haben sich etwas zumuten lassen und anderen etwas zugemutet. Haben genug von Gott erwartet, der unseren Verstand übersteigt, um etwas zu wagen.
So wünsche ich mir auch für uns Glauben und Leben als Kirche Jesu in dieser Welt. Glauben, der tiefer verwurzelt ist als auf der Oberfläche unseres Alltags. Eine Kirche von Menschen, die mehr erwarten als das, was wir logisch fassen können. Und die darum auch mutig handeln.
Die sich nicht gemütlich einrichten, sondern als lebendige Fische gegen den Strom schwimmen. Die hoffen, wo nach menschlichem Ermessen kein Grund zur Hoffnung mehr ist. Darum: „Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
