9 Ihr wisst ja, was Jesus Christus, unser Herr,
in seiner Liebe für euch getan hat.
Er war reich und wurde für euch arm;
denn er wollte euch durch seine Armut reich machen.
Liebe Gemeinde,
Das Weihnachtsfest ist in die Mitte der christlichen Religion gerückt. Es vereint Kirchenferne und Kirchentreue, denn es wird in der gesamten Gesellschaft begangen. Doch in welcher Form wird dies auch weiter den Alltag bestimmen? Diese Frage ist es, die am zweiten Weihnachtstag im Vordergrund steht. Hier müsste im Grunde jetzt die Verkündigung des Advent zur Geltung kommen, die eben mehr ist als nur Geschenkekauf- und Einpackzeit. Christus ist wie kaum ein Religionsstifter zur Gabe geworden. Er selbst ist das Geschenk nicht nur der Geber. Dabei ist nicht nur das Kind in der Krippe gemeint, sondern das Evangelium Jesu in allen Bezügen. Jesus hat das Gottesbild praktisch verändert. Gott ist Mensch geworden. Das ist nicht mehr rückgängig zu machen.
Ein Ausleger des Bibeltextes vermutet, dass in unserer Religion die Göttlichkeit Jesu faktisch in den Vordergrund gerückt ist. Die Armut Jesu ist das Zeichen der puren Menschlichkeit. Dass dies auch die Menschlichkeit Gottes ist, muss von Weihnachten her im Bewusstsein bleiben. Schon Paulus als erster großer Theologe der Urkirche stellte fest, dass der Verzicht auf die Göttlichkeit und Annahme der Begrenztheit menschlicher Existenz ein einzigartig menschliches Gottesbild geschaffen hat, das die Stärke des alten Gottesbildes mit der Zukunft der Menschheit verbunden hat. Die Anmaßungen der römischen und anderer Kaiser als Götter oder Gottessöhne sind damit entlarvt. Menschlichkeit wird mit Armut gleichgesetzt. Diese Menschlichkeit Gottes ist kein exklusives Prädikat. Dadurch wird aus dem Sohn Gottes in der Krippe derjenige, der alle Menschen zu Söhnen und Töchtern Gottes macht. Und so heißt es in einigen wenigen Wochen in einem Wochenspruch: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ (Römer 8, 14)
Interessanterweise ist es im Moment tatsächlich die katholische Kirche, die in der Gestalt eines argentinischen Papstes an genau diesen Aspekt der christlichen Theologie erinnert. Der Papst aus Argentinien nannte sich nicht nur Franziskus, sondern erwählte ganz genau wieder dieser italienische Ordensgründer den Weg des Verzichts. Er verzichtete auf die päpstlichen Schuhe, das päpstliche Auto und die päpstliche Wohnung. Sicherlich geht es auch vordergründig darum, den Einfluss der Mafia im Vatikan zurückzudrängen. Als Handlung eines Papstes ist das auch immer Theologie, gerade, wenn dieser Papst ein Jesuit ist, eines Ordens, der sich die Reform der Kirche durch die Theologie auf die Fahnen schreibt.
Ich lese einmal ein paar Sätze aus einem Text von Peter Handke, überschrieben mit Lebensbeschreibung. Er hat im Grunde nur ein paar Fakten der Lebensgeschichte Jesu aneinandergereiht, hat aber dabei immer den Namen Jesus durch das Wort Gott ersetzt:
„..Gott erblickte das Licht der Welt in der Nacht vom vierundzwanzigsten zum fünfundzwanzigsten Dezember. Die Mutter Gottes wickelte Gott in Windeln. Auf einem Esel flüchtete er sodann nach Ägypten…. Er wuchs auf im Stillen und nahm zu an Alter und Wohlgefallen. Es litt ihn in der Welt. Er wurde die Freude seiner Eltern, die alles daransetzten, aus ihm einen ordentlichen Menschen zu machen… Er trat aus der Vergangenheit. Es hielt ihn nicht mehr in Nazareth. Er brach auf und verkündete, dass das Reich Gottes nahe sei. Er wirkte auch Wunder…Ohne das Versammlungsgebot zu beachten, sprach er oft unter freiem Himmel. Aus der Langeweile der Massen gewann er einigen Zulauf. Indes predigte er meist tauben Ohren… Andererseits war Gott kein Unmensch. Er tat keiner Fliege etwas zuleide. Niemandem vermochte er auch nur ein Haar zu krümmen. Er war nicht menschenscheu. Unbeschadet seines ein wenig großsprecherischem Wesen war er im Grunde harmlos. Immerhin hielten einige Gott für besser als gar nichts. Die meisten jedoch erachteten ihn für so gut wie nichts. Deshalb wurde ihm ein kurzer Prozess gemacht. Er hatte zu seiner Verteidigung wenig vorzubringen. Wenn er sprach, sprach er nicht zur Sache. Im übrigen blieb er bei seiner Aussage, dass er der sei, der er sei. … Am Karfreitag des Jahres dreißig oder neununddreißig wurde er, in einem nicht ganz einwandfreien Verfahren, ans Kreuz gehängt. Er sagte noch sieben Worte…. “ (Peter Handke: Begrüßung des Aufsichtsrats, Sonderreihe DTV 1970, hier zitiert aus: Werkbuch Weihnachten, Textbeispiele evangelischer und katholischer Gottesdienste für Gemeinde und Familie, Herausgegeben von Uwe Seidel und Wilhelm Willms, Jugenddienst Verlag Wuppertal 1972, S. 177f)
Geschickt hat Peter Handke einige Informationen aus den Evangelien mit der kirchlichen Verkündigung und Religion wie den Feiertagen verknüpft, denn beides lässt sich nicht voneinander trennen. Immer wieder tritt die Frage auf, ob die Entwicklung der Kirche nicht so ziemlich das Gegenteil von dem ist, was Jesus damals getan und bewirkt hat und worin er ein neues Gottesbild verkündigt hat. Wenn die Kirche die Göttlichkeit Jesu betont, dann bekleidet sich sich mit Gold und Diamanten. Wenn sie dagegen die Menschlichkeit Gottes predigt, dann kommt sie sogar ohne Dienstwagen aus. Mir ist auch klar, dass ich mich selbst hier nicht als Heiligen darstellen möchte, denn auch ich komme nicht ohne Dienstwagen aus. Aber es geht im Prinzip um die Grundentscheidungen der Theologie und die Frage des Gottesbildes. Dabei ist das Gottesbild Jesu und das Gottesbild des gekreuzigten Christus ziemlich ähnlich. In der einen Hinsicht verzichtete Jesus auf Privilegien und in der anderen Hinsicht war er eben ganz ein sterblicher und anfechtbarer Mensch, der selbst keine Begnadigung erhielt. Er hielt es nicht für einen Besitz, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an. Er wurde Mensch wie ein Mensch, menschlich in seiner Armut. So in etwa muss man den Christushymnus des Philipperbriefes wiedergeben. Wenn die Kirche die Göttlichkeit Jesu betont, dann macht sie es wie der König Midas. Sie macht etwas zu Gold, was nicht Gold ist:
Ein griechischer Gott wollte König Midas eine Gnade erweisen: „einen Wunsch hast du frei.“ Ohne groß zu überlegen, sagte Midas: „Alles was ich berühre, soll zu Gold werden.“ Im Nu funkelte und glitzerte alles in seiner Umgebung. Aber der Glücksrausch währte nicht lange. Als er hungrig zum Brot griff, hatte er ein Stück Gold zwischen den Fingern. Statt Wasser berührte Gold seine trockenen Lippen. Und als er in den saftigen Apfel beißen wollte, knirschten seine Zähne auf hartem, kaltem Metall. (Rainer Stuhlmann in: Predigtstudien VI,1, 1989/90, Kreuz Verlag Göttingen 1989, S. 64)
Diese Geschichte macht auf sehr deutliche Weise klar, dass das glitzernde und glänzende Gold ein Symbol der Herrlichkeit Gottes sein mag, es aber nicht mit der Realität verwechselt werden darf. Gott, so wie in Jesus Verkündigung und gelebt hat, ist eine realistische Gestalt, dessen Gold darin liegt, dass Menschen miteinander teilen und Erfahrungen des Heils und der Heilung machen. Gott wird Mensch, indem Menschen sich an Jesus orientieren und seinen Geist im Alltag mit sich tragen. Wir beten heute in der Kirche darum, dass die Erfahrung des Weihnachtsfestes und seine Botschaft in diesem Geist weiter wirkt. Wir beten darum, dass die Kirche eine bescheidene Verkündigerin ist und sich nicht an die Stelle Gottes setzt. So bleibt es tatsächlich Advent, und das Kommen Gottes wird immer erwartet und setzt sich immer wieder neu fort, in Taten, Gedanken und Worten. Damit ist immer das alltägliche, ganz normale Leben gemeint, dass wir immer nur als gerechtfertigte Sünder zu leben haben, auch als Kirche. Ich wünsche mir daher eigentlich immer eine Weihnachtskirche, die es versteht eine religiöse Stimmung zu vermitteln, die Menschen direkt betrifft und ihr Leben nicht nur erleichtert, sondern auch erneuert, und zwar nicht so, wie es eine übergeordnete Instanz will, sondern so, wie es zu ihnen selbst und zur Liebe Gottes passt.
In dieser Perspektive beschreibt Wilhelm Gräb so etwas wie eine nüchterne Bestandsaufnahme des Weihnachtsfestes:
„Je stärker uns zum Bewusstsein kommt, dass wir in einer Erlebnisgesellschaft leben, die uns permanent mit einer Überfülle von Lebensmöglichkeiten konfrontiert, desto stärker wiegt schließlich das Gewicht der Erinnerung an das unverfügbare Geheimnis des Lebens und die Stimme des Engels, die das Wunder seines Gelingens verheißt: dass ich bin und mein bloßes Darinsein unverlierbares Glück schon in sich selber trägt. … Indem wir Weihnachten feiern, erkennen wir an, dass ein Gott ist und dieser Gott immer schon mit dabei ist in der Geschichte unseres Lebens, ja dass er es ist, von dem wir in Wahrheit leben. … Dass dies für alle, einen jeden, eine jede gleichermaßen gilt, von Gott als dem Sinn des Ganzen gewollt zu sein, im Guten gewollt zu sein, auf dass das Leben gelingen möge….Das Bild etwa vom ewig-reichen, allgewaltigen, in den Himmel thronenden Gott wird beweglich dadurch, dass Gott sich mir erschließt, er menschlich zugänglich wird in dem Kind in der Krippe – und dass ich das zulasse, dafür offen bin, es selbst will. … Wer Gott bei sich und bei allen Menschen zulässt, erfasst eben dies bei sich selber, dass Gott kein jenseitiges Wesen ist, keine für sich abgeschlossene, in ihrer Allmacht und Allwissenheit sich selbst genügende Person, sondern dieser lebendige, sich verströmende Prozess, aus und in dem alles, was ist, sein Dasein empfängt und im Dasein gehalten wird.“ (Wilhelm Gräb in: Predigtstudien VI,1, 1995/96, Kreuz Verlag Stuttgart 1995, S.75/76)
Amen.
Evtl., wenn es die Zeit erlaubt, werde ich am Schluss noch die Geschichte vom Schuster Martin vorlesen:
Martin, der Schuster, nach Leo Tolstoi
Es war einmal ein armer Schuster, der hieß Martin und lebte in einem Keller. Durch das kleine Kellerfenster konnte er die Menschen sehen, die draußen auf der Straße vorübergingen. Zwar sah er nur ihre Füße, doch erkannte er jeden an seinen Schuhen. Fast alle diese Schuhe hatte er schon ein- oder zweimal in seinen Händen gehabt.
Schon seit vielen Jahren arbeitete Martin in dem Keller, der ihm zugleich Werkstatt und Wohnung war. Von morgens bis abends schnitt er Leder zurecht, nagelte neue Sohlen auf die Schuhe oder nähte einen Flicken auf eine geplatzte Naht. Die Leute kamen gern zu Martin, denn er machte seine Arbeit gut und verlangte nicht zuviel Geld dafür.
Wenn der Advent kam und es draußen dunkel wurde, zündete Martin die Lampe an und las in seinem Lieblingsbuch. Es war die Bibel mit den vielen Geschichten von Jesus. Den ganzen Tag freute er sich auf dieses Buch. Er konnte den Abend kaum erwarten.
Eines Tages hörte Martin, wie jemand seinen Namen rief. „Martin“, klang es plötzlich ganz leise an seinem Ohr. Er blickte sich um. Aber niemand war in seiner Werkstatt. Doch gleich darauf hörte er die Stimme wieder: „Martin! Schau morgen hinaus auf die Straße! Ich will zu dir kommen.“ Martin dachte, er habe geträumt. War es Jesus, der aus der Stille zu ihm sprach?
Am nächsten Morgen sah Martin vor seinem Fenster ein Paar alte, geflickte Soldatenstiefel und bald erkannte er auch den Mann, der sie anhatte. Es war der alte Stephan. Er schaufelte gerade den Schnee von der Straße. Die Arbeit strengte ihn sehr an. Er musste immer wieder stehen bleiben, um sich auszuruhen. Martin hatte Mitleid mit dem armen Mann und rief ihn zu sich herein.
„Komm herein, Stephan! Wärme dich in meiner Stube!“ Dankbar nahm Stephan die Einladung an. Er getraute sich kaum, mit dem Schnee an den Stiefeln die Stube zu betreten. Doch Martin redete ihm freundlich zu: „Setz dich zu mir an den Tisch, Stephan! Ich will dir ein Glas Tee einschenken. Der warme Tee wird dir gut tun.“
Als Stephan gegangen war, schaute Martin bei der Arbeit wieder aus dem Fenster. Da sah er eine junge Mutter mit einem kleinen Kind auf den Armen. Die Frau fror in ihrem dünnen Kleid. Sie versuchte, ihr Kind vor dem kalten Wind zu schützen. „Komm herein, Frau!“ rief Martin ihr zu. „Hier drinnen kannst du dein Kind besser wickeln.“
Martin nahm die Suppe vom Herd, die er für sich selber gekocht hatte, und gab sie der Frau. „Hier, iss etwas,“ sagte er, denn er sah der Frau an, dass sie Hunger hatte. Während die Mutter die Suppe aß, nahm Martin das Kind auf seinen Schoß und versuchte, es durch allerlei Späße zum Lachen zu bringen. Dann gab er es der Mutter zurück.
Kaum war die Mutter mit dem Kind gegangen, da hörte Martin ein Geschrei vor seinem Fenster. Eine Marktfrau schlug auf einen kleinen Jungen ein, der einen Apfel aus ihrem Korb gestohlen hatte. „Warte nur, du Dieb! Ich bring dich zur Polizei“, schrie sie wütend und zerrte den Jungen an den Haaren. Sofort rannte Martin auf die Straße hinaus. „Lass ihn doch laufen“, sagte er zu der Frau. „Er wird es bestimmt nicht wieder tun. Den Apfel will ich dir bezahlen.“ Da beruhigte sich die Frau und der Junge musste sich bei ihr entschuldigen, weil er den Apfel gestohlen hatte. „Schon gut“, sagte die Marktfrau und ging weiter. Der Junge aber half ihr freiwillig, den schweren Apfelkorb zu tragen.
Am Abend las Martin wieder in seinem Lieblingsbuch in der Bibel. Da hörte er die Stimme an seinem Ohr: „Martin, Ich bin bei dir gewesen. Hast du mich erkannt?“ „Wann? Wo?“ fragte Martin erstaunt. „Schau dich einmal um“, sagte die Stimme. Da sah Martin plötzlich den alten Stephan im Licht der Lampe stehen und daneben die junge Mutter mit ihrem Kind. Auch den Jungen mit dem Apfel sah er und die Marktfrau mit dem Korb am Arm. „Erkennst du mich jetzt?“ flüsterte die Stimme. Dann waren alle auf einmal verschwunden.
Da freute sich Martin. Er schlug wieder seine Bibel auf und las, was Jesus gesagt hatte: „Alles, was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Math. 25)
(Nach einer Erzählung von Leo Tolstoi (Wo Liebe ist, da ist Gott), Der Artikel erschien in „Der Weg“ 4/2005 http://www.derweg.org/feste/weihnachten/schustermartin.html)