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Joachim Leberecht: Mein Lesesommer, Books On Demand, Hamburg, 2025, gebunden, 56 Seiten, ISBN: 9783819208096, Preis: 17,99 € Hardcover, 6,99 € E-book
In Mein Lesesommer versucht der Autor, seine umfangreiche Sommerlektüre des Jahres 2024 mit seinem Leben und seiner Sicht auf aktuelle gesellschaftliche Prozesse in Verbindung zu bringen. Es geht hier nicht um möglichst sachliche und umfassende Rezensionen der vorgestellten Bücher, sondern primär um die Frage, welche Resonanz das Gelesene hervorruft. Joachim Leberecht versteht Mein Lesesommer als ein Beispiel für existenzielles Lesen.
Viele der zwölf besprochenen Bücher sind Neuerscheinungen der Jahre 2023 und 2024. Das Buch ist auch beim Autor erhältlich.
Leberechts Lektüre aus der theologischen Perspektive spart nicht an Wertungen in weltanschaulicher Hinsicht, aber nicht ohne die literarische Qualität zu bemerken: „Es entstehen echte Menschen vor meinen Augen.“ (S. 7)
Er sieht einmal einen „agnostischen Standpunkt“ kombiniert mit „Bildern der christlichen Symbolik“ (S. 12). Woanders bemerkt er den „Verlust des Glaubens an einen guten Gott, der alles gut geordnet hat, …“ (S. 14). Dass er damit auch Freiheit beobachtet, zeigt dieser Satz: „Der Mensch kann sich nun dem Strom des Lebens hingeben…“ (S. 14)
Auch die Grunderfahrungen der Literatur findet sich in dem ihm eigenen theologischen Kontext wieder: „Was ist eine „negative Erzählung“? „Es ist ein bisschen wie negative Christologie, dass das Unsagbare nicht mit Worten ausgesagt werden kann.“ (S. 16)
Was aber kann die Theologie der Literatur geben? Wie wäre es mit einer Stellung zum Krieg?
„Wie sollten die friedlichen Ressourcen in allen Religionen freilegen, die gewalttätigen radikal kritisieren, religiöse Gewaltlegitimationen ächten und theologische Deutungsmuster hinterfragen, die Krieg legitimieren.“ (S. 32)
Im Einverständnis mit dem Autor füge ich einen Auszug aus dem Buch an:
Mein Lesesommer
Buch von Joachim Leberecht
In Mein Lesesommer hält der Autor in Form eines Tagebuchs Eindrücke seiner Sommerlektüre 2024 fest. Er verbindet das Gelesene mit freien Assoziationen, reflektiert seine geistliche Existenz und lotet Bezüge zur Gegenwart aus. Die vorgestellte Lektüre bezieht sich auf Gegenwartsliteratur aus den Jahren 2023 und 2024. Mit Mein Lesesommer regt Joachim Leberecht, Gemeindepfarrer im Dreiländereck bei Aachen, existenzielles Lesen an. Wir veröffentlichen einen Auszug.
Mein Lesesommer
Tagebuch eines Seelsorgers
Vorwort
Im Laufe meiner Leseexistenz habe ich schon viele Romane rezensiert. Das Schreiben von Rezensionen macht mir Freude und hilft mir, ein Werk zu durchdringen. Das Projekt Mein Lesesommer ist eine Fortsetzung dieser Leidenschaft, jedoch unter einem besonderen Vorzeichen. In Mein Lesesommerversuche ich, meine Sommerlektüre des Jahres 2024 mit meinem Leben und meiner Sicht auf aktuelle gesellschaftliche Prozesse in Verbindung zu bringen. Es geht hier nicht um möglichst sachliche und umfassende Rezensionen der vorgestellten Bücher, sondern primär um die Frage, welche Resonanz das Gelesene in mir hervorruft. Ich verstehe Mein Lesesommer als ein Beispiel für existenzielles Lesen. Der Untertitel Tagebuch eines Seelsorgers weist auf diese Fokussierung hin.
Der gewählte Zeitraum, der Sommer, war zufällig, hat sich aber, da ich gerade an langen Sommer- und Urlaubstagen viel zum Lesen komme, als günstig erwiesen. Die Auswahl der Literatur entspricht meiner Neigung für Romane und andere Texte, die das Leben in seinen Höhen und Tiefen ausloten. Zwei Werke hatte ich zur Vorbereitung eines regionalen Literarischen Quartetts über jüdische Literatur in der Gegenwart zu lesen, ein umfangreicher Band stand sowieso auf meiner Sommerleseliste. Da ich mich gern auf Buchempfehlungen, meist aus dem Radio, einlasse, sind viele der hier vorgestellten Bücher Neuerscheinungen.
Wissant, den 13. Juli 2024
Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock
Heute habe ich mit Dana Vowinckels Roman Gewässer im Ziplock begonnen. Sie erzählt verdichtet eine jüdische Familiengeschichte und trifft dabei einen Ton, der viele schöne Seiten verheißt. Die Sprache und das Thema locken mich.
Schon ihr erster Satz eröffnet die Welt des Romans: „Einmal war er noch für Kiddusch geblieben, ein großes Abendessen nach dem Gebet am Freitagabend“ (7). Wie natürlich Dana Vowinckel von der religiösen jüdischen Praxis im gegenwärtigen Berlin erzählt, beeindruckt mich: „Sein Verhältnis zu Gott war nie so friedlich wie dann, wenn er an ihn dachte als Freund, als Begleiter seiner Stimme, ruhig und sanft“ (9).
Wissant, den 16. Juli 2024
Gewässer
Ich mag die Art, wie Dana Vowinckel das Leben von Avi, einem jüdischen Kantor, beschreibt. Er ist ein ernster, leicht depressiver Vater, der als Chasan (Kantor) und Person ganz im jüdischen Festjahr aufgeht, täglich Psalmen singend betet, in den Synagogen Berlins die Liturgie als Vorbeter singt und das gemeinsame Gebet anleitet. Seine Singstimme ist für ihn die tiefste Verbindung mit Gott. Neben seiner religiösen Innerlichkeit nimmt die Sorge des alleinerziehenden Vaters um seine fünfzehnjährige Tochter Margarita den größten Teil seines Seelenlebens in Beschlag. Avi spürt schmerzhaft, wie die enge Vertrautheit mit seiner Tochter bröckelt.
Dana Vowinckel erzählt die Geschichte des Vaters und Margaritas parallel. Margaritas Geschichte ist ein Roadmovie und eine Coming-Out-Geschichte von Berlin über Chicago nach Jerusalem.
Zurzeit ist sie zu Besuch bei ihrer Mutter Marsha in Jerusalem, die dort einen Forschungsauftrag angenommen hat. Beide sind sich fremd und Fremde in Israel. Margarita folgt ihrer Intuition und ihrem sexuellen Erwachen. Sie teilt dieses geheime Leben nicht mit dem fernen, sich sorgenden Vater und der kühlen, distanzierten Mutter. Dana Vowinckel gelingt es, mich in das Seelengefüge von Avi, Marsha und Margarita durch ihr sinnliches Erzählen hineinzunehmen. Es entstehen echte Menschen vor meinen Augen. Das ist Erzählkunst, wie ich sie liebe.
Wissant, den 19. Juli 2024
Gewässer
Avi nimmt sich Urlaub und fährt auf die Insel Spiekeroog, wo er mit der hochschwangeren Marsha die Flitterwochen verbracht hat. Immer wieder erinnert er sich an einzelne Szenen und den zärtlichen Sex mit Marsha. Überraschend will ihn nun Hannah besuchen. Vor ein paar Wochen hatten sie sich nach der Trauerfeier ihres Vaters kennen gelernt. Zwischen Hannah und Avi gibt es zarte Schwingungen. Hannah will mehr über ihren Vater wissen, der bei Avi Hebräisch gelernt hat, um einmal im Synagogengottesdienst aus der Tora vorzulesen. Das passt gar nicht in das Bild, das Hannah von ihrem Vater hat. Ihr Vater war nach den KZ-Erfahrungen bekennender Atheist. Die jüdischen Rituale spielten in ihrer Familie keine Rolle. Auf der einen Seite ist Hannah von der Selbstverständlichkeit, wie Avidie jüdischen Rituale ungebrochen im Alltag lebt, fasziniert, auf der anderen Seite fordert sie Avi heraus, indem sie den Sinn in Frage stellt, heute jüdisch zu leben. Höhepunkt des Gesprächs ist für mich Avis Antwort auf ihre Frage: „‘Glaubst du, Gott hat uns zu etwas Besserem geschaffen als die Möwen?‘ Aus Hannahs Mund klang Gott wie eine Beschimpfung.“ Avi spürt in sich hinein und nimmt wahr: „Der Gesang verpflichtete ihn, zu glauben. Denn die Worte, die er singen durfte, die sein Beruf waren, es waren Worte, die ihm den Sinn der Welt aufschlossen und manchmal sogar den Unsinn, das Glück und den Schmerz“ (159).
Wissant, den 20. Juli 2024
Gewässer
Avi lebt durch die Worte der Tora. Seine Stimme macht das Wort lebendig, sein rhythmisch schwankender Körper verleiblicht die Tora. „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. … Gott sprach: Licht werde. Licht ward“ (Genesis 1,1f nach der Übersetzung Buber/Rosenzweig). Durch sein Wort ordnet Gott das Chaos, nennt das Licht Tag und die Finsternis Nacht, schafft das Leben durch sein Schöpferwort. Avis Glaube entspringt aus dem Wort. Wie Dana Vowinckel Avis Erfahrungstheologie als Wort-Gottes-Erfahrung skizziert, sind meiner Erfahrung als Liturg und Prediger überraschend ähnlich. Ich sehe es als großes Glück an, dass ich mich als Gemeindepfarrer mit biblischen Texten auseinandersetzen muss. Gottes Wort mutet sich mir zu, stellt mich in Frage, ermutigt mich, birgt mich und hält meine Beziehung zu Gott lebendig. Ich glaube, dass der radikale Bezug auf das Wort – durch das Gott zu uns spricht und zugleich wir Gott für die Welt offenhalten – das große Geschenk der jüdischen Religion an das Christentum und den Islam ist. Mir ist Avis Glaube vertraut, selbst dort, wo mir die jüdischen Riten fremd sind. Die täglichen jüdischen Gebete erinnern an ein katholisches Stundenbuch und erscheinen mir reicher als meine evangelische Frömmigkeitspraxis. Diese ist doch bei aller Sehnsucht nach Spiritualität recht rudimentär.
Während Avi sich von den Worten und seiner Stimme tragen lässt, analysiert Marsha die Worte. Sie ist Linguistin, zerteilt die Worte und fügt sie mithilfe eines Syntaxbaums wieder zusammen. Anders als beim Umgang mit der Schrift (Tora/Bibel) geht es ihr nicht um existentielle Erfahrung, sondern um die Frage, wie Kommunikation funktioniert. Vielleicht liegt im unterschiedlichen Zugang zum Wort auch ein Grund der Kommunikationsstörungen zwischen Avi und Marsha. Das Paar hatte sich in Jerusalem ineinander verliebt, er Israeli, sie amerikanische Jüdin. Beide wollten wegen der allgemeinen Wehrpflicht nicht, dass ihre Tochter Margarita in Israel aufwächst. Avi nimmt eine Kantorenstelle in Hannover an. Marsha ist das Land der Täter zuwider, Avi überhört ihr Flehen und Bitten, nach Amerika auszureisen. Fluchtartig trennt sie sich von Avi, lässt ihn mit dem Baby Margarita allein.
Wie Dana Vohwinckel heutiges jüdisches Leben aus der Sicht von Avi und Margaritaerzählt, und sie die mächtigen Verwerfungen der Shoa nachzeichnet, hat mich sehr beeindruckt, auch wie Margarita in der dysfunktionalen Familie erste mutige Schritte ins Erwachsenenleben geht.
Das symbiotische Verhältnis zu ihrem Vater und seiner jüdischen Praxis sind ihr zu eng, die liberale Haltung ihrer Mutter und deren Unabhängigkeit ziehen sie an. Margarita denkt, sie müsse sich für ein Lebenskonzept entscheiden, es gäbe nur Entweder–oder – bis sie merkt, dass es darum gar nicht geht. Ich darf meinen eigenen Weg gehen und finden, dazu gehört auch, die Schönheit jüdischen Lebens und Glaubens zu sehen. Wie wird der Weg Margaritas weitergehen? Wie wird sich ihre jüdische Identität entwickeln? Das sind Fragen, die mich interessieren. Vielleicht auch die Autorin Dana Vowinckel. Gewässer im Ziplock könnte weitererzählt werden. Ich wäre gespannt. Jedenfalls hat sich Dana Vowinckel mit ihrem Roman in mein Herz und in meinen Wahrnehmungshorizont geschrieben.
Maastricht, den 25. Juli 2024
Annie Ernaux: Das andere Mädchen
Ich habe heute Nachmittag in einem Rutsch Das andere Mädchen von Anni Ernauxgelesen. Das Werk ist ein fiktiver Brief an die verstorbene Schwester der Autorin und an ihre verstorbenen Eltern, die die Existenz und frühen Tod der Schwester Gennie Zeit ihres Lebens verschwiegen haben.
Dieses Verschweigen hat großen Einfluss auf das Erleben ihrer eigenen Kindheit, ihren Weg zur Schriftstellerin und das Erkunden ihres Selbst, wozu wesentlich die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter gehört. Noch heute wird die Autorin von Scham und Schuldgefühlen überschwemmt, wenn sie sich an die Abwesenheit ihrer Schwester erinnert. Das andere Mädchen – ihren Namen wagt sie bis heute nicht auszusprechen – ist eine Annäherung an die verstorbene Schwester.
Doch keine Erinnerung aus Erzählungen anderer oder die wenigen vorhandenen Fotos bringen ihr die Schwester nah. Der Autorin bleibt nur der Schmerz über die Leere und das Verschweigen. Der fiktive Brief von Ernaux ist auch eine Distanzierung von der erlebten katholischen Religion in den 50er Jahren und dem naiven Wunderglauben ihrer Mutter. Sie wundert sich, dass sie überlebt hat und ihre Schwester früh gestorben ist. „Ich wurde geboren, weil du gestorben bist, ich habe dich ersetzt“ (57).
Auch wenn der Brief keinen eigentlichen Adressaten hat, kann sie sich gleichzeitig nicht der Vorstellung erwehren, dass ihre Schwester und ihre verstorbenen Eltern die Zeilen mitlesen. Auch wenn Annie Ernaux einen agnostischen Standpunkt einnimmt, bleibt sie in ihren Bildern der christlichen Symbolik nah. Eine interessante Ambivalenz, die sich durch ihren Brief (und ihr Leben?) zieht. Es sind die Themen von Schuld, Scham, Leiden, Tod und nicht zuletzt Liebe, die diesen fiktiven Brief auszeichnen und auch künftig lesenswert machen. Ich habe Lust, mehr von Annie Ernaux zu lesen.
Maastricht, den 29. Juli 2024
Rosa Liksom: Über den Strom
Auf einer längeren Autofahrt liest mir meine Frau die letzten Seiten aus dem Roman Über den Strom von Rosa Likstrom vor. Seit Beginn unserer Liebe lesen wir uns gegenseitig vor. Durch eine Rezension wurde ich auf den Roman der mir unbekannten finnischen Schriftstellerin aufmerksam. Wir lesen also seit gut sechs Wochen Über den Strom und begleiten die zwölfjährige Ich-Erzählerin (ohne Namen) auf ihrem Fluchtweg von Finnland über den Strom nach Schweden und wieder nach Hause. Der Roman spielt im Jahr 1944 in Lappland. Finnland hat die Verbrüderung mit Deutschland aufgekündigt und vertreibt die Deutschen aus dem eigenen Land. Die Deutschen hinterlassen verbrannte Erde. Die Zivilbevölkerung gerät in die Mühlen des Kriegs. Wie schrecklich aktuell, denken wir ständig beim Lesen mit Blick auf die Ukraine oder Gaza. Die Familien sind zerrissen, auch die der Ich-Erzählerin. Der Vater ist an der Front, die hochschwangere depressive Mutter konnte auf einem Lastwagen fliehen.
Die Ich-Erzählerin hat vom Vater die Bürde auferlegt bekommen, die Kühe und Färsen über den Strom nach Schweden in Sicherheit zu bringen, zu Fuß mit zwei Mägden von Nachbarhöfen und dem kleinen Nachbarjungen Matti. Die vier wachsen durch das gemeinsame Schicksal zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammen, helfen einander, kommen sich nah und verlieren sich wieder.
Wir tauchen in eine uns fremde Welt ein. Die Ich-Erzählerin ist ein Kind auf der Schwelle zur Teenagerin, und wir erleben das Jahr – von Spätherbst 1944 bis Spätherbst 1945 – mit ihr: die ganze Welt der Schönheit, der Leiden, der Kälte; den Verlust des Glaubens an einen guten Gott, der alles gut geordnet hat, wie sie es in der Sonntagsschule gelernt hat; die Hilfe Fremder in größter Not; das Leben in Flüchtlingslagern und das schmerzhafte frühe Erwachsenwerden der Ich-Erzählerin. Ich habe selten einen Roman gelesen, der ganz in die Welt einer Adoleszenten eintaucht und stimmig aus ihrer Wahrnehmung derart sinnlich erzählt, dass der Leser keine Mühe hat in die ferne Welt Schritt für Schritt, Etappe für Etappe, mitzugehen.
Das Schönste im Erleben der Ich-Erzählerin waren für mich ihre innige Verbindung zu den Kühen, ihre liebevolle Nähe zur Magd Katri, ihr vertrautes Umgehen mit der rauen Natur. Schmerzvoll im empathischen Miterleben waren die Distanziertheit ihrer Mutter, der Verlust von Siskos Kalb bei der Fahrt über den Strom, und dass sie zuletzt mit dem Vater auch ihr Zuhause verlor. Altes vergeht und Neues wird.
Rosa Liksom gelingt es, den Kreislauf des Lebens von Werden und Vergehen mit einem schlichten, tröstenden Erzählen zu verbinden. Der Mensch kann sich nur dem Strom des Lebens hingeben und zu gegebener Zeit entscheiden, welchen Weg er unter dem gewölbten Himmel hier auf Erden wählt. Über den Strom ist für mich ein spiritueller Roman, nicht im Sinn von esoterischer Lehre oder Praxis, sondern in der Schilderung dessen, wie hier die Ich-Erzählerin mit den schöpferischen Kräften der Natur und sich selbst in Kontakt kommt und trotz der zerstörerischen Kräfte, des Leid und der Trauer die Hoffnung in ihr lebendig bleibt.
Maastricht, den 29. Juli 2024
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt
Gerade habe ich Judith Hermanns drei Frankfurter Poetikvorlesungen aus dem Jahr 2022 zu Ende gelesen, veröffentlicht unter dem Titel: „Wir hätten uns alles gesagt. Vom Schreiben und Verschwinden im Schreiben.“
Ich habe das Buch nach einer Lesung der Autorin gekauft. Sie ist eine zierliche Person, trägt dunkle unauffällige Kleidung und helle Sportschuhe. Ihr Gesicht scheint alterslos, die Haare sind bieder nach oben gesteckt, die Stimme weich, ihre Antworten präzise, ihre Sprache schlicht und schön. Hier liest eine erfahrungsgesättigte Frau aus ihrem neuesten Buch und verbreitet eine weise Aura – ohne im Geringsten abgehoben zu sein.
Ich frage sie, ob es ihr beim Schreiben ähnlich erginge wie manchem Propheten, der aus Berufung unter Zwang reden müsse, auch wenn er gar nicht wolle. Sie antwortet, dass es ihr zunehmend schwerer fiel, ihr Erleben nicht daraufhin abzuklopfen, ob ein erster Satz für eine neue Geschichte darin zu finden sei. Und ja, der Schreiberfolg setze sie unter Druck. Manchmal denke sie, keine Geschichte mehr schreiben zu können. Das könne Monate andauern und dann sitze sie doch wieder am Schreibtisch. „Wir hätten uns alles gesagt“ ist eine Leer-Stelle oder um Judith Hermann sinngemäß zu zitieren: „hält etwas in der Schwebe.“
Es ist das Ungefähre, das eine Geschichte auslöst, gerade nicht der Wortsinn. In immer neuen Variationen kreist sie um die Gedanken, dass eine Erzählung eher verbirgt als offenlegt. Überhaupt bestimmt ihre Geschichten das Abwesende. Der erste Satz, den sie braucht, der sie findet, versteckt sich am Rande der Geschichte oder wird von ihr ganz gestrichen. Es geht ihr immer um das Unsagbare, für das es keine Sprache gibt. Gäbe es Worte, wäre die Erzählung gescheitert. Diese Herangehensweise ist für mich erst einmal überraschend. Judith Hermann schreibt: „Die Erzählung lenkt den Leser vom Eigentlichen ab, sie lenkt von mir ab. Ein Zaubertrick – der Leser sieht dem Hokuspokus des Zauberers zu und verpasst den Trick“ (16f). Der Ausgangspunkt ihres Schreibens ist Negation, auch wenn das Schreiben aus ihrem Leben entspringt und sich daran entlanghangelt – sie erzählt in „Wir hätten uns alles gesagt“ Ungeheuerliches aus ihrer Familien- und Freundesgeschichte.
Sie entwickelt unbewusst erzählerisch eine Theorie der Negativen Erzählung. Es ist ein bisschen wie Negative Theologie, dass das Unsagbare nicht mit Worten ausgesagt werden kann. Die Spannung zwischen Erfahrung und Sprache lässt sich nicht aufheben. Wer sie aufheben will, erleidet Schiffbruch. Judith Hermanns Begleiter Jon bezeichnet ihr Versessen-Sein und Verbergen schlicht als „Geheimniskrämerei“ (143). Ein Verbergen, das aus dem Grundgefühl ihrer frühen Kindheit heraus entsteht: Nichts ist sicher. Ich muss mich und meine Geheimnisse verstecken.(186) Wenn nichts wirklich sicher ist und ihr ganzes Schreiben gegen dieses Nichts anschreibt, hat dieses Nichts eine große Antriebskraft.
Dennoch: Judith Hermann geht selbst sehr analytisch an ihr Schreiben heran. Ihre lange Psychoanalyse hat ihr geholfen, ihr Selbst zu erkunden und sich selbst zu verorten. Ihr Erzählen, ihre Poesie, ihr Träumen ringt dem Nichts einen Halt ab. Das Verbergen ist ihr Schutz. Es zu unterlassen wäre gefährlich.
Das ist Literatur, wie ich sie liebe. Sie kommt meinem Erleben von Religion und Glauben sehr nah: Das Unsagbare umkreisen, Halt finden vor dem Abgrund und immer wieder neu anfangen. „Also. Noch einmal von vorne“ (186). Während der Lektüre habe ich immer wieder an meine Kindheit gedacht, eine Kindheit voller Gefahren und Schutzmächte, ein neurotischer Nährboden für meine Psyche und einer Sehnsucht nach einem anderen Leben. Sicherlich sind der biblische Mythos und die Erzählungen, dass Gott rettend eingreift, auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Saat nährt mich bis heute. Sie sind für mich wahr geworden. Psychologisch kann ich es annähernd nachvollziehen. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille, die andere entzieht sich mir, ist aber nicht weniger wahr.
Maastricht, den 7. August 2024
Karl Ove Knausgard: Das dritte Königreich
In seinem dritten Band knüpft Karl Ove Knausgard an den ersten Band Der Morgenstern an. Auch verbindet Knausgard geschickt die Personen des zweiten Bands Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit mit dem jetzigen. Jedes Kapitel der drei Bände wird aus der Perspektive einer Person erzählt. Wie bei einem Teppich ist erst nach und nach ein Webmuster zu erkennen. Ein Faden wird aufgenommen, dann wieder fallen gelassen. Es gibt Zeitsprünge, eine Ober- und Unterseite. Längere Essays über philosophische Fragen tragen zur Textur bei. Dabei liest sich das Ganze flüssig, nur zuweilen etwas redundant.
Das Kapitel, in dem Tove in eine Psychose abrutscht, geht mir nah und zeigt Knausgards außergewöhnliches literarisches Können und Einfühlungsvermögen. Gautes Achterbahn der Gefühle gegenüber seiner Ehefrau Katherine hingegen hat Längen. Seine Trennungswünsche und Ängste sind mehr als verständlich. Als Mann habe ich Mitgefühl mit ihm. Helge wiederum ist mir unsympathisch – oder bin ich nur wegen seines beruflichen Erfolgs (Stararchitekt) neidisch? Glaubhaft schildert Knausgard Helges Selbstzweifel, seine innere Leere und seine Schuldgefühle angesichts des Autounfalls mit Todesfolge von Siewerts Vater. Der damals 14-jährige Helge war Unfallzeuge und leidet heute darunter, dass er keine Hilfe geholt hat. Sein Unbewusstes meldet sich nach langer Zeit, wie oft bei Menschen, deren letzte Lebensphase beginnt. Da hat Knausgard mich wieder gepackt. Jetzt bin ich bei Line angekommen. Es soll eine der Hauptfiguren sein, ich bin gespannt.
Maastricht, den 12. August 2024
Das dritte Königreich
Die bildhübsche 19-jährige Line verliebt sich in den um ein paar Jahre älteren, geheimnisumwobenen Valdemar. Ihre WG-Mitbewohner raten ihr von der Beziehung ab, da Valdemar angeblich mit Nazi-Äußerungen und extremen Ansichten und Verhalten aufgefallen ist. Line trifft sich mit dem schweigsamen schönen Valdemar, wird aber nicht aus ihm schlau. Der Philosophiestudent Valdemar und ehemaliger Frontmann einer Heavy-Metal-Band spricht kaum, weiß um seine Ausstrahlung und ist von Anfang an dominant. Er lässt Line zappeln, er macht Vorschläge, Linefolgt, obgleich in ihrem Kopf dauernd rote Lämpchen angehen. Valdemar wirbt um sie und gleichzeitig lässt er sie am ausgestreckten Arm verhungern. Von Anfang an ist klar, hier geht es um eine obsessive Liebe, die dunkel ist und starke Kräfte hat.
Beide kommen aus unterschiedlichen Milieus. Valdemar sieht in Line eine Seelenverwandte und führt sie in seine okkulte Welt ein. Als er Line beim ersten intimen Zusammensein ohne ihr Einverständnis mit einem Messer unter die Brust ritzt und ihr Blut saugt, flieht Line. Doch sie ist vom ersten Beischlaf schwanger, und es zieht sie trotz großer Abwehr und Ängste wieder zu ihm hin. Knausgard verknüpft geschickt die Story von Line und Valdemar mit den drei getöteten jungen Bandmitgliedern einer Black-Heavy-Metal-Band aus dem ersten Band. Ständig schwingt die Frage mit, ob Valdemar mit den drei Morden in Verbindung steht, ist er doch jetzt Gründer und Leader von Domen, einer Black-Heavy-Metal-Band, die im Verborgenen agiert und eigene Gesetze hat.
Immer wieder begegnen mir obsessive Beziehungen in der Seelsorge. Von außen ist nicht zu verstehen, warum Menschen Beziehungen leben oder anstreben, die sie selbst gefährden und unglücklich machen. Ist diese Form dunkler Liebe ein unbewusstes Ausleben eigener nicht ausgelebter Seiten? Eine obsessive Liebe setzt Kräfte frei, die sich nicht steuern lassen. Knausgard gelingt mit Lineund Valdemar ein Portrait dieser zerstörerischen Energien.
Neu ins Roman-Portfolio nimmt Knausgard den Neurowissenschaftler Jarle auf, der sich intensiv mit der Frage beschäftigt, was Bewusstsein ist. Hier setzt Knausgard zu einem seiner bekannten tiefschürfenden Exkurse an. Ich mag diese philosophisch-theologischen Eruptionen sehr, kann jedoch verstehen, dass andere Leser diese sperrig und überflüssig finden. Jarle fragt in seinen Forschungen: Was ist der Mensch? Besteht er ausschließlich aus Physis oder gesellt sich dazu noch der Geist? Jarle beschäftigt sich intensiv mit dem menschlichen Bewusstsein. Je mehr er darüber analytisch forscht, desto demütiger wird er gegenüber dem großen Ganzen. Jarle schreibt an einem Buch über das menschliche Bewusstsein, er nennt es Gehirnkarte. „Alle wissen, was ein Gedanke ist, alle wissen, was Bewusstsein ist. Und in gewisser Weise ist das korrekt. Wir denken und wir haben ein Bewusstsein, folglich wissen wir aus Erfahrung, was das ist. Wir fühlen es, wir spüren es, wir wissen es – aber wir können es nicht einfangen“ (243). Diese und andere Reflexionen haben praktische Auswirkungen, z.B. auf unsere Wahrnehmung von Wachkomapatienten. Es gibt neuere Studien, die davon sprechen, dass Wachkomapatienten ein Bewusstsein haben. Wenn aber scheinbar am Leben Unbeteiligte ein Selbstbewusstsein haben, ist das eine revolutionäre Erkenntnis, auch für unseren Umgang mit ihnen. Knausgard zeichnet mit Jarle die neuesten neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse nach.
Für mich steckt darin eine sehr tröstende Sichtweise auf meinen älteren dementen Bruder, den ich regelmäßig besuche. Auch wenn seine Erinnerungsfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit und Aktivität stark eingeschränkt sind, ruht er doch in sich. Er hat ein Innenleben, zu dem ich keinen Zugang habe. Mag es für mich von außen auch stumpf aussehen, darf ich doch hoffen, dass es ihm gut geht.
Mit dem Mirakelhaften hält sich der Autor bisher in diesem neuen Band zurück, doch gerade in der Zurückhaltung gibt er Spekulationen Nahrung. Wir erfahren: Seitdem der Morgenstern am Himmel erschienen ist, stirbt niemand mehr. Darüber ist der Bestatter Siewert verwundert und irritiert, auch haben sich bei vielen Menschen die Trauminhalte verändert. Es stehen große Veränderungen an. Umwälzungen, die den Kosmos und das Leben aller betreffen. Das ist atmosphärisch sehr verdichtet und passt zu unserem apokalyptisch gefärbten Zeitgeist.
Ich glaube, dass Knausgard seine Leser irritieren will, sie sollen erschrecken vor dem, was ist und was die Zukunft bringen könnte. Ihr Weltbild soll erschüttert werden. Ich glaube nicht, dass Knausgard im vierten oder fünften Roman der Reihe das Geheimnis lüften wird, was es mit dem Stern und den seltsamen Phänomenen auf sich hat. Es ist auch keine schwarze Romantik oder magisches Erzählen, es ist einfach ein Erzählen über menschliche Empfindungen. Auch über das, was nicht erzählt werden kann, weil es größer ist als der Mensch.
Maastricht, den 18. August 2024
Das dritte Königreich
Vor ein paar Tagen habe ich den neuen Knausgard ausgelesen. Es ist gut zu wissen, dass ein weiterer kommt, der das viele Bände umfassende Romanprojekt fortführt. Es sind gerade die vielen Schichten in der einen großen Erzählung, die meinen Lesehunger mehren. Knausgard versteht es, unterschiedliche Wirklichkeitswahrnehmungen zu erzählen. Er gibt dem Unverfügbaren eine Stimme. Damit fängt er das Lebensgefühl vieler Zeitgenossen ein. Der Leser kann sich aussuchen, mit welcher Romanfigur er sich identifiziert. Bei mir sind es vor allem Katherine und Tove. Die Kapitel über die Pfarrerin Katherine empfehle ich jedem Geistlichen. Knausgard hat hier pastoraltheologisch mehr zu sagen als alle (!) mir bekannten praktisch-theologischen Lehrbücher. Ich finde mich in Katherine wieder: in ihrem Zweifel, wie sie ihren Glauben reflektiert, und die Welt religiös deutet. Nach einem aufwühlenden Gespräch, ob der Teufel existiere, kommt ihr in den Sinn: „Nur du Gott, kannst uns retten. Als ich das dachte, wusste ich im selben Moment, dass ich nicht an Gott glaubte. Wir waren vollkommen allein“ (628).
Der jähe Verlust ihres Gottesglaubens, ja die Gewissheit, es ist kein Gott, der unsere Bitten erhört, ist mir nicht fremd. Es scheint mir manchmal viel einfacher zu leben ohne Gottesbezug, viel ehrlicher auch im Umgang mit der Endlichkeit, die nicht einfach aufgelöst wird in einer unbestimmten Ewigkeit. Das Schreckliche ist einfach nur schrecklich und das Böse ist einfach nur böse; das Gute ist einfach nur gut und das Schöne einfach nur schön – ohne irgendwelche Gehirnwendungen, Verniedlichungen oder Beschwichtigungen. Wut ist Wut und Trauer Trauer – ohne Überbau und ohne Netz.
Doch Gott lässt mich nicht los. Credo ergo sum habe ich mir zum sechzigsten Geburtstag auf meinen linken Unterarm tätowieren lassen. Ich kann gar nicht Nicht-Glauben, selbst im größten Zweifel. Mir geht es ähnlich wie Katherine, als sie ihre Predigt schreibt, kehrt der Glaube zurück. Durch das Zurückgeworfen-Sein auf mich selbst werde ich auf fremde Erfahrungen verwiesen, die mir in der Schrift begegnen. Katherine formuliert in einem Predigtentwurf: „Das Christentum war die Religion des Zweifels. Jesu Frage [nach der Gottverlassenheit] gab es auch im Alten Testament, im Psalter, aber sie war nichts, wofür sich das Judentum interessierte, wie es im Christentum durch das Gewicht geschah, das sie dadurch erhielt, dass es die letzten Worte waren, die er vor seinem Tod sprach. Auf eigentümliche Weise wurde der Zweifel dort, in der Osterbotschaft ritualisiert und dadurch aufgehoben. Der Zweifel wurde zu einer großen Geborgenheit. Aber für Jesus war es, in diesem Moment, nicht so. Der Zweifel ist lebendig, in ihm liegt die Bewegung. Gott steht außerhalb des Zweifels, aber wir tun das nicht. Gott sucht nicht, wir tun es, und wir suchen nicht das, was wir wissen, nur das, was wir nicht wissen. Ich gewann Klarheit, als ich schrieb, es gelang mir, den gewaltigen Trost in mich aufzunehmen, der in Jesu Verzweiflung lag, und beendete die Predigt mit dieser Einsicht“ (630).
Der Zweifel, von dem Knausgard hier schreibt, ist und bleibt nichts Vorübergehendes, er ist fundamental und im christlichen Glauben selbst eingetragen.
Knausgard würdigt in der Figur von Katherine die Gestalt des norwegischen Protestantismus. Wo geschieht gegenwärtig ähnliches in der Literatur oder im öffentlichen Diskurs?
Und Tove? Tove spiegelt den Teil meiner Herkunfts- und Gegenwartsfamilie, die sich mit Depressionen und Manien herumschlägt. Wie Knausgard in Das dritte Königreich die beginnende und sich verstärkende Psychose aus der Sicht von Toveerzählt, ist außergewöhnlich gut erzählt. Es ist auffällig, dass alle fiktiven Figuren in seinem Romanprojekt, die psychisch oder geistig zeitweise oder andauernd in einer anderen Wahrnehmungswelt leben, ein tieferes Verständnis und Wissen um den Morgenstern haben. Es sind die Verletzten, die Gequälten und auch die, die verletzen und quälen, die die Zeichen der Zeit sehen. Alles läuft scheinbar auf eine Apokalypse hinaus. Den empfindsamen Geistern öffnen sich Geister und Dämonen, neben der gesamten Tierwelt, die intuitiv die Gefahr und die Bedrohung wahrnimmt. Indem Knausgard die am Geiste Leidenden und den Tieren ein besonderes „Wissen“ bescheinigt, würdigt er diese als Geschöpfe.
Maastricht, den 19. August 2024
Agi Mishol: Gedicht für den unvollkommenen Menschen
„Du bist erst zwanzig
und deine erste Schwangerschaft ist eine Bombe.
Unterm weiten Kleid gehst du schwanger mit Sprengstoff
und mit Metallteilen gehst du über den Markt
tickst zwischen den Menschen“ (11).
Zurzeit lese ich täglich ein Gedicht von Agi Mishol, eine Buchempfehlung von WDR3. Agi Mishol gehört zu den wichtigsten Lyrikerinnen der Gegenwart in Israel. Ihre Gedichte wurden zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Wie Mishol ihre Welt wahrnimmt und lyrisch verdichtet, ihre Sprachbilder mich unterbrechen, irritieren und unter die Haut gehen, ist mir bei Lyrik schon länger nicht mehr passiert. Eine ganz eigene Stimme in der Tradition von Mascha Kaléko, Hilde Domin und Rose Ausländer.
Maastricht, den 20. August 2024
James Baldwin: Nach der Flut das Feuer, >The Fire Next Time<
Seit zwei Abenden lesen wir einander vor dem Schlafengehen die Neuübersetzung von „Nach der Flut das Feuer“ vor, die den berühmten Brief des Autors an seinen Neffen zum hundertsten Jahrestag der Sklavenbefreiung von 1963 enthält. Baldwins Literatur nimmt die Sicht eines unterdrückten und von Rassismus betroffenen Schwarzen ein. Der Brief deckt weißen Rassismus geschickt und schonungslos auf.Dieser Rassismus gegenüber Schwarzen hat sich in den USA bis heute strukturell nicht geändert.
Beim Lesen erschrecken mich meine entlarvten rassistischen Gedanken und Vorurteile gegenüber Nicht-Weißen – eine bittere Erkenntnis. Baldwins Brief ist in der Anti-Rassismus-Bewegung zurecht nicht vergessen. Ich wünschte mir diesen Brief im Pflichtkanon der Schulen. In seiner Qualität steht er der bekannten Rede Martin Luther Kings I have a dream in nichts nach. „Viele Jahre lang und aus unzähligen Gründen mussten sie glauben, Schwarze seien weniger wert als weiße. Viele von ihnen wissen es eigentlich besser, aber Du wirst sehen, der Mensch tut sich schwer damit zu Handeln. Handeln ist ein Bekenntnis, und Bekenntnis bedeutet Gefahr“ (31).
Maastricht, den 23. August 2024
Gedicht für den unvollkommenen Menschen
Schutzraum
Jetzt wo rundherum Tod kriecht
und Pekanüsse sich in ihre Schalen drücken
…
tue ich nur was Rilke sagt:
lasse mir alles geschehen
Schönheit und Schrecken
ohne zu denken
dass sie endgültig sind.
Oktober 2023
Noch immer ist keine Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas ausgehandelt und von beiden Parteien unterschrieben. Der Tod kriecht nicht, er galoppiert im Gazastreifen. In den eingerichteten Flüchtlingszonen bombardiert die israelische Armee weiter, weil die Hamas laut Aussage der Armee die Flüchtlinge als Schutzschild missbrauchen. Zigtausende haben keinen Schutzraum gefunden, über 100 israelische Geiseln werden in Tunneln und Häusern gefangen gehalten. Agi Mishol verarbeitet das israelische Trauma in ihrem Gedicht Schutzraum. Sie flieht in ihre „Geliebte Heilige Sprache – jetzt wo alles seine Zeit hat, alles entsetzen ist.“ Sie erinnert an Rilke und saugt ein wenig Trost aus der Gewissheit, dass weder Schönheit noch Schrecken endgültig sind. Dass der Schrecken des Kriegs aufhört, das muss gewollt sein, dafür müssen wir kämpfen. Alle.
Emmanuel Carrère: V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage
Carrère ist und bleibt Carrère. Wie er ein Sujet angeht, ob Roman oder Gerichtsreportage, ist wiedererkennbar. Das liebe ich an Carrère, einem meiner französischen Lieblingsschriftsteller, der mit seiner radikalen Ich-Perspektive zu den besten Autoren autofiktionaler Literatur gehört. Seit September 2021 begleitet Carrère die Prozesse zu den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris.
Maastricht, den 29. August 2024
Regina Ullmann: Gedichte
Schönheit
Du bist vollkommen, doch dir fehlt das eine,
daß du schon alles hast, was dir gebricht!
Heute Morgen stolpere ich über diesen Gedanken. Was meint Regina Ullmann? Sind damit die schönen Frauen und Männer gemeint auf Werbeplakaten und in Filmen? Alles, was einen Makel hat, muss weg. Kaum ein Foto mehr, das nicht retuschiert wird. Die Schönheitsindustrie setzt Milliarden um. Ich denke an einen Ausspruch von Dostojewskij, dass Schönheit etwas furchtbar Schreckliches sein kann. Geht das in dieselbe Richtung? Vor kurzem fragte mich meine Tochter, ob sie sich ihre Warze im Gesicht entfernen lassen soll. Ich zögerte mit einer Antwort. Ob sie es machen wird? Aber meint Regina Ullmann wirklich die äußere Makellosigkeit? Die weiteren Zeilen des kurzen Gedichts weisen auf etwas anderes hin. Wer sich vollkommen wähnt, ist nicht bedürftig wie die Kinder – auch an schönen Dingen.
Schönheit, die geschenkt wird, weist auf den Ursprung der Schönheit hin. Schönheit, die verliehen wird, mehrt Schönheit. Schönheit als Beziehungsgeflecht – ein schöner Gedanke.
Herzogenrath, den 30. August 2024
Eine Gerichtsreportage
Unter der Überschrift Der Auserwählte erzählt Carrère: „Als Guillaume in den Zeugenstand trat, spürten alle sofort, dass etwas Besonderes passieren würde“ (65).
Als Guillaume sich während des Anschlags aus dem Knäuel der Lebendigen und Toten auf dem Parkett in Bataclan erhebt, wird er nicht direkt niedergemäht wie andere, sondern von Samy Amimour, einem der Terroristen, auf die Bühne geholt mit den Worten: „Du bist einer von uns“ (66). Das Unerklärliche geschieht mitten im Chaos des wahllosen Abschlachtens. Was war geschehen? Als Samy Amimour Guillaume abknallen will, schaut dieser ihm in die Augen. Hat nicht Emmanuel Levinas gesagt, einem Menschen ins Angesicht zu schauen und ihn zu töten sei schwierig bis unmöglich? Es scheint eine Art Reflex zu sein, eine sekundenlange Hemmschwelle, die Menschen hindert von Angesicht zu Angesicht zu töten. Allerdings steht Bataclan und jetzt aktuell auch die Messerattacke in Solingen für die Widerlegung von Levinas schönem Satz.
Guillaume darf leben, obwohl er zu den Opfern gehören müsste. Kurze Zeit später sprengt sich Samy Amimour in die Luft, Guillaume rettet sich mit einem Sprung von der Bühne aufs Parkett. Später wird er ein zweites Mal erwählt. Er wird der Sprecher der Geiseln, der mit den Terroristen spricht und mit den Einsatzkräften verhandelt. Es scheint Menschen zu geben, die mit ihrer Ausstrahlung den Lauf der Dinge lenken können.
Der positiven Erwählungsgeschichte stellt Carrère ganz im Sinne einer doppelten Prädestination die Geschichte eines zweiten Guillaume entgegen. Sein Namensvetter war ein ängstlicher Charakter, der zwar die Hölle von Bataclan überlebte, aber daran zerbrach und sich nach vielen erfolglosen Therapieversuchen und seelischen Qualen erhängte. „Wenn man von 130 Anschlagopfern spricht, sagt sein Vater, dann vergisst man Guillaume, der zwei Jahre und sechs Tage gebraucht hat, um der hunderteinunddreißigste zu werden“ (75).
Carrère gibt in seiner Gerichtsreportage vielen Opfern und deren Angehörigen eine Stimme und entreißt sie dem Vergessen.
Nichts anderes machen wir in den Fürbitten unserer Gottesdienste. Am nächsten Sonntag beten wir für die Opfer des Anschlags in Solingen.
„Lieber Vater im Himmel,
wir bitten dich für die Getöteten und Verletzen der terroristischen Messerattacke auf dem Stadtfest in Solingen und für alle Mitbetroffenen und Trauernden.
Schenke den unschuldig Getöteten das Leben in deiner Gegenwart.
Lass die an Leib und Seele Verletzten umsorgt sein, dass ihre Wunden heilen und vernarben und sie in Zukunft wieder ein Leben ohne Angst führen können.
Lasst uns zum HERRN beten: HERR, erbarme dich!“
Der Sprechakt der Fürbitte ist ein stellvertretendes Aussprechen des Unheils, das gewendet werden soll. In der Sprachlosigkeit hilft das Beten in der Gemeinschaft. Wie und ob es wirkt, weiß ich nicht, es ist mehr ein Abgeben und ein sich Ausrichten auf das Heilende. Dazu gehört das Erinnern an die Opfer. Ich kenne keinen anderen Sprechakt, der angemessener ist.
Die Geschichte des zweiten Guillaume bewegt mich. Ich muss an die vielen zivilen Opfer der Kriege in der Ukraine, im Gazastreifen, in Israel u.a. denken, an die traumatisierten Soldaten und Familien. Kriegstraumata werden, wie wir wissen, sogar genetisch in die nächste und übernächste Generation übertragen. Wann endlich hören wir auf, Krieg zu akzeptieren? Krieg gehört geächtet, wir müssen diese extreme Form von Gewalt gemeinsam als Menschheit überwinden lernen. Eine neue Aufrüstungsspirale wird keine Sicherheit schenken, sondern erhöht die Gefahr zukünftiger militärischer nationaler oder multipolarer Kriege.
Ferner bewegt mich die Frage der Erwählung. Neben einem positiven Auserwähltsein zum Guten scheint es ein negatives Auserwähltsein zum Bösen zu geben. Wer sich erwählt weiß, dem wachsen Kräfte des Guten (Guillaume) oder der Zerstörung (Terroristen) zu. Was ist dafür der Nährboden? Was können wir präventiv tun? Das ist nicht nur ein soziales Problem, es ist ein religiöses, zutiefst spirituelles.
Wir sollten die friedlichen Ressourcen in allen Religionen freilegen, die gewalttätigen radikal kritisieren, religiöse Gewaltlegitimationen ächten und theologische Deutungsmuster hinterfragen, die Krieg legitimieren. Die christlichen Kirchen – auch meine Kirche – sollten sich wieder auf das Evangelium besinnen, statt euphemistisch Waffenlieferungen an die Ukraine als Nächstenliebe zu titulieren. Jesus ruft in seine Nachfolge zur Gewaltlosigkeit auf. Wo entfaltet sich diese Kraft? Gewalt religiös zu begründen ist pure Gottlosigkeit und menschenverachtend.
Maastricht, den 2. September 2024
Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes
Nur noch sechs Jahre, dann jährt sich das Erscheinen des Romans Hiob von Joseph Roth zum einhundertsten Mal. Im November besprechen wir mit dem Literarischen Quartett des Katechetischen Institut des Bistums Aachen vier jüdische literarische Werke in der Stadtbücherei Herzogenrath, darunter Hiob, einen meiner Lieblingsromane. Aus diesem Anlass lese ich den Roman ein weiteres Mal. Ich ahne, was mich zu Hiob hinzieht, auf welche Textur ich anspreche, was mich existentiell berührt. Beim jetzigen Lesen will ich dem näher auf den Grund gehen.
Es ist die Geschichte der Figur Menuchim, „ein mächtiger Krüppel“ (24), die mich berührt. Joseph Roth erzählt sein Schicksal: wie er von seinen Eltern und Geschwistern behandelt wird, wie sie gegen ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit ankämpfen mit Gebeten und Wunderglaube, ihn abstoßen und an ihm schuldig werden. Und am Ende wird Menuchim zu dem, was sein Name bedeutet: Tröster und Erlöser. Wie schafft es Joseph Roth, mich in seine Erzählung hineinzuziehen und mich zu Tränen zu rühren? Welche Saiten bringt er in mir zum Klingen? Welche Ohnmacht aktiviert Joseph Roth in mir? Ist es das mich immer wieder heimsuchende Gefühl der Hilflosigkeit angesichts des ungerechten Leidens vieler Kreaturen, das ich wahrnehme? Sind es die eigenen Ohnmachtserfahrungen meiner Kindheit? Ist es meine Sehnsucht nach Wundern, nach einem Gott, der eingreift, und die bittere Erkenntnis, dass dies nicht geschieht und selbst ernsthafte Gebete (Bonhoeffer) nicht erhört werden?
Mendel Singer, der Vater Menuchims, lehrt Kinder die Tora lesen. Mit rhythmischen Bewegungen werden sie in die heiligen Geschichten und die Weisungen der Tora hineingezogen, lernen Gott für seine Wunder zu preisen, und gleichzeitig lächelt Mendel Singer „über den Glauben seiner Frau an den Rabbi. Seine schlichte Frömmigkeit bedurfte keiner vermittelten Gewalt zwischen Gott und den Menschen“ (21).
Maastricht, den 9. September 2024
Helena Adler: Miserere. Drei Texte
Mit vierzig Jahren ist Helena Adler im Januar 2024 an einem Gehirntumor gestorben. Die Wochenzeitung Der Freitag erinnert an die österreichische Schriftstellerin und stellt mit Miserere drei kurze Erzählungen vor, die nach ihrem Tod erschienen sind. Wir haben noch nichts von Helena Adler gelesen, nur der Titel ihres Romans: Die Infantin trägt den Scheitel links kommt uns bekannt vor. Wir wählen Miserere zur abendlichen Vorleselektüre.
Die erste Erzählung Ein guter Lapp im Unterjoch katapultiert uns in das Leben von Josef. Josef, ein einfacher Maurer und Verputzer, hat einen Tumor und mit ihm eine verrückte Fantasie. Am Ende führt er sie als waghalsige Tat aus, betoniert alle Eingänge zum Wirtshaus und rettet die schwangere Maria vor ihrer Zwangsvermählung. „In seiner Funktion als Hochzeitslader, ein Amt, das seine Familie seit Generationen bekleidet, macht er keinen Fehler“ (7). Wie alle im Dorf ist Josef eingezwängt in feste Rollenzuschreibungen. Helena Adler erzählt bitterböse von einer patriarchalen Dorfgesellschaft, die Gewalt und sexuelle Übergriffe legitimiert. Die Frau ist ein Besitz des Mannes und er darf sie benutzen. „Er rührt den Mörtel an, der Bürgermeister Joch seine Schwiegertochter“ (9). Helena Adler vermag durch ihre bildhafte, erschreckend genaue und aufdeckende Sprache gewollt Ekel hervorzurufen. Alles gar nicht so weit weg. Alles gar nicht so lang her. Alles immer noch unter uns. Alle drei Tage wird eine Frau in Deutschland durch männliche Gewalt getötet. Da gibt es nichts zu beschönigen.
Als Cover für Miserere hat der Verlag Jung und Jung einen Ausschnitt des dritten Wandbilds des Isenheimer Altars gewählt. Es zeigt dämonenhafte Fratzen der Visionen des Heiligen Antonius. Das wie ein Hieronymus-Bosch-Werk anmutende Bild stammt von dem Renaissancekünstler Matthias Grünewald, der die Isenheimer Altarbilder für das Antoniterkloster in der Nähe von Colmar malte. Zum Kloster gehörte ein Spital, das Pestkranke und vom Antoniterfeuer Geplagte beherbergte. Ein treffendes Sujet für das leidenschaftliche Erzählen von der „Krankheit zum Tode“ (Sören Kierkegaard) der früh heimgesuchten Helena Adler.
Wenn ich an mein Leben denke, sehe ich meine enge familiäre Herkunft, spüre mehr ein Nicht-Erwarten als ein Erwarten, ein Gefühl, nicht richtig zu sein. Meine Fantasie und mein Glaube spülen mich später zu den Jesus-Leuten. Eine klare Flucht aus der Herkunftsfamilie, um zu überleben. Die anfangs vitalisierende Gemeinschaft entpuppt sich langsam, aber konsequent zu einem starren Korsett geistlicher und moralischer Enge. „Wenn Religion zur Moral verkommt, fängt sie an zu stinken“ lässt sich Friedrich Nietsches Religions- und Moralkritik paraphrasieren. Dem stimme ich zu. Jegliche ideologische und besonders religiöse Form von rigiden moralischen Imperativen ist mir zutiefst zuwider. Eine solche Form von Moral erlebe ich als Übergriffigkeit. Aufgrund meiner Kindheits- und Jugenderfahrungen neige ich dem Anarchischen zu, bin aber noch viel zu brav. Aber ich bin überzeugt, dass Jesus mehr als Anarchist gesehen werden muss, der den Menschen über das normative religiöse Gesetz stellte und ihn zu einem existenziell von Vertrauen und Liebe geprägten Gottes- und Menschenverhältnis aufrief: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe.“ (Johannes 13,34)
In Helena Adlers Erzählung Ein guter Lapp im Unterjoch bricht Josef aus den erstarrten ritualisierten Mustern der Dorfgemeinschaft aus und wagt angesichts seines eigenen bevorstehenden Todes die Rettung einer jungen Frau vor dem Joch der Zwangsheirat. Das vermittelt trotz aller bleiender Schwere, die über dem Dorf liegt, Hoffnung. Der menschliche Geist kann urplötzlich eine andere Richtung einschlagen. Das lang Angestaute in Josef explodiert. Das nenne ich Emanzipation. Ein wahrer Exodus, wo nur noch zu gewinnen ist. Daher ist mir die Erzählfigur Josef symphatisch.
Maastricht, den 11. September 2024
Miserere
Der zweite Text in Miserere von Helena Adler Unter der Erde umfasst zwei Seiten. Mir kommt er wie ein Schrei oder ein prophetisch-apokalyptisches Gerichtswort vor: „Ein Nachtschattengewächs im Uterus der Mutter habt ihr diagnostiziert, wie Befehlshaber vor der Geburtshöhle patrouilliert, seid mit euren verbrannten Zungen mir auf die Pelle gerückt, und als ich herniederfuhr, da blieb der Mutter nichts anderes übrig als mich fallen zu lassen“ (27). Über diese „Missgeburt“ zerreißen sich alle das Maul. Die Ich-Erzählerin spuckt Galle und Feuer, rächt sich an den Übeltätern und verflucht alle, die sich an ihr vergingen. Ein starker und zorniger Text. Anders und doch ähnlich dem Schicksal von Menuchim in Hiob. Seine Mutter Deborah glaubt an ein Wunder und wendet sich ihm mit Zärtlichkeit und Liebe zu, sein Vater Mendel verstummt und sieht in MenuchimsBehinderung eine Heimsuchung Gottes, gibt ihn aber nicht in die Hände der Doktoren oder in entfernte Kliniken.
Auch das Gedicht von Regine Ullmann: Einem blöden Kinde kommt mir in den Sinn. Ihre Zeilen aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wären heute undenkbar: „Nie wird dir je die Welt bekannt. Doch Gott, der deinen Geist verbannt, drückt´ noch, als er den Fluch genannt, die Hand auf Stirn und Haare“ (7). Was leistet der Glaube an einen strafenden Gott? Vielleicht, dass alles, Glück oder Unglück, nicht zufällig geschehen, sondern einer Ordnung und einem Sinn entspringen, der größer ist als wir selbst? Regina Ullmann friedet den Fluch ein, da Gottes segnende Hand noch die Stirn des „blöden“ Kindes segnet. Die Ich-Erzählerin bei Adler flucht, sie hat Feinde, sie wehrt sich, sie klagt an. Sie sieht das, was Menschen ihr angetan haben, nicht als Strafe Gottes (Vorsehung), sondern als das, was es ist: Schuld und Unmenschlichkeit.
Ich denke an eine theologische Diskussion Anfang der 90er Jahre über die Sehnsucht nach Heilung im Reich Gottes. Der Theologe Ulrich Bach diskutierte darüber mit uns Vikarinnen und Vikaren. Er saß im Rollstuhl und konfrontierte uns mit seiner provozierenden Vorstellung, dass für ihn Heilung nicht bedeute gesund zu werden, dass er auch im Himmel gern ein behinderter Mensch sein wolle, denn das sei seine Identität. Gott sei auch der Schöpfer seiner körperlichen Behinderung. Ich weiß noch, wie mich seine Gedanken irritierten, waren sie doch so anders als meine Sehnsucht nach Heil-Sein und einem Himmel, wo alles Schwere von mir abfällt. Ulrich Bachs Punkt: Es geht um Identität und Selbstermächtigung der diversen Körper.
Auch mein Bruder ist von Geburt an körperlich und geistig eingeschränkt. Es tut mir gut, mich um ihn zu kümmern. Jetzt ist mein Bruder dement. Er lebt in seinem gebrechlichen Körper zunehmend ohne Orts- und Zeitwahrnehmung. Aber in seiner eigenen Welt scheint er in sich zu ruhen. Wir sind uns auf neue Weise nah. Was weiß ich schon von seiner inneren Welt? Was wissen wir überhaupt von außen? Wir übertragen unsere Ängste und bewerten das innere Leben eines Menschen nach Gutdünken.
Maastricht, den 16. September 2024
Hiob
„Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark“ (194) zitiert Mendel Singer die Worte, die der Rabbi seiner Frau Deborah über Menuchim gesagt hatte. Diese Worte hat Deborah in ihrem Herzen bewahrt, bis auch in sie der Zweifel kroch, dass Gott kein Wunder an Menuchim vollbrachte – trotz ihrer inbrünstigen Gebete und ihre Anrufung der Ahnen. Daraufhin hatte Deborah Menuchim zurückgelassen in Russland. Das tat ihr als Mutter weh, es war wie ein Bruch für sie und ihren Mann Mendel. Wieviel Liebe hatten sie Menuchim geschenkt, aber es war unmöglich, ein behindertes Kind mit über das große Wasser zu nehmen. Das Unglück sollte zurückbleiben. Deborahwanderte mit Mendel und ihrer Tochter Mirjam nach Amerika aus. Dort wollten sie mit Hilfe ihres Sohnes Schermajah – jetzt Sam – ein glücklicheres Leben führen. Das Glück währte nur kurze Zeit, bis größeres Unglück über die Familie Singerkam. Das war der Wendepunkt im Leben Mendel Singers, er schwor seinem Gott ab und hörte von einem zum anderen Moment auf zu beten. Das Maß war voll. Gott hatte ihn genug gestraft. Zu seinen Freunden sagte Mendel: „Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. … Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn. Er ist ein großer, grausamer Isprawnik“ (155). „Und warum war Menuchim krank? Schon seine Krankheit war ein Zeichen, daß Gott mir zürnt – und der erste der Schläge, die ich nicht verdient habe“ (157). Mendel Singer verlor seine Gottesfurcht, er erhob sein krummes Haupt und trat Gott, Teufel und Welt entgegen. Eine späte Emanzipation, aber endlich ein Aufbegehren und kein passives Erleiden mehr. Mendel Singer ließ endlich den Schmerz zu, die große Trauer, die er mit Sorge um die anderen und Gebeten überdeckt hatte. Eine sehr schöne und treffende Zeichnung Mendel Singers, die Joseph Roth hier gelingt.
Hiob ist ein Roman über den frommen Mendel Singer, dem ein Unglück nach dem anderen widerfährt, der spät gegen Gott rebelliert und am Ende doch das lange ausgebliebende Wunder erfährt und seinen gesundeten Sohn Menuchim in die Arme schließt. Die letzten Kapitel haben mich mit dem Schicksal Menuchims wieder sehr bewegt. Nicht Hiob, sondern Menuchim müsste der Roman aus meiner Sicht heißen, um ihn geht es, auch wenn aus der Perspektive Mendel Singers erzählt wird. Das Schicksal Menuchims ist das Schicksal der Familie Singer.
Es gibt keinen anderen Roman, kaum eine andere auch biblische Erzählung, die daran ragt, was Menuchims Schicksal bei mir auslöst. Der blöde, kranke und sprachlose Menuchim wird als aufwachsendes Kind von Mendel und Deborah Singerals Strafe gesehen, seiner muss man sich schämen, er wird zurückgelassen. Menuchim überlebt das alles, bekommt Hilfe, wird gesund und lebt seine musikalische Ausnahmebegabung. Äußerlich gesehen gibt es nicht vieles, was mich mit Menuchim verbindet, innerlich aber bin ich ihm nah. Menuchim löst starke Resonanz in meinen bewussten, mehr noch in meinen unbewussten Schichten aus. Die Lektüre von Hiob hat eine katharische Wirkung auf mich. Hiob ist einer der eindrücklichsten Romane, die ich bisher gelesen habe. Hiob erschüttert und festigt mich in den Grundpfeilern meiner Person. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich Hiob gelesen habe.
Herzogenrath, den 20. September 2024
Regina Ullmann: Gedichte
Heute Morgen habe ich das Gedicht Gottesgaben (22) aus dem Gedichtband der jüdischen Lyrikerin Regina Ullmann (1884-1961) gelesen. Dabei musste ich an den jungen Mann (44 J.) denken, den ich vormittags zu beerdigen hatte. Er ist an seiner Alkoholsucht gestorben. Die Sucht war größer als er. In der Traueransprache habe ich folgende Verse aus dem Gedicht zitiert:
Und wiegt vor dir sein Leben
und nimmt deine Gabe,
und zerpflückt sie,
wie die welken Blumen:
Nimmst du nicht, o Gott,
großer Gott,
seine leeren Hände,
wie zwei schwere vollgefasste Hände,
und verbirgst sie still
Herzogenrath, den 23. September 2024
Marion Messina: Die Entblößten
Aachener Zeitung, Montag, 23. September 2024, Seite 1 unter kurz notiert: Prozess in Avignon löst heftige Debatten aus. Avignon. Am Rande des Aufsehen erregenden Vergewaltigungsprozesses in Avignon hat sich ein französischer Bürgermeister mit einer verharmlosenden Bemerkung heftige Kritik eingehandelt. … Der Bürgermeister von Mazan, dem Wohnort des Hauptangeklagten bezog sich damit auf die 200-fache Vergewaltigung von Gisèle Pericot, die von ihrem damaligen Ehemann mit Schlafmitteln bewusstlos gemacht und dann von dutzenden Männern vergewaltigt worden sein soll. … Herrscht in Frankreich (und nicht nur dort) eine „Kultur der Vergewaltigung“ vor, durch die Männer glauben, dass Recht zu haben, sich an einer in diesem Fall wehrlosen Frau zu „bedienen“?
Auf Seite 3 der heutigen Ausgabe der Aachener Zeitung wird Gisèle Pericot zitiert mit den Worten: „Ich habe das Gefühl, dass ich hier die Schuldige bin. Und dass 50 Opfer hinter mir sitzen.“
In ihrem distopischen Roman Die Entblößten gibt Marion Messina Menschen wie Gisèle Pericot, die von den staatlichen Behörden und einem Großteil der Gesellschaft nicht gesehen werden, eine Stimme. Der Roman beginnt mit der Selbstverbrennung des jungen Mannes Enzo Brunet. Aus Verzweiflung verbrennt er sich selbst vor der Nationalkammer in Paris. Seine Anklageschrift, die schnell viral geht, ist für die Regierenden ein Problem, denn es werden Namen genannt von Zöglingen wichtiger Persönlichkeiten. Hauptdrahtzieher soll der Patensohn der Präsidentin sein. Sie haben Enzo mit einem Trinkspiel abgefüllt, anschließend betäubt und sich einer nach dem anderen an ihm vergangen. Dann wird auch noch das Vergewaltigungsvideo des Patensohns gehackt und schnell verbreitet.
Die Regierung spielt die Gewalttat herunter und verbreitet in der medialen Öffentlichkeit ein Zerrbild von Enzo Brunet. Sie setzt alles auf die Karte, dass Enzo Brunet psychisch erkrankt sei, unter Depressionen litte, und sich aufgrund seiner Schwäche nicht hätte wehren können. Enzo abgebrochen hat, nicht über die Krebserkrankung seiner Mutter hinwegkam und keine Freunde hatte. Aus der Provinz stammend, kam er in Paris nicht zurecht und gab anderen die Schuld an seiner Misere. Die Selbstverbrennung war nur ein weiterer aggressiver Akt eines Lebensmüden. Das sei schade, aber leider nicht zu ändern.
Nach der Regierungserklärung bricht eine Welle des Protestes los. Im spontanen Aufruhr und Straßendemonstrationen solidarisieren sich viele Bürgerinnen und Bürger mit Enzo Brunet und seine Anklage gegen die kalte Bürokratie und eine Politik, die rein an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet ist und viele Verlierer erzeugt. Die Funken der der Selbstverbrennung springen auf weite Teile der Abgehängten über. Der spontane gesellschaftliche Protest ist hochexplosiv. Viele aus der in ihrer Existenz bedrohten Mittelschicht gehen erstmals auf die Straßen.
Marion Messina verlegt ihren Roman in die nahe Zukunft. Anhand von Einblicken in das Leben dreier Protagonisten werden Ohnmacht und Wut vieler Franzosen im heutigen Frankreich nachgezeichnet. Für alle drei stellt die Selbstverbrennung des jungen Mannes Enzo Brunet vor der Nationalkammer in Paris eine Zäsur dar.
Meine erste Befürchtung, dass der Roman in der Beschreibung dergesellschaftlichen Lage und der damit verbundenen politischen Verwerfungen verharrt und das Eigenleben der Protagonisten nicht ausgearbeitet wird, hat sich nicht bestätigt. Mit der für viele französische Autoren eigenen Nonchalance wird das reale soziale Leben auf den Punkt gebracht. Die Herkunft von Marion Messina im Journalismus erweist sich in ihrer nüchternen Distanz und in ihrem klaren Blick als Stärke. Ihre Sprache ist warm, sezierend und humorvoll. Mühelos arbeitet sie mit Über- und Untertreibung, aber noch viel wichtiger: Sie hält uns einen Spiegel vor. Sie hat uns etwas zu sagen, weil sie selbst das Beschriebene am eigenen Leibe erfahren hat.
Der Roman ist ein Anklage-Roman mit autofiktionalen Anteilen. Die ProtagonistinSabrina, alleinerziehende Mutter, sinniert in ihrer Einsamkeit über die Qualität ihrer Beziehungen nach: „Eine privilegierte Beziehung hat keine rechte Bedeutung mehr; man tippt kurz auf einer Tastatur herum, um seiner Mutter, früheren Klassenkameraden und Wildfremden eine Schwangerschaft, eine Neuanschaffung, einen Stellenwechsel mitzuteilen. Geständnisse haben nichts mehr von einem Vertrauensbeweis. Geständnisse sprudeln aus allen Kehlen hervor wie unkontrollierbares Gereihere“ (86).
Einsamkeit grassiert proportional zur ständigen Handy-Erreichbarkeit. Solche Beobachtungen machen den Roman wertvoll, sie spiegeln auch mein Erleben, mein persönliches und das meiner Arbeit als Seelsorger. Es hat sich herumgesprochen, dass ich als diakonische Hilfe Lebensmittel-Gutscheine ausgebe. Gerade gegen Monatsende geben sich viele Bittsteller die Klinke in die Hand. Ich kenne viele persönliche Geschichten, in der Mehrheit Tragödien, die durch unser soziales Netz fallen, mit der Bürokratie und der Digitalisierung nicht klarkommen. Scham und Angst zeichnen die Entblössten aus.
Da ist die Frau, die mit Anfang vierzig aussieht als wäre sie Ende sechzig. Sie kämpft für ihre Kinder, kämpft mit zahlreichen Krankheiten und leidet unter der Gewalt ihres Partners.
Da ist die junge Frau ohne Ausbildung, die in einer Art archaischem Matriarchat lebt, sich gegen die Moralvorstellungen des Familienclans auflehnt, von zu Hause abhaut, schwanger wird, mit dem Erzeuger des Kinds nichts mehr zu tun haben will, und in den prekären Schoß der Familie zurückkehrt. Und. Und. Und. Ja, ich kenne Die Entblößten aus meiner Gemeinde/Kommune. Oft haben sie mehr Herz und sind Gott näher als die Gutbetuchten.
Maastricht, den 28. September 2024
Die Entblößten
„Die Müdigkeit ist für sie Normalzustand, sie bringt ihre Abende damit zu, sich durch die kategorischen Meinungen von Wildfremden zu scrollen, die Kontroversen des Tages, dämliche Videos, peinliche Geständnisse von zu allem bereiten Filmsternchen“ (84). Weiter erzählt Marion Messina von Sabrinas vergeblichem Versuch nach ihrer Scheidung und den Anstrengungen als Alleinerziehende ihrer Tochter mit einem Partner eine verbindliche Beziehung auf Augenhöhe einzugehen. Sie gerät an Xavier, der sich selbst nicht kennt und allen etwas vorspielt, nur um in der Gesellschaft überangepasst zu überleben. „Der Mensch der Hochstaplergesellschaft kann nur vor sich selbst fliehen“ (95). Sabrina, eine Frau mit Migrationshintergrund, die vom Schuldienst suspendiert wurde, steckt in einer Krise, aus der sie allein nicht herauskommt. Ihr stilles Leiden bleibt Einsamkeit.
Ferner hegt Marion Messina eine unverhohlene Bewunderung für die Bauern und ihren Kampf ums Überleben. Ein weiterer Protagonist ist Aurélien, der mit seiner Frau den Hof mit Fleiß betreibt und doch mit all den Auflagen nicht mehr über die Runden kommt. Mit seinem Freund Paul, der das Trio komplett macht, fährt er nach Paris, um eine Blume auf dem Platz der Selbstverbrennung abzulegen. Während der Fahrt erinnert er sich an das Schicksal von Philippe, der sich erhängte, nachdem er Opfer der Behörden und großen Konzerne wurde, die seine Existenzgrundlage wegen eines harmlosen Virus durch Fällung seiner Aprikosenbäume vernichtet haben.
Die Traktorendemos der Landwirte in diesem Frühjahr lassen grüßen. Die Wut der Bauern ist groß, in den Niederlanden ist die BoerBurgerBeweging (BBB), eine populistische und europaskeptische Bauernpartei, aus dem Stand bei den Provinzwahlen 2023 erste Kraft geworden. Die in ihrer Tradition politisch konservativen Landwirte stehen auf, weil sie sich von EU-Normen, der ökologischen Transformation und vor allem von dem Preisdruck der multinationalen Konzerne in ihrer Existenz bedroht sehen. Marion Messina protokolliert: „Nach Jahren des vergeblichen Aktivismus hat Aurélien es geschafft, seine Todfeinde zu identifizieren: äußerst diskrete, unerreichbare Männer, die an der Spitze großer Konzerne mit Dutzenden von undurchsichtigen Filialen stehen“ (103).
Aurélien und Paul sind auf der Rückfahrt von Paris in die Provinz. In Paris hatten sie für Enzo Brunet vor der Nationalkammer eine Blume abgelegt. Anschließend haben sie an der Großdemo gegen die Regierung teilgenommen. Sie waren Zeugen, wie polizeiliche Gewalt mit Unterstützung der Armee die Menschen auseinander geknüppelt haben. An einer Straßensperre werden beide von einer übermotivierten ehrenamtlichen Hilfspolizistin niedergeschossen.
Gibt es denn überhaupt keine Hoffnung in dieser Distopie? Es gibt Hinweise. Einmal ist der Widerstand, die Selbstermächtigung der Bürgerinnen und Bürger, ein Hoffnungszeichen gegen skrupellose Macht, alles beherrschende Konzerne und bürokratische Kälte. Es gibt jenseits des Pariser Zentralismus, angepasstes Verhalten und der Reduktion des Menschen auf Konsum auch Mitgefühl, Freundschaft und eine Ahnung, dass der Mensch dadurch zum Menschen wird, dass er Entfremdung überwindet, aufrecht, frei und menschenwürdig sein Leben mit aller Kreatur lebt. Der Konsensfabrik (Chromsky) werden, ob bewusst oder unbewusst, andere Erzählungen entgegen gehalten. Marion Messina gliedert die Geschichte der Selbstverbrennung von Enzo Brunet mit seinen letzten Worten: dem Vaterunser. Enzo hatte sich die Verse des Vaterunsers, „wie ein Spickzettel“ frisch tätowiert. Er, der nicht fromm war, betet – „vielleicht war es nichts als ein Gedicht“(?) -: „Dein Reich komme – es komme schnell, ich flehe dich an“ (9).
Maastricht, den 29. September 2024
Miserere
Vor gut einer Woche haben wir die dritte Erzählung von Miserere ausgelesen. Es ist in diesem kleinen Band die längste und dunkelste, vielleicht auch die brillanteste. Manchmal vernebelt die exaltierte Wortwahl Helena Adlers das, was sie sagt. Ihre Sprache ist faszinierend und abstoßend zugleich. Altbekannte Phänomene wie die Melancholie bekommen sprachlich eine neue Form und gleichzeitig entziehen sie sich. Ich werde ungeduldig in dem Verwirrspiel der Autorin. In der Nachbemerkung schreibt Thomas Stadler: „Miserere: eine Formulierung aus dem Agnus Dei, die sich im katholischen Kontext ihrer Herkunft tief in sie eingeprägt hat. Wie Grünewalds Lamm steht sie am Ort des schwärzesten Schwarz“(…).
Dem Dämon Depression gibt die Autorin Namen wie Golem, Gnom, Mistkerl, Bastard, Widerling, Giftköder, Podsol, Creep, Pest, Ekel, Abscheu, Ausgeburt, Abort… Im zweiten Teil der Erzählung führt Helene Adler einen Diskurs mit ihrem Gnom – nichts Ungewöhnliches in der Literatur -, aber hier doch sehr spezifisch:
„Dein Mich-Ansehen hat mich unansehnlich gemacht. Ein vierzigjähriges Mitansehen müssen ist nicht nichts.
Gnom: Schade, du dämonisierst mich also noch immer.
Nur weil du mich entmenschlichst und hospitalisierst (53).
…
Mein Herz ist ein Fenster, aus dem ich mich lehne. In der Hölle bin ich weg von diesem Fenster. Mein Herz ist ein Felsen, von dem ich stürze.
Gnom: Bravo!
Der Gnom klatscht verzückt in seine Hände“ (54).
Ich muss an F. denken, die wieder in der Psychiatrie ist. Kein Ende, keine Besserung ist abzusehen. Der Familie zerreißt es das Herz. Ich kenne viele Menschen, die unter Depressionen leiden. Auch meine Familie ist davon betroffen. Meine Uroma zuerst, dann meine Mutter, dann die nächste und übernächste Generation. Es hat sich fortgesetzt. Erzählungen wie die von Helena Adler zeigen mir, es geht noch schwärzer. Das ist kein Trost. Tröstlich jedoch ist, dass sie Worte findet, die ihre Depression ausdrücken. Die Depression wird aufs Papier gebannt. Sie teilt Menschliches, das über die eigene Biographie hinaus verbindet. Das ist kostbar.
Nachsommer
Maastricht, den 9. Oktober 2024
Hiroko Oyamada: Das Loch
Auf dem Schwanberg in Franken bin ich während einiger Aufenthalte im Geistlichen Zentrum der Evangelisch-lutherischen Bayerischen Landeskirche C. begegnet. Wir unterhielten uns am letzten Tag der Schweigeexerzitien, als wir wieder sprechen durften. Ihr Schicksal berührte mich, denn sie sagte, dass sie in ein paar Monaten wegen einer unheilbaren Krankheit sterben müsse. Sie hätte sich hier im Schwanberger Friedwald, der von den evangelischen Benediktinerinnen betreut wird, eine kleine Hainbuche als letzte Ruhestätte ausgesucht. Sie zeigte mir den Baum. Ich war ihr sehr nah, teilte mir ihr ihren Schmerz. Es war wirklich und unwirklich zugleich.
Jahre später traf ich C. wieder. Sie war nicht gestorben. Sie strahlte aus: Rede bloß nicht mit mir darüber. So verbunden wir uns damals waren, so unnahbar jetzt. Der Exerzitienleiter sagte mir: C. erzähle diese Geschichte immer und immer wieder. Sie bekommt dadurch Aufmerksamkeit und erlebt Nähe. Daran rühren werde ich nicht, denn weiß ich, was sie erlebt hat, um diese Geschichte immer wieder zu erzählen und daran zu glauben?
Im Nachklang zu „Das Loch“ sind mir diese Begegnung und das Gespräch darüber wieder eingefallen. Nüchtern erzählt Hiroko Oyamada aus der Ichperspektive der Erzählerin. „Ich bin mit meinem Mann hierher aufs Land gezogen“ (5), ist der erste Satz des Romans.
Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die ihre Arbeit in Tokyo kündigt und mit ihrem Mann in ein kleines Dorf, direkt in das Haus neben den Schwiegereltern, zieht. Ihr Mann arbeitet den ganzen Tag in einer neuen Firma. Außer gemeinsam hastig eingenommenen Mahlzeiten verbindet sie nichts. Auch ihre Beziehung zur Schwiegermutter oder zur Nachbarin ist unterkühlt. Einzig und allein zum dementen Großvater, der in der unerträglichen Sommerhitze stundenlang den Garten wässert, gibt es Blickkontakt und eine Verbindung ohne Worte.
Asa erzählt von den alltäglichen Dingen ihres erlebnisarmen Alltags in einem menschenleeren Dorf. Aufregend ist die Begegnung mit einem Tier, das sie noch nie zuvor gesehen hat. Sie folgt dem Tier ins Schilfgras nahe am Flußufer und fällt in ein Loch, aus dem sie sich nicht allein befreien kann. Die Nachbarin, zufällig auf demselben verschlungenen Pfad unterwegs, rettet sie. Abends erzählt Asa ihrem Mann von dem ungewöhnlichen Tier und Erlebnis. Ihr Mann rät ihr: „So ein Tier kann gefährlich werden, du solltest es lieber in Ruhe lassen. Auch das Loch“ (57) Asa aber fühlt sich nicht verstanden. Sie hofft, dem Tier noch einmal zu begegnen. An einem anderen sonnendurchfluteten Tag beobachtet sie mit Freude die planschenden und schwimmenden Dorfkinder. Auch hat sie immer wieder anregende Gespräche mit ihrem Schwager, dem Bruder ihres Mannes. Dieser wohnt verborgen und von der Familie verheimlicht in einer schlichten Gartenlaube auf einem verwilderten Nachbargrundstück.
Der äußerst nüchterne Stil von Hiroko Oyamada war für mich erst einmal gewöhnungsbedürftig. Auch die Ich-Erzählerin hat einen distanzierten, rein beobachtenden Blick. Das Visuelle überwiegt, das Emotionale kommt nicht vor. Der ganze Roman bleibt im Außen, blickt nicht in das Innere der Personen. Selbst der Tod und der Trauerritus im Haus der Schwiegereltern – der demente Großvater ist gestorben – setzen schon beim Lesen Patina an.
Im Laufe der Lektüre wird die Stimmung immer unheimlicher. Sie wird so unheimlich, dass ich das Buch unbedingt zu Ende lesen muss. Ich ahne etwas, aber ich weiß es nicht. Es muss etwas Schreckliches sein. Ein Geheimnis, das es zu lüften gilt! Oder ist es einfach nur die Fantasie des menschlichen Geistes, die Fähigkeit, sich Welten zu erschaffen, die uns die Tristesse des Alltags überwinden helfen? Oder verhindert der Tagtraum die Konfrontationen mit unserem eigenen Selbst, unseren Wünschen und Bedürfnissen? Was ist Traum und was ist Wirklichkeit? Wie halten wir die Wirklichkeit aus? Ich muss an C. denken, die die Geschichte ihres nah bevorstehenden Todes erfunden hat, um zu überleben. Ist es die Einsamkeit, die Asa in das Loch fallen lässt? Asa hat uns etwas zu erzählen, etwas sehr Menschliches.
Literaturverzeichnis
Adler, Helene: Miserere. Drei Texte, Verlag Jung und Jung, Stuttgart 2024; 3. Auflage
Baldwin, James: Nach der Flut das Feuer. The Fire Next Time, dtv Verlagsgesellschaft, München 2019, Neuübersetzung 2019 des Briefs von 1962
Carère, Emmanuel: V 13. Die Terroranschläge in Paris. Eine Gerichtsreportage, Matthes & Seitz Verlagsgesellschaft, Berlin 2023, 2. Auflage
Ernaux, Anni: Das andere Mädchen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
Hermann, Judith: Wir hatten uns alles gesagt, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2024
Knausgard, Karl Ove: Das dritte Königreich, Luchterhand Literatur Verlag, München 2024
Liksom, Rosa: Über den Strom, Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2024
Messina, Marion: Die Entblößten, Carl Hanser Verlag, München 2024
Mishol, Agi: Gedichte für den unvollkommenen Menschen, Carl Hanser Verlag, München 2024
Oyamada, Hiroko: Das Loch, Rowohlt Verlag, Hamburg, 2024, 2. Auflage
Roth, Josef: Hiob. Roman eines einfachen Mannes, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006
Ullmann, Regina: Gedichte, Leopold Classic Liberay, printed on demand, Original: Insel Verlag, Leipzig 1919
Vowinckel, Dana: Gewässer im Ziplock, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
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