Predigt Christvesper 2022 in der Markuskirche, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

 

Krippe Franz Sales Haus, Essen, Detail

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden.“ (Lukas 2,14)

Liebe Heilig-Abend-Gemeinde,

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden“ (1) singt die Menge der himmlischen Heerscharen, lobt und preist Gott für die Geburt des Heilands der Welt. Zu Weihnachten gehört das Gloria, das Einstimmen in den Lobgesang der Engel, das Emporheben der Herzen, die Anbetung, die Freude, das Staunen. Ich will mir diese Weihnachtsfreude, dass Gott in Jesus zur Welt kommt, nicht nehmen lassen – trotz allem. Zu Weihnachten gehört das Gloria, aber auch das Kyrie: Weihnachten wirkt tiefer, wenn wir es nicht nur als oberflächliche Idylle erleben, sondern auch in die Abgründe blicken.

Weihnachten ist ein menschliches Fest

Weihnachten ist ein menschliches Fest, das einen göttlichen Ursprung hat. Die menschliche Sehnsucht nach Frieden findet im Weihnachtsfest eine Verdichtung und Zuspitzung, als hätte sich der himmlische Friedensgruß „Frieden auf Erden“ ins menschliche Gedächtnis verheißungsvoll eingenistet. Die Spannung – dass kein Frieden auf Erden ist – bleibt und ist Teil des Festes: das Schon-Jetzt – wir feiern Weihnachten und das Noch-Nicht: Frieden auf Erden.

Weihnachten ist ein Familienfest

Was heißt das für uns, die wir heute Weihnachten feiern? Weihnachten ist bekanntlich heute ein Familienfest. Schon das Narrativ der Heilige Familie facht, seit im frühen 4. Jahrhundert nach Christus Weihnachten zunächst schlicht im Gottesdienst zum Lob Gottes gefeiert wurde, die Familienidylle und die damit verbundenen Komplikationen an.

In der Regel freuen wir uns auf diese besondere intensive Zeit mit der Familie, auch wenn die Vorbereitung jede Menge Stress macht und wir fürchten, wieder nicht das richtige Geschenk besorgt zu haben für die Person, die doch so sehr auf unseren Liebesbeweis hofft. Ein wenig Enttäuschung ist schon im Fest eingepreist, aber wir müssen uns schon ordentlich zusammenreißen, dass es auch richtig schön wird und das Fest nicht kippt. Ach, immer diese Ambivalenzen, kann es nicht einfach mal nur schön sein?

Wer nicht bedürftig ist, braucht Weihnachten nicht

Je älter ich werde, desto mehr liebe und fürchte ich Weihnachten. Ich liebe es mit der Familie zusammen zu sein, ich fürchte aber auch bei aller festlichen Kleidung mein Nacktsein, diese besondere Verletzlichkeit über den Weihnachtstagen: das Festgelegt-Sein auf bestimmte Rollen, das Aufbrechen von schmerzhaften Brüchen meines Lebens, aber auch das Gefühl des Überfordert-Seins, dass ich mehr bei den anderen bin und mich gar nicht mehr recht spüre.

Es tut mir gut, mich dann an die Weihnachtsbotschaft zu erinnern. Mein Frieden ist mir durch Gott geschenkt und nicht von meinen Stimmungen oder Bemühungen abhängig. Der Frieden, den mir Gott schenkt, ist durch nichts gefährdet. Daher entfaltet die Weihnachtsbotschaft ihre größte Kraft und Freude bei denen, die bedürftig sind. Wer nicht bedürftig ist, braucht Weihnachten nicht – und wer Gottes nicht bedürftig ist, versteht den Sinn des christlichen Weihnachtsfestes nicht.

Ich nehme wahr: Meine Verletzlichkeit, mein Nackt-Sein über die Weihnachtstage korrespondiert mit der Verletzlichkeit des hilfsbedürftigen Kind Gottes in der Krippe und darf sein, ist vielleicht sogar fruchtbar und heilsam, da ich mit meinen Bedürfnissen in Berührung komme. Wenn Gott schon (zunächst) hart am Holz der Krippe aufschlägt, schutzbedürftig wird, wieviel mehr darf ich menschlich sein mit allem was dazugehört, besonders der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Wie sehr darf ich aber auch Vertrauen wie ein Kind und gewiss sein: Ich bin angenommen.

Weihnachten heißt einander Frieden wünschen

Ach, ihr Lieben, wir wissen es doch: Es geht an Weihnachten nicht um Perfektion, nicht um das Abspalten von Gefühlen, nicht um einen romantisch-kitschigen Familienfrieden, sondern um Annahme, um Sein-Dürfen, dass wir uns einander in die Augen schauen und einander Frieden wünschen, ja wieder miteinander Frieden schließen, unser Verhältnis erneuern oder zumindest die Kraft spüren, die wir einander schenken, dass wir zusammenstehen, dass wir zusammen gehören, selbst wenn uns wesensmäßig Welten oder in echt hunderte von Kilometern trennen. Weinachten ist immer wieder Aufbruch, Erneuerung hin zu Versöhnung und Frieden, auch mit der eigenen Lebensgeschichte, vielleicht sogar ein Einstimmen in das, was unverfügbar ist, was wir gar nicht annehmen wollen, was aber so viel Kraft bindet und ein bejahendes Leben verhindert.

Jedenfalls gehen diese manchmal für nicht mehr möglich gehaltenen Wunder von Gott mithilfe des Festes aus. So hält Gott uns die Hand hin, dass Frieden werde.

Weihnachten reicht in die Gemeinschaft der Völker hinein

Der Frieden aber, den Gott uns an Weihnachten hinhält, geht weit über die Familie hinaus, reicht in die Gesellschaft und in die Gemeinschaft der Völker hinein.

Kennen Sie die Erzählungen von Weihnachtsfesten an der Front im ersten Weltkrieg, wo belgische, englische und deutsche Soldaten ihre Waffen in den Schützengräben liegen ließen und stattdessen Zigaretten, Baguette und Wein miteinander teilten? Nach den Weihnachtstagen wurden ganze Einheiten von ihren Befehlshabern von der Front abberufen, denn sie wollten nicht mehr töten. Die Kampfesideologie und das sinnlose Töten wurden durch die menschlichen Begegnungen unterlaufen. Ja, Gott „stürzt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ (Magnificat)

Werden die Waffen schweigen?

Das orthodoxe Weihnachtsfest naht am 6. Januar. Werden da die Waffen auf beiden Seiten in der Ukraine schweigen? Wird unser westliches Weihnachtsfest und das orthodoxe Weihnachtsfest mit dem göttlichen Friedensgruß: „Frieden auf Erden“ noch Widerstand bei den Soldatinnen und Soldaten gegen das sinnlose Töten mobilisieren und die verstockten Herzen der Herrschenden zur Waffenruhe bewegen? Zu einer Waffenruhe, die den Boden bereitet zu ernsthaften Friedensverhandlungen aller beteiligten Kriegsparteien?

Dieses Weihnachtsfest führt uns mehr denn je vor Augen, wie zerrissen Europa ist. Weggucken und Wegducken helfen da nicht. Einzig und allein hilft dem anderen Frieden zu wünschen. Ist das nicht zusammengefasst die Botschaft, die Jesus von Nazareth gelebt hat?

Wir können heute und über den Weihnachtsfestkreis hinaus, uns mit unseren Gebeten und unserer Haltung für Frieden(sverhandlungen) einsetzen.

Lasst uns trotz und in allem kräftig und freudig feiern und einstimmen in das Lob der Engel:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden.“

Amen

1 Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden

Sprachlich und vom antiken Denken her ist das einfach ein Gruß, gewiss ein besonderer Gruß, ein performativer Sprechakt, der bewirkt, was er aussagt und den Frieden auf Erden bringt. Gott kommt in guter Absicht und wünscht der Erde nichts sehnlicher als Frieden. Mit der Erde ist mehr als die Menschenwelt gemeint, Frieden auf Erden kommt zu der gesamten Schöpfung. Himmel und Erde werden spirituell unterschieden und sind aufeinander bezogen. Das können wir – selbst wenn wir dem antiken Weltbild und seinem Denken nicht mehr angehören – verstehen, beten wir doch mit Jesus im Vater unser: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“  Auch wenn der Himmel nicht in irgendwelchen Schichten des Weltalls zu lokalisieren ist und auch der himmlische Vater nicht mit Rauschebart über den Wolken thront, haben wir mit unserem „schwachen Glauben“ Zugang zu der Wahrheit des Himmels und der göttlichen Wirklichkeit.

Die Heilung eines Kindes – eine Vater-Sohn Geschichte, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

Predigt über Markus 9,17-27 

„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ (1. Joh 5,4)

Liebe Gemeinde,

„Wenn es noch eine Chance gibt für meinen Sohn, dann jetzt“, denke ich spontan und schleife meinen widerwilligen Sohn vom Streitgespräch weg hin zu Jesus: „Lehrer, mein Sohn ist von einem bösen Geist besessen. Er hat ihn stumm gemacht und manchmal wirft er ihn zu Boden, dann hat er Schaum vor´m Mund und krampft.“

Meine eigene Stimme hört sich blechern an, zu oft schon habe ich diese Sätze gesagt, musste mich erklären vor anderen, schämte mich in Grund und Boden für meinen Sohn. Wie ohnmächtig bin ich, wie ich gar nichts ändern kann, wenn eine fremde Macht meinen Sohn hin- und herwirft; das Tuscheln der Nachbarn, die mich voller Mitleid ansehen, klingt mir noch in den Ohren, wie habe ich das alles satt. Wie um alles in der Welt bin ich gestraft mit diesem Sohn, gestraft mit meinem Leben. Wie anders habe ich mir alles vorgestellt. Auf den ersten Blick ist alles normal mit meinem Sohn, manchmal ist er etwas abwesend und in sich versunken, aber „normal“. –  Doch von Normalität – was ist das schon: von „normal sein“ – kann keine Rede sein.

Mein Sohn kann nicht sprechen, er kann nicht hören…und ich kann es nicht mehr hören wie er zum Gerede wird!

Jetzt schon wieder. Die Schüler von Jesus konnten ihn nicht heilen und streiten heftig mit den jüdischen Gesetzeslehrern. Jeder ist „besessen“ von seiner Ansicht. Überall dieser Streit, wo ich mit ihm auftauche, ich kann´s nicht mehr ertragen. Ich mag mein Leben nicht mehr, da ist so viel Unruhe und tiefer Groll in mir…Ich hasse meinen Sohn – o nein, das darf ich nicht denken…

Die Tränen meiner Frau versiegen nicht und ich komme mir bloßgestellt vor, habe meine Ehre, habe meinen Glauben verloren an das Gute im Menschen. Ausgesondert sind wir durch ihn. Er darf nicht mit in die Synagoge, weil er „besessen“ ist, sagen sie. Ja, eine Macht ergreift ihn, vor der wir machtlos sind – aber er ist unser Kind, mein Sohn. Nur noch aus Sorge besteht unser Leben. Ich bin auch wie gelähmt, funktioniere nur noch.

Hey, und dieser Rabbi, warum schimpft er jetzt? Meint er mich? Meint er seine Schüler? Meint er uns alle? Was sagt er: Wir hätten keinen Glauben? Wie meint er das? Ja, mein Glaube ist am Boden, das stimmt, ich habe keinen Glauben mehr. Soll ich mich jetzt auch noch schuldig fühlen, dass mein Glaube mir abhandengekommen ist? Nein, nein, nein. Das muss erst mal einer durchgemacht haben, was ich durchgemacht habe.

Was denke ich da?

Kann ich das nicht auch anders hören, was Jesus sagt? Hat dieser Rabbi nicht recht, dass wir uns alle schwer tun mit Glauben und Vertrauen? Heißt das nicht, dass wir uns selbst nicht mehr vertrauen, nicht den anderen, nicht dem Gott unserer Väter und Mütter?

Ja, mein Vertrauen hat ganz schön gelitten. Mein Selbstvertrauen ist weg, Argwohn hat sich in mir eingenistet. Hinter allem vermute ich eine böse Absicht. Ich bin genau wie die Pharisäer, die hinter allem nur das Böse am Werk sehen und ich bin auch wie die Jünger, die es nicht hinkriegen, deren Glauben, wenn ihr Meister nicht in der Nähe ist, schmählich versagt.

Ich sehe meine Frau kritisch: hinter allem, was sie tut und sagt, sehe ich, dass sie sich von mir distanziert, mehr noch, dass sie mir die Schuld gibt an unserem missratenen Sohn. Anstelle von Liebe nur noch Angst.

In ihrer Familie sei so etwas noch nicht vorgekommen… Verdammte Schuld, verdammtes Misstrauen…

Ganz schön einsam bin ich geworden und traurig, fühle mich nicht mehr mit meiner Frau verbunden, auch nicht mit meinem Sohn. Ich lehne ihn unbewusst ab. Ich traue ihm nichts zu, ich vertraue ihm nicht. Ständig kontrolliere ich ihn, ständig mache ich mir Sorgen und bringe Unruhe in die Familie.

„Was ist das jetzt?“ Da nimmt mir jemand meinen Sohn weg und stellt ihn näher zu Jesus.

O, und jetzt kriegt er wieder einen Anfall. Vor allen Leuten. Warum nur jetzt?

 „Von klein auf“, höre ich mich sagen. Die Frage holt mich wieder in die Gegenwart zurück, ich spüre wie sich meine Zunge löst, ich einen festen Stand bekomme, mich innerlich mit einem Atemzug aufrichte und klar und deutlich sage: „Es ist als wenn meinen Sohn eine fremde Macht ergreift, er ist dann fremd gesteuert, wird ins Feuer geworfen oder ins Wasser getrieben, dann geht es um Leben und Tod…“, und leise mit gesenkter Stimme:

„Wenn du kannst, dann hilf uns doch! Hab Erbarmen mit uns!“

„Was heißt hier, wenn du kannst“, sagt Jesus. „Wer glaubt, kann alles!“

Stille – Wie, was meint der Rabbi? Was meint er mit: „Wer glaubt, kann alles.“ Warum dreht er das Ganze um? Liegt es etwa an meinem Glauben, das kann doch nicht sein! Ich dachte immer, ich müsste den anderen zutrauen, dass sie die Macht haben zu helfen. Daran habe ich geglaubt und bin so oft enttäuscht worden. Kann es denn wirklich sein, dass auch mein mangelndes Vertrauen meinen Sohn hin- und herwirft, dass mein Misstrauen mich von allen abschneidet? Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Das kann ich nicht zulassen. Alle meine Mühen, alle meine Sorgen haben ihm nicht geholfen?

Wie schön wäre es, mein Leben mit meinem Sohn wieder anders zu sehen, wie schön wäre es zu glauben, dass alles einen Sinn hat, wie schön wäre es, das Gefühl zu haben, ich muss mich nicht ständig mühen und überfordern, ich darf einfach glauben… und doch, ich kann es nicht. Die Realität sieht doch anders aus. Das ist doch meine leidvolle Erfahrung. Von diesem Glauben wird doch mein Sohn nicht gesund – oder?

Was ist das, es kommt aus mir von ganz unten, plötzlich schreie ich es aus mir heraus:

„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“

Stille

Das ist die Wahrheit. Nie war ich ehrlicher als jetzt – es fühlt sich gut an, ganz richtig. Vielleicht ist das mein Glaube wie ich ihn ausdrücke für mich und meinem Sohn. Ja, ich will vertrauen. Ich will ihn ganz Gott überlassen und ich merke wie gut es tut, loszulassen, Gott zu vertrauen – wie der Rabbi Jesus das in mir bewirkt hat ist schon allein ein Wunder und etwas ganz Besonderes: Wie Jesus das verschüttete Vertrauen in mir freigelegt hat, wie ich nicht länger Opfer von fremden Mächten bin, wie ich selbst ohnmächtig immer noch glauben darf – und auch menschlich zweifeln darf.

„Ja, Herr, hilf meinem Unglauben auf, dass der Glaube überhandnimmt, dass ich vertraue trotz allem.“

Dann stehe ich da wie in Trance, es ist so als hätte Gott mich berührt und hätte eine Art Blockade in mir gelöst. Was dann geschieht, nehme ich nur noch schemenhaft wahr.

Jesus treibt die fremde Macht aus meinem Sohn aus. Danach liegt er wie tot auf dem Boden, mich aber erschreckt das nicht, es ist, als würde ich in diesem Moment alles wissen, und egal wie es ausgeht, es ist gut. Ich fühle mich von der Welt empfangen und Gott sehr nah.

Dann sehe ich, wie Jesus meinen Sohn bei der Hand nimmt und ihn aufrichtet.

Mein Sohn darf leben und ich auch. Ich habe mein Vertrauen wieder gefunden – wie wunderbar.

Amen

Predigt Römer 6,3+4, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

 über Römer 6,3+4, Die kostbare Perle,  6. Sonntag nach Trinitatis

3 Ihr wisst doch: Bei unserer Taufe wurden wir förmlich in Christus Jesus hineingetaucht. So wurden wir bei der Taufe in seinen Tod mit hineingenommen. 4 Und weil wir bei der Taufe mit ihm gestorben sind, wurden wir auch mit ihm begraben. Aber Christus ist durch die Herrlichkeit des Vaters vom Tod auferweckt worden. Und genauso sollen auch wir jetzt ein neues Leben führen. (Basis Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2010, Römer 6,3+4)

 

Liebe Gemeinde,

heute möchte ich Sie mitnehmen zu einem Besuch der documenta fifeteen in Kassel. Wir besuchen gemeinsam die katholische Kirche St. Elisabeth. Die Gemeinde hat die Künstlerin Birthe Blauth aus München beauftragt, die Kirche zu gestalten. Es geht mir nicht um das Konzept der Künstlerin, sondern ich lade Sie ein zu einer Art Phantasiereise in den von der Künstlerin gestalteten Kirchraum. Später wird das Geschaute mit den Paulusworten zur Taufe in Beziehung gesetzt. Wenn Sie mögen und es Ihnen hilft, schließen Sie bei unserer Reise die Augen und stellen Sie sich vor, Sie sind mit dabei.

Sie stehen mit einer überschaubaren Gruppe auf dem großen Vorplatz, einer der weiten öffentlichen Plätze der documenta mitten in Kassel. Der große Platz ist leer, es scheint die Sonne und es weht ein leichter Wind. Sie gehen mit der kleinen Gruppe in Richtung Elisabethkirche. Von weitem sehen sie den Kirchturm. Er ist nicht geschlossen, sondern offen. Auf dem Kirchturm ist ein Kreuz zu sehen.

Wir kommen näher und überqueren eine Straße, die nicht viel befahren ist. Rechts von der Kirche liegt eine Straße auf der der Verkehr nur so braust. Autos fahren an und fahren weiter in die Stadt hinein. Menschen gehen über die Fußgängerampel. Von rechts drängt der Lärm der Stadt in die Ohren.

Vor uns baut sich die schlichte, moderne Kirche auf. Wir gehen drei Stufen hoch, um auf den Vorplatz der Kirche zu gelangen. Unsere Augen suchen die Eingangstür. Sie bewegen sich auf die dunkle Tür zu. Sie gehen den anderen hinterher durch die Tür. Hinter der Tür ist es dunkel. Ihre Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Vor einem Tisch stehen drei Menschen. Einer flüstert, bitte ziehen sie ihre Schuhe aus, bevor sie in den Kirchraum gehen. An der Rückseite des dunklen Raums erkennen Sie ein Schuhregal. Sie ziehen ihre Schuhe aus, verstauen sie in einem Fach des Regals. Bevor sie in den Kirchraum eintreten, bekommen sie von einer weiteren Person einen kleinen Zettel. Der schwere schwarze Vorhang wird für Sie bei Seite geschoben. Sie gehen in den Kirchraum und während sie den ersten Schritt auf ein weiches Grün machen, lesen Sie auf dem kleinen Zettel. Bitte schweigen Sie an diesem Ort. Sie dürfen sich, bevor sie die Kirche verlassen, eine Perle aus der Schale mitnehmen.

Sie gehen tiefer in den Kirchraum hinein. Der ganze Kirchraum ist vollkommen leer, nur mit Rasen ausgelegt. Sie spüren das Gras unter ihren Füßen. Von den beiden Außenseiten mit großen Glasflächen fällt Licht in die Kirche. Sie sehen Menschen. Manche gehen langsam über die Wiese, anderen haben sich hingesetzt oder hingelegt. Sie schauen nach einem Platz, wo sie sich hinsetzen können. Sie setzen sich aufs Grün und lassen den Kirchraum auf sich wirken. Es ist still. Der Lärm der Straße ist nicht mehr zu hören. Sie atmen ein und aus und fühlen sich geborgen. Die Ruhe tut gut. Sie schließen die Augen und sind eine Zeit lang ganz für sich. Dann nehmen Sie wieder den Raum und die Menschen um sich herum wahr. In der Mitte des Kirchraums steht eine große Schale. Aus der Schale leuchtet es weiß. Ein Mensch kniet vor der Schale und fährt mit seinen Händen durch das Weiß. Dass werden Perlen sein, denken sie. Wie kommt es, dass sie so leuchten? Sie nähern sich langsam der Schale. Die Perlen leuchten wunderschön. Es sind tausende von weißen Perlen. Sie knien sich nieder und fahren mit der Hand durch die weiße Pracht. Dann tauchen Sie mit der Hand noch einmal in das Weiß ein, lassen die Perlen langsam in die Schale rieseln und von den letzten vier, fünf Perlen auf ihrer Handfläche suchen Sie eine für sich aus. Sie halten sie zwischen Daumen und Zeigefinger und freuen sich. Mit der Perle verlassen Sie langsam den Kirchraum – und öffnen jetzt wieder die Augen und kommen hier in unseren Kirchraum/Gottesdienstraum wieder an.

 

Du bist getauft. Du bist mit Christus durch das Dunkel hindurchgegangen. Du hast die Dunkelheit hinter dich gelassen und in dir ist ein Raum der Stille und Begegnung mit Gott. Zu diesem Schatz hast du jederzeit Zugang. Mit der Taufe grünt ein unvergängliches Leben in dir. Du bist geschützt, geborgen, gerettet. Christus hat dich mit seinem Tod teuer erkauft. Das Leben leuchtet weiß. Christus ist deine Perle. Dieser Schatz lebt und leuchtet in dir. Vor diesem Licht kann nichts bestehen, was dieses Licht verdunkelt. Kein Leid, kein Schmerz und kein Tod. Wie ein Sandkorn in einer Muschel mit Schichten ummantelt wird und zu einer kostbaren Perle heranreift, so hat Christus für dich das schlechthin Fremde – den Tod – umschlossen und in Leben verwandelt. Seine Auferstehung lebt seit deiner Taufe als kostbares Gut in dir. Du bist mit Christus in der Taufe den Weg vom Tod ins Leben gegangen.

Wir verlieren den Zugang zu der Perle in uns immer wieder. Aber wir können uns immer wieder, zu jeder Zeit und an jedem Ort, diesem Schatz in uns zuwenden. Diese Reise zu Christus in uns nennen wir glauben: Ein großes Vertrauen in den Gott unseres Lebens. Daraus wächst die Kraft das Leben und die Welt zu gestalten.

Hinabsteigen, Zeiten der Dunkelheit durchschreiten, um ins Licht zu kommen, um beschenkt zu werden: das ist Glauben. Das Neue, das Kostbare, das Schöne lebt in uns, daher lasst uns das Falsche, das Niederträchtige, das Unechte ablegen.

Amen

Joachim Leberecht

Link:

www.bblauth.de

www.st-elisabeth-kassel.de

Ist der Weg der Gewaltlosigkeit Jesu ein Weg für die Kirche? Karfreitagspredigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

 

Predigt über den Albtraum der Frau des Pilatus (Mt 27,19)

 

Und als er (Pilatus) auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen.“ (Matthäus 27,19)

 

Liebe Gemeinde,

die schwedische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf hat Christuslegenden gesammelt, aufgeschrieben und erstmals 1904 veröffentlicht. In der Legende über das Schweißtuch der heiligen Veronika erzählt sie – bis heute spannend – von einem Albtraum, den Claudia Procula, Pilatus’ Frau, geträumt hat. Ich zitiere ein Bild des Warntraums:

Der römische Landpfleger zu Jerusalem hatte eine junge Frau und diese träumte in der Nacht … einen langen Traum. Ihr träumte, sie stehe auf dem Dach ihres Hauses und sehe auf den großen schönen Hofplatz herunter, der nach morgenländlicher Sitte mit edlen Gewächsen bepflanzt war. …

Und es standen dort alle Menschen der Erde, die in Kriegen verwundet worden waren. Sie kamen mit verstümmelten Leibern und mit tiefen, offenen Wunden, aus denen Blut rann, so daß der ganze Hof davon überflutet war. Und neben ihnen drängten sich dort all jene Menschen der Erde zusammen, die ihre Lieben auf den Schlachtfeldern verloren hatten. Es waren die Vaterlosen, die ihre Beschützer betrauerten, und die jungen Frauen, die nach ihren Herzliebsten riefen, und die Mütter, die nach ihren Söhnen seufzten.

Die Vordersten drängten sich nach der Tür hin, und wie zuvor kam der Türhüter und öffnete.

Er fragte all diese im Kampf und Streit Verwundeten: „Was sucht ihr in diesem Hause?“

Und sie antworteten: „Wir suchen den großen Propheten von Nazareth, der Krieg und Feindschaft abschaffen und den Frieden auf Erden bringen wird. Wir suchen ihn, der die Schwerter zu Sensen umschmieden wird und die Speere zu Winzermessern.“

Da antwortete der Sklave ein wenig ungeduldig: „Kommt nun nicht mehr wieder, mich zu plagen! Ich habe es Euch schon oft genug gesagt: Der große Prophet ist nicht hier. Pilatus hat ihn getötet.“

Dann schloss er das Tor. Doch sie, die träumte, dachte an all den Jammer, der nun laut werden würde. „Ich mag ihn nicht hören“, rief sie und stürzte von der Balustrade fort. In demselben Augenblick erwachte sie. Und nun merkte sie, daß sie vor Angst aus ihrem Bett gesprungen war und auf dem kalten Steinboden stand. (S.91/92)

 

So weit ein Ausschnitt aus der Christuslegende. Claudia Procula schreckt aus ihrem Albtraum auf und will gar nicht mehr einschlafen, weil sie vom Wehklagen der Kriegsverletzten und den Klagen um ihre Angehörigen erschüttert ist. Es hallt in ihr nach, wie sie nach dem Erlöser Jesus rufen. Aber Jesus ist tot. Ihr Mann Pilatus hat ihn getötet.

Sie kann den Albdruck auf ihrer Brust nicht aushalten, sie weint bitterlich über die Schuld ihres Mannes, über die zerplatzte Hoffnung der Geplagten.

Jesus, der Mensch Gottes, ein Prophet, ein Heiler, ein Gerechter ist tot: Güte, Wahrheit und Vertrauen haben verloren.

Das ist die Zeitenwende. Jetzt gilt es wieder und ganz entschieden nach Stärke zu streben, auf Angst zu setzen, sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen und einzusehen, dass der Feind mit allen Mitteln zu bekämpfen ist und gerade nicht wie Jesus gelehrt hat, den Frieden zu suchen, zu versöhnen und zu heilen. Sein kurzes öffentliches Auftreten und Wirken waren umsonst.

War das alles nur ein kurzes Aufflackern eines Lichtes, nicht mehr als eine Fata Morgana? Folgten nicht viele diesem Menschen Jesus von Nazareth? Gab er ihnen nicht Hoffnung? Verkündigte er nicht, dass Gott verliebt ist in gelingendes Leben? Nahm er ihnen nicht die Grundangst, zu kurz zu kommen, ständig bedroht zu sein, Gott nicht zu genügen? Hob er nicht immer wieder den Blick gen Himmel, war er nicht voller Gottvertrauen, zog er nicht den Himmel auf die Erde, versicherte er nicht glaubhaft, dass sein Vater im Himmel für seine Kinder eine Wohnung im Himmel bereitete, wo sie ewige Heimat finden würden (Johannes 14,2)? Ist mit seinem Tod jetzt nicht auch alle Hoffnung gestorben?

Sein Tod ist unser Tod. Viele dachten, eine neue Zeit sei angebrochen, was für eine Illusion! Niemandem hat Jesus Gewalt angetan, mit Wahrheit hat Jesus die Menschen konfrontiert, die politisch Herrschenden wie die religiös Mächtigen, seine Anhängerinnen und Anhänger hat er Frieden gelehrt. Aber es hat ihm nichts genutzt. Verlacht und verspottet haben sie Jesus, er sei ein Verrückter, der von einer neuen Zeit und einem radikalen Glauben faselte, dessen Aura Spontanheilungen bewirkte, der die Menschen in die Irre führte, der in Wahrheit Gott lästerte und dessen Lehre bestehende Gesetze und die Ordnung auflöste. Jesus, in Wirklichkeit ein Anarchist? Schlimmer noch, ein Vorgaukler von religiösen Hoffnungen, die an der Realität platzen wie Seifenblasen?

Von einem Tag auf den anderen scheint friedensbewegtes Denken und Handeln von gestern. Deutsche Waffen werden in die Ukraine geliefert, damit diese sich verteidigen kann. Die Ukraine, ein Kriegsgebiet, das die Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzt hatten. Im Zweiten Weltkrieg tötete die Wehrmacht über 20 Millionen russischstämmige Menschen, vor allem Zivilisten. Jetzt werden mit Hilfe deutscher Waffen wieder Russen getötet. Nach den sogenannten leichten wird jetzt ungeniert gefordert, dass schweres Kriegsgerät in die Ukraine geliefert werden soll. Wo soll die Spirale der Eskalation hinführen? Es wird nicht auf Deeskalation, es wird auf Krieg gesetzt. Der Traum von einem friedlichen Europa ist jäh geplatzt. Reflexartig wird zu den Waffen gegriffen. Rhetorik und Berichterstattung heizen den Krieg an. Es gilt nicht mehr politisch Sicherheit abzuwägen, sondern sich einzig und allein zu vergewissern, dass moralisch jetzt die Waffen sprechen müssen! Alternativen werden erst gar nicht mehr bedacht. Ein Armutszeugnis. Die deutsche Waffenindustrie reibt sich die Hände – 100 Milliarden Euro Sondervermögen stehen bereit. Wirtschaftsaufschwung einmal anders. Dabei ist die verhängnisvolle Liaison von Geld und Krieg bekannt. Die gesamte Konfliktforschung und Aufarbeitung der letzten beiden Weltkriege werden machtpolitisch ad acta gelegt. Wir sind nicht verantwortlich, wir waschen uns in Unschuld die Hände. Wir tun nur das, was die Sicherheitslage erfordert und die Mehrheit der Bevölkerung will.

Von all den zerplatzten Hoffnungen der einfachen Menschen in Galiläa und Judäa hatte die Nichte des Kaisers Tiberius, Claudia Procula, nicht viel gewusst. Sie diente und verehrte die römischen Götter, glaubte an die friedensstiftende Pax Romana. Sie sah sich zurecht oft bedroht durch die vielen Unruhen in Jerusalem, schätzte das verantwortliche Handeln ihres Mannes und Präfekten Pilatus, der besonders vor dem Passahfest unter Anspannung stand, weil die Gefahr bestand, dass Eiferer das Volk aufwiegelten, es zum Umsturz, zu blutigen Kämpfen kommen könnte.

Vor Pilatus Richterspruch über Jesus träumt Claudia Procula ihren irritierenden Traum. Natürlich glaubt sie, dass die Götter in Träumen zu den Menschen sprechen. Aber noch nie hatte sie einen derart aufwühlenden Traum gehabt. Sie hatte auch kein besonderes Herz für die einfachen, armen und ungebildeten Menschen. Es gibt Privilegierte und Unprivilegierte. So war es und so würde es immer sein. Das Schicksal der Götter meinte es gut mit ihr. Sie stammte aus kaiserlichem Haus. Diesem Stand entsprechend und ihn schützend richtete sie ihr Leben ein. Es war schon viel von ihr verlangt, ihrem Mann Pilatus nach Jerusalem zu folgen, in dieses heiße, staubige und dreckige Nest am Ende der Welt.

Umso mehr erschreckt sie vor den ihr fremden, übermächtigen Gefühlen des Mitleids für die durch Kriege aller Zeiten Verletzten, Trauernden, Heimatlosen, die im Schatten der Sieger versklavten und entrechteten Menschen. Sie hatte doch immer mit rauschenden Festen in Rom die glorreichen Siege des römischen Heeres gefeiert. Das Elend des Krieges hatte sie nie an sich herangelassen, nie wahrnehmen wollen, einfach ausgeblendet und verdrängt. Jetzt aber hatte sie es im Traum gesehen, mit einer solchen Wucht, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie wusste es, niemand konnte es ihr ausreden: Es war kein Traum, es war wahr. Die von Leid an Leib, Geist und Seele Gezeichneten gibt es nicht nur vereinzelt, es sind Massen. Sie alle kommen, um das Tor zum Hof des Palastes zu überwinden. Wer wird ihnen helfen können?

Im Traum ist sie gezwungen zuzuhören und das Leid zu sehen. Die Formulierung „ihr träumte“ macht sprachlich deutlich, dass der Albtraum ihr widerfährt. Die Verletzten und Trauernden sprechen von einem Menschen, der ihnen helfen kann, der ihnen Hoffnung gibt, der sie heilt, den sie in ihrer religiösen Tradition als Prophet, als Seher, als Heiler und Messias verehren. Und dieser Mensch – begreift sie augenblicklich – ist in der Macht ihres Mannes. Deshalb kam der schreckliche, bedrängende Traum über sie. Sie wird überschwemmt von Scham, Mitleid und Wut. Woher kommen diese starken Gefühle? Sie nimmt schmerzlich wahr, was für ein großes Unrecht Jesus von Nazareth durch ihren Mann geschehen wird. Der von vielen ersehnte Erlöser ist ein Gerechter, ein vom Himmel gesegneter Mensch. Wieso sollten sich auch sonst alle Geplagten nach ihm sehnen, ihn aufsuchen und sich von ihm berühren lassen?

Sie weiß, wenn ihr Mann Pilatus Jesus zum Tode verurteilt, dann ist er nicht nur verantwortlich für den Tod eines Unschuldigen, sondern seine Schuld reicht bis in den Himmel, ist zweifellos eine Beleidigung der Götter. Der Zorn der Götter wird erregt – zum ersten Mal in ihrem noch jungen Leben nimmt Claudia den Ernst des Lebens wahr, schreckt sie auf vor der Heiligkeit des Lebens. Sie ahnt, dass Pilatus durch die Verurteilung des Gerechten zum Tode am Kreuz eine Tragödie auslöst, die die Welt ins Wanken bringen wird, auch die kleine Welt ihrer Ehe. Noch hat ihr Mann Jesus von Nazareth nicht zum Tode verurteilt. Noch kann sie ihrem Mann eine Warnung zukommen lassen. Das tut sie, wie es im Evangelium nach Matthäus heißt, mit den Worten: „Ich habe heute Nacht viel erlitten im Traum um seinetwillen.“ (Matthäus 27,19b)

Wir wissen, wie es ausgeht. Pilatus findet keine Schuld an Jesus von Nazareth, fragt die aufgehetzte Menge nach ihrem Urteil, verkündigt das rechtskräftige Todesurteil für Jesus „und wäscht sich die Hände in Unschuld“ (Matthäus 27, 24).

Claudia Procula aber lässt dieser Traum ihr ganzes Leben nicht mehr los. Später – so erzählt Gertrud von le Fort in ihrer lesenswerten Novelle „Die Frau des Pilatus“ – lebt sie mit ihrem Mann in Rom. Dort besucht sie nach einer langen durch den Traum ausgelösten religiösen Sinnsuche die Versammlungen der Christen. Sie verehren Jesus von Nazareth als den Christus, der von Gott gesandt wurde, der den Fluch des Kreuzes in Heil verkehrte, der noch für seine Peiniger betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23,34); der sich im Tode Gott überließ, der am dritten Tag von den Toten auferstand. Claudia Procula, so die Legende, wurde selbst Christin, ließ sich von Güte, Liebe und Gewaltlosigkeit ihres HERRN einholen und erfüllen und empfing die Bluttaufe als Märtyrerin. In Gertrud le Forts Novelle ist es Pilatus selbst, der mitansehen muss, wie die Löwen seine geliebte Frau zerfleischen. Wieder nur hatte er den Befehl von Kaiser Nero blind ausgeführt und die kleine Gruppe der unschuldigen Nazarener für einen verheerenden Brand in Rom geopfert.

Es müssen halt Menschen geopfert werden. Daran führt kein Weg vorbei – oder?

Heute gedenken wir des Opfers Jesu am Kreuz. Auch Jesus wurde geopfert durch die Mächtigen. Im Unterschied aber zu den vielen Opfern, die die Herrschenden opfern, hat Jesus dieses Opfer selbst angenommen, ist aus freien Stücken diesen Weg für uns in den Tod gegangen. Daraus folgt für mich: Wir sollen keine Menschen mehr opfern. Es ist ein für alle Mal genug.

 

Wo bleibt das eindeutige Zeugnis der Kirchen von der Gewaltlosigkeit Jesu?

Das ist das Evangelium. Ich schäme mich für den orthodoxen Patriarchen Kyrill, der in seinen Predigten den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gutheißt und die Raketen segnet. Ich schäme mich für die Priester in der Ukraine, die ebenfalls Menschen und Waffen segnen. Ich schäme mich für die Kirchen in der westlichen Welt, die ihre Lehre von einem gerechten Krieg aus der Mottenkiste holen und Waffenlieferungen ethisch absegnen. Wo bleibt das eindeutige Zeugnis der Kirchen von der Gewaltlosigkeit Jesu? Gewaltlosigkeit ist nicht Schwäche, sondern fordert große Stärke und volles Vertrauen auf Gott. Gleichzeitig weiß ich, dass wir nicht vorschnell oder voreilig uns einbilden sollten, wir könnten konsequent gewaltlos leben. Ich erinnere mich an Jesu Warnung an seine Jüngerinnen und Jünger: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke? Oder könnt ihr die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde?“ (Mk 10,38) Vielleicht bleibt uns ein vorschnelles Ja im Hals stecken, wenn wir auf die Erfahrungen der Jünger in der Passionsgeschichte schauen — und uns selbst eingestehen, was wir über uns selbst wissen.

Das Glaubenszeugnis von Pilatus’ Frau steht nicht allein. Zum ersten, sie hat ihren Mann Pilatus gewarnt, hat auf Gottes Botschaft im Albtraum gehört. Auch wir alle, du und ich, können unsere warnende Stimme erheben – selbst da, wo die Kirche als Institution auffällig still bleibt. Selbst da, wo wir nicht Gehör finden, wo wir als Minderheit in einer Gesellschaft verlacht und nicht ernst genommen werden. Zum zweiten ist Claudia Procula mit der Taufe ihres HERRN getauft worden. Auch wenn das eine Legende ist, steht sie doch für das Glaubenszeugnis vieler Christinnen und Christen, die um ihres Glaubens willen getötet wurden. Darunter sind viele, die nicht die Waffe in die Hand nehmen wollten, die den Dienst an der Waffe um ihres Glaubens willen verweigerten. Das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit hat in den ersten Jahrhunderten nach Jesu Tod viel zur Ausbreitung des christlichen Glaubens beigetragen. Auf diese jesuanische Wurzel sollten wir uns neu besinnen. Wer wenn nicht wir Christinnen und Christen sollte sonst in unserer Gesellschaft für Gewaltlosigkeit eintreten?

Ich träume davon, dass der Albtraum Krieg überwunden wird

 

Ich träume davon, dass der Albtraum Krieg überwunden wird und das sinnlose Töten ein Ende findet. Was träumen Sie und wofür setzen Sie sich ein? Wie würden Sie sich verhalten, wenn es hart auf hart kommt?

Durch Jesu Tod sind wir befreit und berufen zu gewaltlosem Widerstand. Gott der HERR ist es, der die Macht hat, nicht die Mächtigen dieser Erde, nicht die Waffen. Das ist unser Glaube.

Amen

Literatur:

Die Bibel. Martin Lutzer (2017)

Selma Lagerlöf: Christuslegenden, (Hg.) Karl-Maria Guth, Verlag Hoffenberg, Berlin 2016, S. 61-102

Gertrud von le Fort: Die Frau des Pilatus, Friedrich Bahn Verlag, Konstanz, 2. Auflage 1987

Ansporn für müde Gläubige, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

Sonntag Sexagesimae 2022, Predigt über Hebräer 4,12+13 (Luther 2017)                                                                         

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

 

Liebe Gemeinde,

Das ist doch auch mal ein Wort und ein Ruf an diejenigen, die jetzt so zahlreich aus ihren Kirchen austreten. Doch sie sitzen nicht hier. Sie hören es nicht und wollen es auch nicht mehr hören, von oben herab.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Austrittswelle und wird am Arbeitsplatz, im Verein und in den Familien diskutiert. Überall höre ich die Rede, dass es Monate braucht bis am Amtsgericht der Kirchenaustritt erfolgen kann. Das Personal dafür wird in vielen Kommunen aufgestockt. Auch der ehemalige Papst Benedikt der XVI. ist der Lüge überführt. Wem kann man eigentlich noch Vertrauen in der Institution Kirche? Die heute austreten ziehen meiner Ansicht nach eine Konsequenz aus einer langen Entfremdungsgeschichte mit ihrer Kirche und vielleicht sogar auch mit der Kernbotschaft, der Rede und dem Glauben an Gott, mit dem sie nichts mehr anfangen können.

Sie sind müde geworden

Auch der Schreiber des Hebräerbriefs sieht, wie viele Menschen sich in den christlichen Gemeinden der zweiten und dritten Generation gar nicht mehr so recht dazu gehörig fühlen. Sie sind müde geworden, der Lebenskampf fordert viel Kraft und die Gemeinschaft der Gläubigen ist nicht ein erhoffter konfliktfreier Ort. Die Orientierung auf das Ziel des Glaubens ist aus den Augen geraten. Der Sinn scheint verloren gegangen, die Antwort auf die Frage: Weshalb sind wir eigentlich gemeinsam unterwegs? Eindringlich bittet der Schreiber des Briefes: „Werft euer Vertrauen nicht weg!“ (Hebräer 10,35)

Hier macht sich jemand ziemlich viel Mühe den Leserinnen und Lesern aufzuzeigen, warum es sich lohnt zusammen zu bleiben und gemeinsam wieder das Ziel des Glaubens in den Blick zu nehmen. Zugegeben: Der Schreiber benutzt viele Vorstellungen und auch Bilder, die uns fremd geworden sind, aber dennoch sind seine Gedanken klar und erstaunlich aktuell.

Das Ziel ist ein tiefer Friede

Ausgehend von Gottes Ewigkeit, von der Ruhe die vorhanden ist und nach der die Menschen damals und wir heute uns sehnen, sagt er: Wir müssen uns nach Gottes Wort richten, damit keiner zurückbleibt oder am Ziel vorbeilebt. Das Ziel ist ein tiefer Friede: Es ist das Zur-Ruhe-Kommen in Gottes Nähe.

Damit diese Ruhe in Gott schon jetzt erlebbar wird – mitten in aller Unruhe – und das Sehnen nach dieser Ruhe uns antreibt und anstachelt zu einem guten Leben, ist es wichtig immer wieder zu hören, was Gott in unser Leben hineinspricht.

Das Wort Gottes ist so etwas wie die Muttersprache des Glaubens. Sie entsteht aus dem Hören und aus dem Tun des Gehörten. Gott spricht zu uns wie er von Anfang an gesprochen hat als er durch sein Wort die Welt erschuf. Wir geben mit unserem Leben Antwort auf das Schöpferwort Gottes.

lebendig, kräftig und messerscharf

Das Wort Gottes – das ist für den Schreiber gewiss – ist lebendig, kräftig und messerscharf. Es kann zwar ungehört bleiben, aber wenn es gehört wird, dann geht es nicht spurlos an uns vorbei, dann fährt es uns dazwischen, wenn wir uns zu sehr eingerichtet haben in unsere Sicht der Dinge, wenn wir immer schon meinen zu wissen, was richtig oder falsch ist, wenn unser Mitgefühl erstickt ist, wenn alles zugeschüttet und verborgen ist, der Zugang zu uns selbst und zu anderen, wenn unsere Liebe kalt ist.

Aber wer lässt sich heute schon gerne ein Wort gefallen, das beunruhigt, das einschneidend und durchdringend ist, gefährlich sogar, jedenfalls nicht ohne Folgen bei Berührung?
Ein scharfes Wort kann tief treffen. Scharf wie eine Waffe. Wie ein zweischneidiges Schwert. Oder wie ein Filetiermesser, das Fleisch problemlos vom Knochen trennt. Oder wie ein Skalpell, mit dem der Arzt gezielte Schnitte macht, um krankes Gewebe von gesundem zu trennen. Das kann wehtun.
Vielleicht ist das Skalpell, ein scharfes medizinisches Messer, für uns heute das alltagstauglichere Bild im Vergleich zum Schwert. Dann ist Gottes Wort so riskant, aber auch so heilsam wie eine Operation am offenen Herzen. Zur Zeit des Hebräerbriefs noch undenkbar -, aber heute so selbstverständlich wie der Einsatz des zweischneidigen Schwertes damals.

Der Gedanke daran jedenfalls dürfte Menschen damals wie heute nicht kalt lassen. Was damit gemacht wird, ist wohl ganz und gar nicht egal. Weil es Folgen hat. Oft geht es um Leben und Tod, wenn ein Schwert oder ein Skalpell zum Einsatz kommt – natürlich auf sehr unterschiedliche Weise. Der Vergleich will uns klarmachen – genauso ist Gottes Wort: Ganz und gar nicht egal. Darauf kommt es an. Wenn Gott durch seinen Sohn Jesus Christus redet, dann geht es um uns, um unsere Existenz, um unser gemeinsames Leben in der Gemeinde und in dieser verletzlichen und liebesbedürftigen Welt.

Deshalb bleibt Gott für uns nicht an der Oberfläche

Darauf können wir uns einlassen oder eben auch nicht. Einer wichtigen Operation können wir zustimmen oder sie ablehnen. Aber mal ehrlich, wer würde so etwas ablehnen? Wenn man ablehnt, hat man zwar kein Risiko, zusätzlich verletzt zu werden -, aber eben auch kaum eine Chance auf Heilung.
Deshalb bleibt Gott für uns nicht an der Oberfläche. Was er sagt und von uns will, greift tief in unser Leben ein, durchdringt jeden einzelnen Gedanken, seziert jedes einzelne Vorhaben und Tun. Er blickt uns mitten ins Herz und prüft, wie wir`s meinen (vgl. Ps 139,23). Gott ist derjenige, der „uns unbedingt angeht.“ (Paul Tillich)
Dabei ist vor allem zu bedenken: Gottes Wort richtet sich nicht gegen uns, um uns zu verletzen. Gott richtet sein Wort vielmehr an uns, damit es hilft und heilt, uns auf den ewigen Weg führt, in seine Ruhe und in seinen Frieden. Mit aller Macht setzt sich das Wort Gottes für das Leben ein.
Das ist ein Kriterium zur Unterscheidung. Daran muss sich auch die Kirche messen lassen.

Amen

 

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