Joachim Leberecht, Predigt über Matthäus 14, 22-33, Herzogenrath 2022

 

Wider Chaosmächten (4.Sonntag vor der Passionszeit 2/2022)

 

Matthäus 14, 22-33 (Basis-Bibel)

 

Liebe Gemeinde,

Jesus brauchte Ruhe und Abstand von den vielen Menschen, die ihn bedrängten. Alle wollten etwas von ihm und überall wo er hinging, liefen sie ihm hinterher. Gab es denn keinen Ort, wo er allein sein konnte? Wo ihn Stille umgab?

Nach der Speisung der 5000 schickte er seine Jüngerinnen und Jünger mit unwirschen Worten fort. Sie sollten schon einmal über den See fahren. Und nachdem er das Volk entlassen hatte, stieg er allein auf einen Berg, um Gott nah zu sein.

Die Angst infizierte alle.

Die Jünger aber waren auf dem See unterwegs. Es wurde dunkel. Eine starke Brise kam auf. Die See wurde unruhig. Die Jünger mühten sich mit dem Rudern ab. Der Wind stand ihnen hart entgegen. Das Boot wurde wie eine Nussschale auf den Wellen hin und hergeworfen. Sie bekamen es mit der Angst zu tun. Die Angst infizierte alle.

Das kennen wir doch auch alle zu Genüge aus den letzten zwei Jahren. Wir saßen und sitzen alle in einem Boot, fürchteten und fürchten uns vor den über uns schwappenden Wellen der Pandemie. Infiziert sind wir von Angst, ganz durchdrungen. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Auch die Panikmache der Regierung und besonders in den Medien hat die Angst wie ein Krebsgeschwür in Gesellschaft und Kirche wüten lassen. Die Kirche hat sich landauf, landab wie die Jüngerinnen und Jünger in der Geschichte verhalten: ängstlich! Der frühere Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Heribert Prantl, resümiert: Die „Kirche wirkte in der Pandemie kleinmütig und angepasst.“ (Katharina Geiger, Interview mit Heribert Prantl für katholisch.de vom 6.1.2021 unter dem Titel: „Kirche wirkte in der Pandemie kleinmütig und angepasst.“)

Und zurzeit blicken viele Länder Europas auf Deutschland und die Rede von der „German Angst“ macht wieder die Runde. Wir werden die tiefsitzende Angst in unserer auf Sicherheit ausgerichteten Gesellschaft einfach nicht los. Und niemand von uns kann da einfach aussteigen. Wir alles sitzen im selben Boot.

Die Stille vor Gott hatte ihn gestärkt.

Aber zurück zur biblischen Erzählung. Der Evangelist Matthäus berichtet weiter: Jesus beendet sein Gebet. Mehrere Stunden hatte er sich von allen zurückgezogen. Die Stille vor Gott hatte ihn gestärkt. Inzwischen war es Nacht geworden. Und mitten in der Nacht kommt er seinen in Not geratenen Jüngern entgegen.

In ihrer Not sehen die Jünger Gespenster. „War da nicht etwas auf dem Wasser?“ „Das ist unheimlich.“ „Ich hab´s auch gesehen!“ „Hier geht was nicht mit rechten Dingen zu!“ „Das ist der Tod in der Gestalt eines Gespenstes!“ „Ein Wassergeist, der unseren Untergang ankündigt!“ Einer schreit: „Ich kann nicht mehr, ich geh ins Wasser.“ Im letzten Moment wird er zurückgehalten. Ein Klagen und Wehschreien in schwarzer Nacht, ein Tohuwabohu wie bei der Erschaffung der Erde. In das Chaos hinein spricht Christus: „Seid getrost. Ich bin´s. Fürchtet euch nicht!“

Da erkennen die Jüngerinnen und Jünger, wer ihnen in ihrer Not am nächsten ist. Es ist Christus, der HERR. Es gibt viele Schein- und Trugbilder, wenn uns auf dem Lebensweg der Wind hart entgegensteht. Da ist es gut, wenn wir uns an die Stimme Christi gewöhnt haben, dass wir sie hören und heraushören, wenn unsere innere oder äußere Not am größten ist. Es ist das Evangelium, das wir hören dürfen: „Fürchtet euch nicht!“ – „Fürchte dich nicht!“

 

Dann aber bricht Petrus ein.

Petrus, der schnelle und mutigste unter ihnen, findet zuerst seine Sprache wieder: „Jesus, rufe mich und ich komme zu dir.“ Jesus ruft ihn und Petrus geht über das Wasser. Nichts hält ihn mehr, selbst da, wo kein fester Boden unter den Füßen ist. Ganz nah möchte er seinem HERRN sein. Wie ein Kind, das voller Vertrauen in die Arme seiner Mutter springt, geht Petrus los, ganz selbstvergessen, ein höchster Akt des Vertrauens. Dann aber bricht Petrus ein. Die Wasser stürzen über ihn zusammen!

Auch wir, Liebe Gemeinde, haben in unserer Region im vergangenen Sommer die Dämonen des Wassers erlebt, die Chaosmächte, die wir  bedingt durch den Klimawandel theoretisch voraussahen, denen wir praktisch aber nicht gewachsen waren. Schon von alters her wurden Wasserfluten und todbringende Überschwemmungen gefürchtet. Jetzt sind sie so nah an uns herangekommen, haben uns heimgesucht. Wir sind erschreckt und die Betroffenen ihr ganzes Leben davon gezeichnet.

In vielen Religionen gehören Geschichten der Rettung aus dem Wasser zum Kernbestand. „In der buddhistischen Tradition findet sich eine interessante Parallele [zu unserer Geschichte]: Im Zweifel an Buddha sinkt ein Laienbruder im Fluss ein und rettet sich schließlich durch die Kraft seiner eigenen Gedanken.“ (Dorothee Wüst, Gottesdienst Praxis, 2021, S. 145)

Wie anders stellt Matthäus die Rettung dar. Es sind nicht die spirituellen Gedanken und Eigenkräfte, die Petrus retten. Petrus kann sich sprichwörtlich nicht mehr am eigenen Schopfe aus den Fluten ziehen. Petrus kann nur noch rufen: „HERR, rette mich!“ Und Jesus greift Petrus bei der Hand und rettet ihn.

Wie tröstlich, dass die Geschichte erzählt, dass Petrus seinen Glauben nicht durchhalten konnte, dass er eingebrochen ist, dass Christus ihm außer Blick gerät und er die Furcht ins Herz lässt, die reale Furcht vor dem starken Wind und den mächtigen Wellen.

Hier kann ich mich gut mit Petrus identifizieren. Ich möchte glauben und Vertrauen und dann schleicht sich doch immer wieder der Zweifel ein: „HERR, ich glaube. Hilf meinem Unglauben!“

Jesus lässt den zweifelnden Petrus nicht untergehen, stößt ihn nicht von sich weg, zieht ihn hoch auf Augenhöhe und sagt: „Du hast zu wenig Vertrauen. Warum hast du gezweifelt?“

Liebe Gemeinde,

sicherlich wurde diese Geschichte in den christlichen Gemeinden erzählt, dass wir Christus in jeder Not vertrauen können. Christinnen und Christen haben zu jeder Zeit und an allen Orten die Erfahrung gemacht, wie schwankend ihr Glaube sein kann. Es gibt Starke und Mutige, und in der Regel Kleingläubige. Diese Einsicht soll nicht in die Resignation führen nach dem Motto: Wir Menschen sind halt so, nein, diese Einsicht und Erfahrung soll zum Mitgefühl führen, zu Geduld mit denen, die ängstlich sind. Mut aber soll auch denen gemacht werden, die voll Gottvertrauen Ängste überwinden, die ihre Komfortzone verlassen, die sich nicht von der Angst gefangen nehmen lassen, die unbeirrt groß Denken und Handeln – allen Chaosmächten zum Trotz. Sie dürfen neu hören und immer wieder erfahren, wenn sie auf gefährlichem Terrain einbrechen, werden sie errettet und wieder aufgerichtet.

Entscheidend ist doch, dass Jesus hier Petrus rettet, wo ihm der Glaube wegbricht.

Die Not kann so groß werden, dass wir untergehen, dass wir unseren Glauben zu verlieren drohen, dass er uns weggeschwemmt wird, aber ein Hilferuf genügt, ein Seufzer und Gott überlässt uns nicht den tosenden Fluten, selbst wenn wir untergehen. Amen