Heute von Gott reden, Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025

Rezension zu: Ralf Frisch: Gott. Ein wenig Theologie für das Anthropozän, TVZ, Zürich 2024

Vom Verschwinden und Wiederfinden Gottes im Anthropozän

Vier Grundfragen umkreist der Autor in seiner „Theologie für das Anthropozän“ in 42 kurzen Kapiteln: 1. Was meinen wir, wenn wir Gott sagen? 2. Was bedeutet es, wenn wir sagen, dass es Gott gibt? 3. Woher kommt das Wissen über Gott? 4. Was spricht für Gott trotz Gottes- und Religionskritik? (56) Ralf Frisch mutmaßt: „Vielleicht erscheinen diese Fragen nur deshalb als schwierig, weil es eine Tendenz im neuzeitlichen  theologischen Denken gibt, dem Nichtglauben mehr Glauben zu schenken als dem Glauben.“ (56)

Gebet als Lackmustest der Gottesvorstellung

Ralf Frischs kolumnenartiger theologischer Essay will Theologie und Kirche provozieren, indem er gegenwärtiger Theologie und kirchlicher Rede von Gott auf den Zahn fühlt. Seine These: Wer im Anschluss an Bonhoeffer meint ausschließlich von einem ohnmächtigen Gott reden zu können, verschweigt den Zeitgenossen im gottvergessenen Anthropozän den erlösenden Retter-Gott der biblischen Erzählungen. Die christliche Hoffnung lebt aber aus dem Glauben an einen (all)mächtigen Gott. Die Erzählung in den Evangelien von der Auferstehung Jesu zeigt einen wirkmächtigen Gott, der Tote erwecken kann. Gott ist bei Frisch keine Chiffre, sondern im Sinn der alten Kirchenlehre eine wirkmächtige Gottheit in drei Personen. Daher ist für Frisch auch das Gebet zu einem transzendenten Gott „der Lackmustest aller Gottesvorstellung“ (22). Wenn aber Gott als der ganz Andere vermeintlich nicht mehr „redlich“ gedacht werden kann, dann ist Gebet ausschließlich Transformation des eigenen Selbst.[i]

Der Glaube an die Anderswelt

 Nach Frisch Formulierung gibt es neben der Welt eine Anderswelt (12f), die der Mensch nicht mit den Mitteln der Welt messen und beschreiben kann. Vernünftiger Glaube ist denkbar (credo ut intelligam, Anselm von Canterbury). Auch wenn sich Gottes Gott-Sein der Ratio entzieht, ist Gott im Glauben erfahrbar.

Überforderung des Menschen im Anthropozän

Mit seinen vielen rhetorischen Wenn-Sätzen will Frisch auch denkerisch seine Leser:innen aus der Eindimensionalität einer alleinigen Zentrierung im Anthropozän auf den Menschen locken. Im Anthropozän ist allein der Mensch für die Lösung seiner Probleme verantwortlich. Wenn aber der Mensch für alles selbst verantwortlich ist in einer mündigen Welt (Bonhoeffer), dann überfordert er sich selbst. Hier bringt Frisch die gute alte lutherische Rechtfertigunslehre ins Spiel. Aus seiner Sicht verraten evangelische Theologie und Kirche den Ursprung ihrer Existenz. Es steht nicht mehr, aber auch nicht weniger als die evangelische Freiheit auf dem Spiel. Wenn Religion zu Moral verkommt, fängt sie an zu stinken (Nietzsche). „Weil das Heilige zum Moralischen geworden ist und nichts außer Moral heilig ist, wird Moral zum Statussymbol und moralisches Handeln zur Bedingung von Anerkennung. […] Die Ironie der Geschichte besteht allerdings darin, dass der Protestantismus der Gegenwart die Rolle eingenommen hat, die vor fünfhundert Jahren der Katholizismus innehatte“(189).

Das Heilige

Um von einer Theologie der Ohnmacht Gottes wegzukommen, reaktiviert Frisch die Rede vom Heiligen nach Rudolf Otto[ii] (84ff). Frisch plädiert für die Unverfügbarkeit und Heiligkeit Gottes, die der Mensch erfahren kann. Gott lässt sich in kein System und auch in keine Theologie (!) pressen. Wer den Heiligen erfährt im Guten wie im Bösen (deus absconditus) erschrickt vor seiner Macht. Biblisch ist der HERR Zebaoth ein mächtiger (Heeres)-Gott.  Die dunklen Seiten Gottes führen in den Zweifel, mitunter in die Verzweiflung. Mit Luther gilt es sich an den Deus revelatus zu halten. Für den Protestantismus im Anthropozän sind diese Fragen und Glaubenserfahrungen jedoch obsolet geworden, hier wird Gott kastriert und übrig bleibt eine Wohlfühlkirche Gleichgesinnter, die sich vom woken Zeitgeist nicht unterscheidet.  Die katholische Weltkirche, die das Geheimnis Gottes und des Menschen (!) besser bewahrt (197), ist für Frisch resilienter aufgestellt. Eine evangelische Wort-Kirche aber vernachlässigt Anbetung und das Geheimnis Gottes. Damit versperren die evangelischen Kirchen der Reformation sich selbst den Zugang zu einer tiefen Spiritualität und unterscheiden sich nicht mehr von der Welt.

Mythos und Wissenschaft

Wie Ralf Frisch neue philosophische, naturwissenschaftliche und hermeneutische Erkenntnisse anreißt und mit der Theologie ins Gespräch bringt, ist anregend. Damit bricht er alte Grabenkämpfe auf und zeigt, dass sich für verschiedene Wissenschaften die Frage von Geist und Materie neu stellt. Wenn die Theologie bei ihrer Sache bleibt, wird sie eine interessante Gesprächspartnerin in der Frage sein, wie die Welt zu deuten ist.  Binäres Denken ist überwindbar. Es gilt nicht entweder – oder, sondern sowohl — als auch, und noch vieles mehr. Frisch verweist hier auf den agnostischen Philosophen Thomas Nagel (87), der in seiner Philosophie zeigt, dass der Naturalismus (Materialismus) in der Frage nach Geist und Bewusstsein keine befriedigenden Antworten gibt, ja gar nicht in der Lage ist, diese zu geben.

In der Frage zum Verhältnis wissenschaftlicher und mythologischer Welterklärung (Hermeneutik) zitiert Frisch Claude Lévi Strauss, der in seiner Vorlesung: Anthropologie in der modernen Welt darauf hinweist, dass die moderne Kosmologie „selbst dazu tendiert, zu einer Geschichte des Lebens und zu einer Geschichte der Welt zu werden, [daher] können wir nicht ausschließen, dass das wissenschaftliche und das mythische Denken, nachdem sie lange Zeit unterschiedliche Wege gegangen sind, sich eines Tages einander annähern werden (169).

Erzählen stiftet Sinn

Frisch bricht eine Lanze für das Erzählen biblischer Geschichten, „weil das göttliche Rettungsdrama der Welt“ (176) nach Karl Barth „nur erzählend beschrieben werden kann.“[iii]Immer wieder zieht Ralf Frisch aus Film, Literatur und Lyrik Parallelen zu genuin religiösen und damit theologischen Fragen. Theologie und Kirche sind „blind dafür, dass Religion und Dichtung Geschwister sind.“[iv] Wenn Gott der Heilige ist, dann ist Theo-Poesie eine sprachliche Annäherung an das Heilige oder zumindest ein Verweis auf das Göttliche. Lyrik vermag die Frage nach Gott offen zu halten. Poesie kann  Lobbyistin der göttlichen Wahrheit sein. Ingeborg Bachmann dichtet: „Wahrheit ist, was den Stein von unserem Grab wälzt.“ (175)

Kritische Würdigung

Frisch legt seine von Luther und Karl Barths geprägte Theologie und Gottesvorstellung als hell leuchtende weiße Folie auf andere theologische Denkansätze, die dann in einem schwarz-weißen, Freund-Feinddenken bis hin zum indirekten Vorwurf der Häresie verunglimpft werden (107f). Im Kapitel „Die letzte Häresie“ schreibt Frisch: „Am Ende gibt es in der Kirche und der Theologie des Anthropozän nur noch eine letzte dogmatische Häresie. Die Häresie an Gott als souveränen, eigensinnigen und lebendigen Akteur zu glauben, der nicht mit dem Agieren von Menschen identisch ist“ (111).

Auch wenn ich seiner Analyse, dass kirchliche Verlautbarungen und viele Predigten Religion durch Moral ersetzen, teile und durchaus in vielen Kapiteln aufgrund seiner spitzen Feder gelacht und geschmunzelt habe, teile ich Frischs schnelle Abkanzelung von Theologie und Kirche nicht. Natürlich verstehe ich, dass Zuspitzung ein rhetorisches Mittel ist, aber für mich kippt sein Ton zu oft ins Polemische, und seine Analyse bleibt unterkomplex. Die Überschriften vieler Kapitel sind reißerisch, die nichts anderes als Aufmerksamkeit generieren wollen. Wenn der Artikel dann gelesen ist, weiß man auch nicht mehr. Schnelligkeit geht vor Gründlichkeit. Aber bei aller Kritik: Seinen Finger legt Frisch oft zurecht in die Wunden heutiger Theologie und Kirche.

Ohnmacht oder Allmacht Gottes?

Die Frage der Bonhoeffer-Rezeption ist für mich der Dreh- und Angelpunkt seines Essays. Frisch meint, Bonhoeffer von Bonhoeffer unterscheiden zu müssen und sieht in Widerstand und Ergebung[v] eine wirkungsgeschichtlich fatale Rede von einem ohnmächtigen Gott, der die Welt sich selbst überlässt, mehr noch, der sich aus der Welt herausdrängen lässt. Die mündige Welt und der autonome Mensch sind sich selbst überlassen. Was bleibt, ist ein ohnmächtiger Gott, der seine Welt liebt, aber nicht rettend in die Welt eingreift.  An anderer Stelle fasst Frisch zusammen: „Und doch machte die Ohnmachtstheologie durch die Zeiten hindurch Karriere. Vor allem nach Auschwitz brach sie mit der Allmachtstheologie“ (91). Frisch sieht sogar einen Zusammenhang in der Verweichlichung und Hypersensibilisierung unserer Gegenwart und der Unfähigkeit vernichtenden Kulturen zu begegnen, weil Rede und Glaube an den allmächtigen Gott verschwunden sind (99f).

Das alles ist für mich nicht nachvollziehbar. Vor allen Dingen stellt sich Frisch mit seinem berechtigten Anliegen, in Theologie und Kirche von der Wirkmächtigkeit Gottes her zu denken und zu reden, selbst ein Bein, da er die Allmacht Gottes politisch funktionalisiert. Er macht genau das, was er anderen theologischen Ansätzen vorwirft. Erschwerend kommt hinzu, dass der unhinterfragte Glaube an die Allmacht Gottes (Autorität) gerade im Protestantismus mit der verhängnisvollen Trias Gott, Thron und Altar großen Schaden angerichtet hat. Für mich kann eine notwendige theologische Rede von der Macht Gottes im Blick auf die Wirkungsgeschichte nur tastend und demütig geschehen. Bei Ralf Frisch fehlt nur ein Schritt zu einer Theologia gloriae. Da bleibe ich doch lieber bei einer theologia crucis. Oder anders gesagt, wir müssen die Spannung aushalten zwischen den Polen einer theologia crucis und einer theologia gloriae. Theologie und Kirchen müssen sich immer wieder neu zwischen diesen Polen ausloten. Vielleicht hat Frisch recht, dass die Theologie nach Auschwitz die Rede von der Macht Gottes vernachlässigt hat, aber war es nach Jahrhunderten einer ungebrochenen Rede von der Allmacht Gottes und dem Axiom der Apathie Gottes nicht an der Zeit, Empathie, ohnmächtiges Aushalten Gottes und sein Leiden an der Welt herauszuarbeiten und zu betonen? Auf dieser Linie sehe ich auch Bonhoeffers Gedanken über die Ohnmacht Gottes. Sie sind in und aus der geschichtlichen Situation in der Meditation über der Schrift entstanden. Frischs Bonhoeffer-Rezeption kann ich nicht folgen. Aus meiner Sicht dogmatisiert er hier seine Sicht auf Bonhoeffer. Heraus kommt das Gegensatzpaar Ohnmachtstheologie versus Allmachtstheologie. Das sind Schlagwörter, die nicht wirklich weiterhelfen. Vielleicht hilft uns im Zeitalter des Anthropozän besser, erneut Kreuz und Auferstehung theologisch in den Blick zu nehmen. Die Rede von der Ohnmacht Gottes hat seine Zeit. Die Rede von der Macht Gottes hat seine Zeit. Beides muss und darf kritisch reflektiert werden. In diesem Sinn kann ich Frischs Essay empfehlen.

[i] Frisch referiert hier: Hartmut von Saß, Unerhörte Gebete? Das Bittgebet als Herausforderung für ein nachmetaphysisches Gottesbild, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 2021, 39-65

[ii] Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Neuausgabe mit einem Nachwort von Hans Jonas, München 2014

[iii] Karl Barth, Gespräche 1964-1968, BGA 28, hg v. Eberhard Busch, Zürich 1997, 76

[iv] Martin Walser, Über Rechtfertigung. Eine Versuchung, Rowolth, Hamburg 2012, 72

[v] Dietrich Bonhoeffer: Theologische Briefe aus „Widerstand und Ergebung“, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017