„Der Blaue Reiter“ – Ein philosophisches Journal, Rezension von Christoph Fleischer, Fröndenberg 2025

Eine philosophische Halbjahresschrift

Wenn dieses Journal sich den Namen „Der blaue Reiter“ gibt, so greift es bewusst ein Motiv aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts auf. Das Motiv stammt aus dem Expressionismus, der der Kunst eine zeitgenössische Richtung gab. Doch woher das Motiv des Blauen Reiters genau stammt und wie es auf diese Zeitschrift anzuwenden ist, ist nicht einfach festzustellen.

Vielleicht passt noch am ehesten die Frage nach einer exakten Abbildung, die es für die Kunft nach der Entstehung der Fotografie nicht mehr geben kann. Es in der Kunst nichts mehr zu darzustellen. Daher mussten vielmehr Eindrücke gefunden werden. Ist Philosophie nicht auch eher Konstruktion als exakte Wissenschaft, und gibt somit die Pluralität der Gesellschaft wieder?

Wird ein philosophisches Thema behandelt, so wird es weniger um richtig oder falsch gehen als darum, die Facetten der Diskussion anzureißen. Als philosophisches Thema wird also hier ein Blick in das Konzept von Philosophie gewährt, nicht nur eine originalgetreue Abbildung gegeben. Hier soll es um Verantwortung gehen, ein sicherlich aktueller Begriff.

Der „Blaue Reiter“ genannt nach einem Bild von Wassily Kandinsky (1906)

In jedem Heft des „Blauen Reiters“ kommt die Kunst zu Wort. Künstler dieser Ausgabe ist Frank Nordiek aus Hannover. Auf dem vorderen Umschlag sind zwei farbige Abbildungen, im sonstigen Heft etliche Abbildungen in Grautönen. Weitere Graphiken beziehen sich auf die jeweiligen Artikel. Zusätzlich auch Anzeigen zu Literatur, zum Teil aus dem eigenen Verlag.

Aufbau der Zeitschrift: Inhaltlich differenziert und zugleich unterhaltsam

Wie jede andere Zeitschrift, so hält sich das Heft an einen bestimmten redaktionellen Aufbau. In der Rezensionsarbeit darf ich heute exemplarisch die aktuelle Ausgabe des Journals vorstellen.

Zunächst fällt das Format auf. Das Heft ist etwas größer als DIN A4. Passt also im Bücherschrank eher zu den Bildbänden.

Verantwortung heute

Der thematische Teil dominiert das ganze Heft. Ihm folgt je eine Umfrage, eine Kolumne, ein Lexikon mit vier Begriffen wie Erbsünde und Rache, dann „Unterhaltung“, ein Portrait, eine Presseschau, Rezensionen und das Impressum.

Ich greife ein Beispiel heraus: Unter Unterhaltung findet sich ein (fiktiver) Briefwechsel mit Lesern. Hier werden drei Fragen beantwortet (von „Dr. B. Reiter). Die letzte lautet z. B. „Warum sehen so viele Philosophen Religion kritisch?“ (S. 93) Die Antwort der Redaktion beginnt mit dem Satz „Philosophie beginnt genau da, wo Religion aufhört.“ (S. 93). Hier ist Religion intolerant und Philosophie tolerant (vielleicht abgesehen von Martin Heidegger, so die Meinung der Redaktion).

Philosophie heißt, sich eine eigene Meinung zu bilden

Zwischenfazit: Das Heft des Blauen Reiters fördert die eigenständige Auseinandersetzung mit einem philosophischen Thema, und lädt dazu ein, einen philosophisch begründeten Standpunkt zu vertreten. Die eigene Meinung ist dann reflektiert, aber nicht unumstößlich. Was oben zu Religion gesagt wurde, ließe sich auch auf Politik anwenden. Wie kann Verantwortung erprobt werden, wenn jeder recht hat?

Drei Beispiele des inhaltlichen Diskurses

Nach Dieter Birnbacher (Professor emeritus aus Düsseldorf) steht Verantwortung zwischen Vergangenheit und Zukunft, „die zwei Zeitrichtungen der Verantwortung“. Sie fragt nach Verantwortung „wofür“ wohl eher im juristischen Sinn und danach, was an Vorsorge nötig ist und welche Zukunft sich Menschen wünschen.

Paul Stephan (philosophischer Redakteur) zeigt exemplarisch zwei philosophische Auswege aus der Krise der Verantwortung zwischen Egoismus (nach Stirner) und der Selbstverantwortung (nach Nietzsche) auf. Eine Formulierung erinnert an Sören Kierkegaard, ohne ihn jedoch zu nennen: „Sobald ich überhaupt wähle, ein Selbst zu sein, muss ich auch wählen, Verantwortung zu übernehmen“ (S. 15)

Christina Schüess (Professorin, Lübeck) greift dazu ein Thema Hannah Arendts auf, die Bedeutung des Lebens. Für diese Philosophin ist die Geburtlichkeit der Grund für die Übernahme der Verantwortung. Der Weltbezug ist den Menschen also im Grund von Geburt an mitgegeben. Auch Emmanuel Levina wird hier einbezogen.

Weitere Aspekte von Verantwortung

Weitere Artikel seien hier nur kurz stichwortartig skizziert

  • Die Rolle des Wissens und der Wissenschaft (Dr. Otto Peter Obermeier, Philosoph und Mediziner)
  • Künstliche Intelligenz (Catrin Misselhorn, Professorin, Göttingen)
  • Schuld und Verantwortung (Jutta Heinz, Literaturwissenschaftliche Autorin)
  • Freiheit (Martin Booms, Professor, Alfter)
  • Armut (Dr. Valentin Beck, Direktor des Instituts für Global Value Inquiry, Berlin)
  • Andere oder Fremde (René Weiland, philosophischer Autor)
  • Selbstbestimmung nach Sokrates (Jörg H. Hardy, Professor, Georgien und Flagstaff, USA, Privatdozent, Berlin)
  • Moralische Verantwortung (Thomas Zoglauer, lehrt Philosophie in Cottbus und Stuttgart)

Verantwortung zwischen Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit

Die gegenwärtige Aktualität dieser Aufsätze ist offensichtlich, die Themenfelder durchaus unterschiedlich. Der Begriff der Verantwortung stellt sich als das vorrangige Aufgabenfeld der Gegenwart dar. Dass dazu auch Religion etwas zu sagen hätte, wird hier leider nicht in den Blick genommen.

Vom Schlechten des Guten, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025

Predigt über Prediger 7,15-18 zum Sonntag Septuagesimae 2025   

15 Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit. 16 Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. 17 Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. 18 Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen. (Luther 2017)                 

Liebe Gemeinde,

„Nur die besten sterben jung“ dröhnt es aus den Lautsprechern. Es scheint, als hätten die Böhsen Onkelz, eine Kultband um die Jahrtausendwende, die auf wummernde Rockmusik mit dumpfen Texten daherkam, beim Prediger Salomo abgeschrieben. Beobachtet der Prediger doch, dass gute, gerechte Menschen oft früher sterben als die bösen, die sich nicht an Gottes Gebote halten.

Die Böhsen Onkelz schreien es heraus, Zeile für Zeile, dass das Leben nicht gerecht ist. Es ist sinnlos darüber nachzudenken, warum es so ist.

Das Leben ist absurd, zufällig, unberechenbar. Mit diesem Lebensgefühl drücken die Böhsen Onkelz das aus, was im Prediger Salomo schon über 2000 Jahre vorher als Weisheit aufgeschrieben ist.

Alles ist eitel

„Alles ist eitel“ – übersetzt es Luther. Alles ist ein Nichts, ein Windhauch könnte man auch übersetzen. Diese Erkenntnis des Prediger Salomos ist verstörend und grenzt an Nihilismus, der Verneinung des Lebens und der Hoffnung, dass es sich lohnt, sich für das Gute einzusetzen. Da bleibt dann nur noch Resignation, oder?

Ist das Leben gerecht?

Es gibt keine Garantie, dass aus guten Handlungen ein gutes Leben folgen wird. Es gibt aber auch keine Garantie, dass aus bösen Taten ein schlechtes Leben folgt. Und wenn wir ehrlich sind: Ist das nicht auch unsere Erfahrung? Wieviel Menschen gibt es, die sich abrackern, die sich ehrlich bemühen, die wirklich Gutes wollen und doch auf keinen grünen Zweig kommen? Immer geht das Glück eine Tür weiter.

Von der Weisheit, des Guten nicht zu viel zu tun

Der Prediger Salomo geht sogar in seiner Analyse noch einen Schritt weiter. Er rät den Guten nicht zu viel des Guten zu machen. Der Prediger steht einem Aufstand der Anständigen skeptisch gegenüber. Wer sich auf der richtigen Seite wähnt, neigt dazu, andere radikal abzuwerten.

Wir alle kennen Menschen, die voller Überzeugung und mit gutem Beispiel vorangehen und entsprechend ihren ethischen Erkenntnissen moralisch „sauber“ leben. Sie trinken keinen Alkohol. Sie essen kein Fleisch. Sie fahren kein Auto. Sie fliegen nicht mit dem Flugzeug. Sie leben bewusst und gesund. Sie treiben viel Sport. Sie setzen sich für Minderheiten ein. Sie gendern, wie es gerade angesagt ist. Mit einem Wort. Sie sind perfekt und auf der Höhe eines fortschrittlichen Zeitgeistes. Sie wollen auf der richtigen Seite stehen, unbedingt, koste es, was es wolle. Dabei merken Sie nicht, wie sie sich und andere mit ihrer rigiden Moral schaden. Sie wollen oft gute Veränderungen, nehmen Minderheiten in den Blick, stellen sich auf die Seite der Ausgegrenzten, kritisieren Machtstrukturen und legen dunkle Kapitel der eigenen Geschichte offen und gleichzeitig sehen sie sich selbst als die besseren Menschen. Sie gehen in einen permanenten Klage- und Angriffsmodus über, canceln öffentlich Andersdenkende, werden zu Moral- und Sprachpolizisten. Ganze gesellschaftliche Schichten werden manchmal von einem Gerechtigkeitswahndiskurs erfasst, der bar aller Lebenspraxis ist. Da kann es schon einmal passieren, dass aus Friedensaktivisten über Nacht glühende Befürworter von Waffengattungen aller Art werden. Aus „Frieden schaffen ohne Waffen“ wird kurzerhand: „Frieden schaffen mit Waffen“. Jetzt zählt nur noch Stärke und Aufrüsten. Wer bestimmt eigentlich, was gut ist und was nicht?

Selbstgewählte Askese

Selbstgewählte Askese kann etwas Gutes sein. Sie kann sich aber auch schnell zu einer überheblichen Selbstgerechtigkeit entwickeln, die das Verhalten der anderen nur als schädlich und defizitär wahrnimmt. Dann wird aus einer vitalen Moral ein starrer Moralismus. Das kennen wir aus jeder Gemeinschaft und Gruppe, sei es in der Kirche, in politischen Parteien oder in Vereinen.

Dann ist man als Dieselfahrer der Sünder schlechthin; der Genussmensch, der gern ein gutes Stück Fleisch isst oder eine Zigarre qualmt und dem Wein zugeneigt ist: Ein unbeherrschter Fresser und Säufer. Vor allem, ein schlechtes Vorbild für Kinder, und jemand, der mit seiner Gesundheit fahrlässig umgeht. Gutsein sein heißt auf der richtigen Seite stehen, auf der anderen Seite sind die Bösen.

Gott als höchstes Gut?

Es gibt keinen Gott mehr als höchstes Gut, da muss der Mensch schon der bessere Gott sein (Homo Deus, Noah Harari) und mit gutem Beispiel vorangehen. Welch eine Überforderung, wenn der Mensch sich nicht mehr von Gott rechtfertigen und erlösen lassen will.

Der Prediger Salomo kritisiert das überhebliche Gutsein der Gutmenschen. Es schadet mehr als es nützt. 

Ethik statt Moralismus

Gleichzeitig brandmarkt der Prediger Menschen, die jegliches Maß einer guten Ethik und einer regelbasierten (Welt)ordnung hinter sich gelassen haben und leben, als gebe es nur sie selbst und ihre Bedürfnisse (oder die ihrer Gruppe). Sie achten nicht den Besitz und die Würde des anderen, sie übertreten Grenzen und Gebote, sie freuen sich diebisch, wenn ihr böses Treiben Angst und Schrecken verbreitet, sie achten nicht die Wahrheit und schließen jeden Pakt mit dem Teufel, solange es sich für sie rechnet. Kommen sie an die Macht, spielen sie mit Recht und Ordnung und Lüge wird in Wahrheit verkehrt.

Das rechnet sich aber nicht, hält ihnen der der Prediger vor. Sie bauen sich die Grube, in die sie fallen, selbst. Sie zerstören das Leben anderer und damit auch ihr Leben. Selbst wenn sie lang leben – und viele von ihnen leben länger als die Gerechten – sind sie doch Sklaven ihrer Bosheit, letztlich sind sie ein lebendiger Spiegel ihrer Gottlosigkeit.

Aber wenn alles im Leben eitel und ein Nichts ist, das Gute wie das Böse, und wenn dem Guten nicht zwangsläufig Gutes und dem Bösen nicht zwangsläufig Böses folgt – und wenn auch mit allem Einsatz für das Gute der Mensch das Ziel verfehlt und sogar verkehren kann, wenn also das Leben (dir) zeigt, es scheint egal zu sein, was du machst, es kommt sowieso anders als du denkst, woran soll sich der Mensch denn dann noch halten? Es ist dann doch alles egal – oder?

Ehrfurcht Gottes als Lebenshaltung

Der Prediger verfällt nicht in Resignation. Er nimmt das Leben wie es ist und kommt mit einer Antwort daher, die abständig erscheint angesichts seiner Erkenntnis: „alles ist eitel“. Seine Antwort ist so einfältig wie genial, weil sie trotz aller Vergänglichkeit und dem drohenden Nichts eine Orientierung bietet. Das Leben, das eine Mal schön und gut, das andere Mal bitter und böse, will gelebt sein in der „Ehrfurcht vor Gott.“  Selbst das Nichts, die Vergänglichkeit und der Tod werden dann in der „Ehrfurcht vor Gott“ gelebt. Die Furcht Gottes ist keine Furcht, die den Menschen erstarren lässt, sondern eine, die allem Irdischen Würde verleiht. Wir können nicht – und auch das ist Ehrfurcht vor Gott – hinter die Rätselhaftigkeit eines Planes Gottes (Vorsehung)) oder des Zufalls schauen. Die wahre Ehrfurcht Gottes verleiht Demut. Eine Demut, die sich in das Leiden der anderen und der gesamten Schöpfung einfühlt und das eigene oder fremde Schicksal nicht verurteilt oder gar unter Gottes Gericht stellt. Auch wenn es keine Garantie gibt, dass du empfängst, was du tust, hört ein Mensch, der sein Leben in Ehrfurcht vor Gott lebt, nicht auf das Gute zu suchen und zu tun. Der Mensch, der darum weiß, dass alles eitel ist und der gleichzeitig Gott die letzte Wirklichkeit sein lässt, achtet den anderen und sich selbst.

Ich schließe mit einem Gebet und Eduard Mörike:

„Herr, schicke was du willst. Ein Liebes oder Leides! Ich bin vergnügt, dass beides aus deinen Händen quillt. Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden mich nicht überschütten! Doch in der Mitte liegt holdes Bescheiden.“

Was hat Weihnachten mit Dantes Göttlicher Komödie zu tun? Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2024

Christvesper Predigt 2024     

eigenes Foto: Lürbker Weihnachtskrippe, Ausschnitt Verkündigung der Engel.

Sünd und Hölle mag sich grämen, Tod und Teufel mag sich schämen; wir, die unser Heil annehmen, werfen allen Kummer hin.  EG 39,2 Paul Gerhardt 1666

Liebe Gemeinde,

in Dantes Göttlicher Komödie gibt es eine Gruppe von Seelen, die weder in den Himmel noch in die Hölle kommen – die sogenannten „laueren“ Seelen. Diese sind diejenigen, die ein Leben der Unentschlossenheit und Gleichgültigkeit geführt haben, die weder im Guten noch im Bösen standhaft waren, sondern in einer Art neutraler Haltung verharrten. Sie sind für den Himmel unbrauchbar, weil sie nie die Entscheidung getroffen haben, sich für das Gute einzusetzen, und für die Hölle ungeeignet, weil sie nie wirklich Böses getan haben. Dante beschreibt sie als „die, die in ihrem Leben weder geliebt noch gehasst haben“, und ihre Strafe ist, dass sie auf ewig in einer Art existentiellen Leere gefangen sind, ohne Hoffnung auf Erlösung oder Befreiung. (Quelle: chat-gpt mit der Frage nach den lauen Seelen in der Göttlichen Komödie)

bloß nicht auffallen und ja nichts riskieren

Diesen Typus Mensch, weder Fisch noch Fleisch, bloß nicht auffallen und ja nichts riskieren gab es schon immer. Mir scheint, dass dieser Typus heute grassiert. Ich könnte ja etwas falsch machen, also mache ich es lieber gar nicht. Ich halte mich zurück in einer Gruppe, sage nicht, was ich denke, hinterher muss ich mich noch rechtfertigen, ich passe mich lieber an. Damit fahre ich gut im Leben. Ich suche nicht den Streit, die Auseinandersetzung. Das ist viel zu anstrengend. Ich bin am liebsten mit denen zusammen, die genauso denken wie ich. Und wer nicht so denkt, verschwindet mit der Zeit ganz von allein.

Beispiel: (Gedanken eines Gottesdienstbesuchers)

Es ist halt der Wunsch meiner Mutter, dass wir als Familie in den Heilig Abend-Gottesdienst gehen. Diese ganze museale Veranstaltung sagt mir zwar nichts, aber um des lieben Friedens willen, geh ich halt mit und besuche diese mittelmäßige Show. Irgendwie haben die Christen noch nicht begriffen, dass sie voll out sind, keiner kümmert sich mehr um sie, sie spielen keine Rolle mehr. Sie sind unglaubwürdig und haben mir nichts mehr zu sagen.

Dante bezeichnet die Lauen als „die, in ihrem Leben weder geliebt noch gehasst haben.“  Das ist doch eine interessante Beschreibung! Wie stehts mit dir? Hast du geliebt? Liebst du? Was fühlst du? Wie zeigt sich deine Liebe? Wird sie sichtbar? Wie wandelt sie sich? Es gibt viele Arten zu lieben.

Das Weihnachtsevangelium ist eine Liebesgeschichte

Eines der schönsten Liebesgeschichten ist für mich das Weihnachtsevangelium. Gott wird Mensch, nimmt unser Wesen an, wird ein hilfsbedürftiges Neugeborenes, um uns von Sünde und Tod zu erlösen.

Jesus ist dem ganzen zufälligen Leben ausgesetzt. Nichts ist planbar. O wie gern planen wir: geben dem Leben, dem Tag und dem Fest eine Struktur – und es hilft und doch ereignet sich das Entscheidende in den Zwischenräumen, geschieht einfach. Das Gespräch an der Weihnachtstafel oder im Restaurant oder während der langen Autofahrt zu den Verwandten am ersten oder zweiten Feiertag, bekommt durch eine Frage oder ein Erzählen eine andere Wendung, geht in die Tiefe, weil eine oder einer sich traut, etwas von sich zu zeigen und es in dem Moment gerade passt, auf Zuhören und Resonanz stößt, nicht in der Hektik des Alltags und der tausend Dinge, die noch zu planen sind, untergeht.

Wir brauchen solche Räume des Miteinanders, wo wir uns der Nähe und der Zuwendung der anderen versichern, wo wir spüren, hier bin ich wie ich bin angenommen, ich darf mich zuwenden und auch abgrenzen, ich darf hier mit meinen Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten sein. Das gelingt, wenn sich Vertrauen gebildet hat, wenn wir nicht auf unsere vermeintlichen Fehler festgelegt werden und wir den anderen Raum geben, ihr Wesen zu entfalten. Das gelingt, wenn wir die Zeit nicht vollstopfen und sich einstellende Leere aushalten, uns selbst spüren.

Jesus ist dem ganz zufälligen Leben ausgesetzt. Das beginnt schon mit seiner Geburt. Die vielen Krippenbilder von der heiligen Familie lügen alle. Wir haben Sehnsucht nach heiler Familie, die Krippenbilder sind Sehnsuchtsbilder. Sie halten ein Ideal fest, romantisieren ein Wunder, das in Bildern nicht festgehalten werden kann. Wenn es damals Selfies gegeben hätte, die Welt wäre voll davon und würde doch auf den tausenden von Selfies nichts erkennen. Das Entscheidende geschieht in der Begegnung. Wie immer im Leben. Auch im Glauben. Auch in der Begegnung mit dem Neugeborenen, der später der Erste sein wird, der den Tod überwunden hat, und der mit seiner Liebe die Sünde zugedeckt hat. Gewalt ist keine Option mehr. Versöhnung ist der Weg zum Frieden.

Weihnachten als unverfügbare Begegnung

Wenn aber Weihnachten vor allem eine Begegnung mit dem unverfügbaren Göttlichen ist und sich in geglückten Begegnungen ereignet, dann ist Weihnachten ein Resonanzgeschehen. „Wir, die unser Heil annehmen, werfen allen Kummer hin“, dichtet Paul Gerhardt im 17. Jahrhundert. Das ist eine doppelte Bewegung: annehmen und wegwerfen.

Ich nehme das Geschenk Gottes an und lasse dafür das Kreisen um mich selbst. (Selbsterlösung, Selbstoptimierung)

Ich spüre Gottes Liebe und übe mich in Liebe.

Ich lasse mich neu Werden und lasse Neues werden.

Ich lasse mich versöhnen und bin bereit zu versöhnen.

Ich bin aufgehoben und frei für andere.

Weihnachten als Resonanzgeschehen zu begreifen heißt, es nicht gleichgültig distanziert anzuschauen, sondern bereit zu sein, Gott und Mensch zu lieben, mehr noch: die ganze Schöpfung.

Gott gegenüber indifferent zu sein oder den Menschen gegenüber soviel Distanziertheit gegenüber zu bringen, dass sie prinzipiell austauschbar sind, dass ich mich ihnen nicht zumute, nichts von ihnen erwarte, oder mitfühle und Verantwortung übernehme, führt in eine existenzielle Leere, in ein Funktionieren um des Funktionierens willen, in ein gefühlsloses, erstarrtes Innen- und Beziehungsleben, letztlich in eine unmenschliche Welt.

Für diese „laueren Seelen“, die weder lieben noch hassen, gibt es kein Weihnachten, kein Licht, keine Hoffnung, keine Zukunft – nur eisige Kälte.

Für sie gibt es noch nicht mal nach Dante einen Zugang zur Hölle, weil selbst der Teufel nichts mit solchen Menschen zu tun haben will, die kein Feuer unterm Hintern haben.

Deshalb: Wenn wir schon die brennenden Kerzen vom Weihnachtsbaum entfernt haben, brennt für Gott und die Liebe!

Sünd und Hölle mag sich grämen, Tod und Teufel mag sich schämen; wir, die unser Heil annehmen, werfen allen Kummer hin.  EG 39,2 Paul Gerhardt 1666

 

„Und der Friede Gottes, welcher höher ist als allem menschliche Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem HERRN.“

Amen

Siehe auch:
Hans Conrad Zander: Warum es so schwierig ist in die Hölle zu kommen. Himmlische Komödien aus der Geschichte der Religion, Bonifatius Verlag, Paderborn 2022, 2 Auflage, Seiten 11 – 19

Niemand von uns stirbt für sich selbst, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2024

Foto: Niklas Fleischer (c), auf dem Ostfriedhof, Dortmund, Opfer eines Bergwerkunglücks

Predigt über Römer 14, 7+8, Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr 2024

Liebe Gemeinde,

Hans Fallada erzählt in seinem letzten Roman kurz nach dem zweiten Weltkrieg die Widerstandsgeschichte des Berliner Ehepaars Anna und Otto Quangel, die mit Flugblättern gegen die Naziherrschaft rebellierten. Sie fliegen auf und werden beide zum Tode verurteilt. Der Roman trägt den Titel: Jeder stirbt für sich allein.

Gleich wie die Umstände des eigenen Todes sein werden, wir wissen, unser eigenes Sterben kann uns niemand abnehmen. Da müssen wir allein durch.

Niemand von uns lebt für sich selbst – niemand von uns stirbt für sich selbst

Es geht um Zugehörigkeit.

Wohin und zu wem gehöre ich?

Niemand von uns ist ohne Geschichte und lebt in Beziehungen. Selbst wenn Menschen schon gestorben sind, stehen wir doch mit ihnen in einer Verbindung. Da ist ein innerer Dialog oder ein bildhaftes Erinnern, das uns stärkt oder mitunter auch irritiert. Auch die vielen Menschen – Singlehaushalte sind weit verbreitet – die allein in einer Wohnung leben, stehen in Beziehungen. Allein sein heißt nicht einsam sein. Aber: Einsamkeit greift um sich, wird zu einer unerträglichen Last für viele Menschen in unserer modernen Gesellschaft. Die Gründe sind vielfältig. Oft ziehen sich Menschen in sich selbst zurück nach Schicksalsschlägen oder familiären Konflikten. Sie verkümmern mehr und mehr, verlernen Beziehungen zu pflegen, haben jegliches Vertrauen in Menschen verloren, bewegen sich anonym in Straßen und Häusern.

Wohin und zu wem gehöre ich?

Wenn ich das nicht beantworten kann, wird es schwierig einen Sinn im Leben zu finden. Paulus Worte: Niemand von uns lebt für sich selbst weisen über das menschliche Beziehungsgeflecht hinaus. Seine Worte eröffnen eine spirituelle Dimension. Auch sie gehört zum Leben. Die spirituelle Heimatlosigkeit in unseren Breiten grassiert wie die Einsamkeit. Ob es da einen Zusammenhang gibt?

Für Paulus schenkt der Glaube an Christus eine doppelte Zugehörigkeit: Sie verbindet uns untereinander und mit Gott. Jesus sagt zu seinen Jüngerinnen und Jüngern: „Niemand kann euch aus meiner Hand reißen.“ (Johannes 10,28)

Das ist nicht nur ein Gedanke oder ein historischer Text, das ist eine Glaubenswirklichkeit bis heute. Deshalb kann Paulus den Römern schreiben: Niemand lebt von uns für sich selbst.

Wenn du zu Christus gehörst, bist du nicht allein. Alle können dich verlassen und zuletzt verlässt du dich in deinem Sterben selbst, aber selbst im Sterben gehörst du zu Christus.

Wohin und zu wem gehöre ich?

Am Donnerstagmorgen habe ich ein Gedicht im Radio gehört. Leider konnte ich es nicht recherchieren, aber es hat mich berührt. In eindrücklichen Bildern dichtet eine schwarze Österreicherin wie sie auf Gott bezogen ist. Sie sieht wie Gott mit seinem Pinsel den blauen Himmel malt, wie er den Wolken eine Gestalt gib und wie Gottes Pinsel ihre schwarzen Augen, ihren breiten Mund, ihre dunkle Haut malt. Das Gedicht ist eine Hymne auf den Künstler Gott, ein Lobpreis ihrer Schönheit. Es scheint als sei das lyrische Ich ganz einverstanden mit Gott und sich selbst. Da kann ihr von außen Rassismus entgegenschlagen. Sie gehört zu Gott.

Woher weiß ich, dass ich zu Gott gehöre?

Wenn deine Seele mit Gott in Verbindung ist, weißt du das. Du sprichst mit Gott, ob nun mit Worten oder in einem inneren Dialog, selbst wenn du schweigst oder tätig bist, schläfst, isst oder trinkst bist du mit Gott in Verbindung. Ob du krank bist, mit dir und deiner Laune zu kämpfen hast, du vor Freude vergehen könntest, dich Sorgen bedrängen – du gehörst zu Gott. Das macht dich nicht reicher, klüger oder glücklicher. Es ist, was es ist. Du kannst dich nicht anders denken oder sein.

Unser Glaube schenkt uns Zugehörigkeit, einen Fluchtort, Widerstandskraft, Furchtlosigkeit, Selbstlosigkeit, Freude, Sinn, Halt in großen Nöten und die Hoffnung auf einen Gott, der da rettet, heilt und verbindet, was verletzt ist.

Wohin und zu wem gehöre ich? Darauf gibst du Antwort mit deinem Leben.

Paulus hat an anderer Stelle von seinen Erfahrungen gesprochen: „Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit…und Ängsten“, weil ich zu Christus gehöre; „denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ (2. Korinther 12,10)

In seiner Schwachheit schaut Paulus auf Christus. Auf seine Kraft und Stärke. Christus macht ihn selbst in Schwachheit stark.

Wohin und zu wem gehöre ich?

„Niemand von uns lebt für sich selbst, niemand von uns stirbt für sich selbst. Leben wir, so gehört unser Leben dem Lebendigen. Sterben wir, so gehört unser Sterben dem Lebendigen. Ob wir leben oder sterben, wir gehören zum Lebendigen.“ (Römer 14,7+8 Bibel in gerechter Sprache)

Anmerkung zum oben zitierten Gedicht:

der künstler
heute morgen habe ich aus dem rahmen meines tensters geschaut und
das gemalde der wolken bewundert.
ich stellte mir Gott mit dem pinsel zwischen den fingern vor,
haue farhe
der spitze des pinsels tropfend
mit geschlossenen augen stellte ich mir Sein weißes, mit
verschiedenen, aber ahnlichen himmelsschattierungen beflecktes
gewand vor,
Seine sich bewegende leinwand würde sich mit iedem strich in einen
meisterwerk offenbaren.
ich konnte nicht anders, als mir den tag vorzustellen, an dem Er an
mich dachte
das lob am himmel als Er das tiefste kaffeebraun wählte mit dem Er
meine augen zierte
Er wusste
dass ich eine verkörperung Seiner freude sein würde.
und legte daher die breitesten lippen auf mein oesicht.
das weichste rouge auf meine wangen
und das dunkelste haar auf meinen konf
ich stellte mir vor wie Sein pinsel sich im einklano mit Seinem konf
neiote während er meiner haut einen weiteren braunton hinzufügte.
rosa von einem umgekippten glas wein auf meine lippen

Birthmarks von Precious Chiebonam Nnebedum, haymonverlag, Insbruck-Wien, 2022, S.200/201

 

 

Joachim Leberecht, Predigt: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig, Herzogenrath 2024

Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom, eigenes Foto

Predigt über 2. Korinther 3,6b am 20. So nach Trinitatis, 13. Oktober 2024

Liebe Gemeinde,

vor einigen Wochen habe ich bei feinschwarz.net einen theologischen Aufsatz gelesen, der mich bis heute beschäftigt. Ich will versuchen die Kernaussage des Artikels auf den Punkt zu bringen. Vorab erinnern wir uns.

Die drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und der Islam sind Buchreligionen. Die Heiligen Schriften sind die Urkunden ihres Glaubens. Wir Evangelischen haben durch die Reformation ein besonderes enges Verhältnis zur Bibel. Es ist das Wort Gottes.

Wie ist das Wort Gottes zu verstehen?

Wie aber ist das Wort Gottes zu verstehen? Buchstäblich? Ist Wort für Wort, das in der Bibel steht heilig und daher unbedingt zu befolgen?

Wir können hier – und da habe ich nicht schlecht gestaunt – vom rabbinischen Judentum lernen.

Neben der offenbarten Tora gibt es eine mündliche Tora, die sich im Laufe der Jahrhunderte in der rabbinischen Tradition herausgebildet hat und auch weiterhin lebendig ist. Die mündliche Tora legt fest, „ob ein Satz der Bibel im übertragenen Sinne, wortgetreu oder sogar wortwörtlich verstanden werden musste. Juden beschneiden Penisse aufgrund von Gen 17,12, nicht aber Herzen, obwohl Jer. 4,3 das vorsieht.“

Das mag uns direkt einleuchten. Wie aber – und damit wird es höchst aktuell –geht die rabbinische Tradition mit der vielfältigen alttestamentlichen Aufforderung um, die Feinde zu vernichten? Steht doch in der Tora, dass JHWH Israel hilft den Erzfeind Amalek durch Genozid auszurotten? Überhaupt streitet in der hebräischen Bibel, die wir Altes Testament nennen, Gott auf der Seite Israels und tötet Israels Feinde bis auf den letzten Mann. Erinnert uns das nicht an gegenwärtige israelische Kriegsrhetorik? Ja, die Vernichtung der Feinde hat eine lange biblische Tradition.

gelesen und gedeutet vom Leben her

Jetzt aber kommt die rabbinische Tradition ins Spiel. Sie stellt kompromisslos den Wert jeden menschlichen Lebens über die schriftliche Tora. Die heilige Tora wird gelesen und gedeutet vom Leben her, nicht vom Buchstaben oder Wortsinn. Auch wenn die mündliche Tradition darüber nachdenkt, welcher Krieg gerechtfertigt ist und welcher nicht, ähnlich unserer Lehre vom gerechten Krieg, dann in der Absicht Kriege einzudämmen. Für die rabbinische Lehre – nicht eines Rabbiners! – sondern eines breiten Stroms der Überlieferung steht fest: Es gibt „keinen zwingenden Krieg in der jeweiligen Gegenwart.“

Liebe Gemeinde,

Die Praxis der rabbinischen Tradition hat mich überrascht und war mir in dieser Dimension nicht bewusst. Das schenkt mir einen erhellenden Blick auf die jüdische Auslegungstradition und hilft mir selbst beim Lesen alttestamentlicher Texte.

Der jüdische Umgang mit der Bibel kann uns helfen, die Spannung zwischen geschriebenen Wort Gottes und dem Ringen um eine rechte, gute Auslegung im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes und dem Geist Gottes auszuhalten und für das miteinander Leben und Glauben fruchtbar zu machen.

Es war ja Luther selbst, der nach einer Gewichtung der Aussagen innerhalb der Bibel suchte und erst dadurch zu seiner befreienden Rechtfertigungslehre kam. Luther empfahl alles als Gottes Wort in der Bibel zu hören: „was Christum treibet.“

Dem Fundamentalismus und auch der Beliebigkeit ist nur zu wehren, wenn das eigene Lesen, Hören und Tun in einem lebendigen Austausch vieler geschieht.

Den Geist Gottes unter uns lebendig halten

Paulus formuliert im 2. Korintherbrief, dass das Leben der Christen ein Brief Christi ist, nicht mit Tinte geschrieben, „sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes.“ (2.Kor. 3,3b)

Vielleicht rechnen wir immer noch zu wenig mit dem Geist und halten uns lieber an toten Buchstaben fest. Wenn der Geist Gottes unter uns lebendig ist, werden wir Gottes Wort vernehmen und es wird ausrichten, wozu es gesandt ist: Leben zu fördern, wie es der Wochenspruch zusammenfasst:

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist. Nichts als Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Micha 6,8

Joachim Leberecht

https://www.feinschwarz.net/der-verschwundene-erzfeind-amalek/

Zitate aus dem Artikel vom 13. September 2024 auf feinschwarz