Zu: Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord, Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Christoph Links Verlag, Berlin 2015, ISBN: 978-3-86153-817-2, Preis: 24,90 Euro
Jürgen Gottschlich, früher Mitbegründer und Journalist der TAZ, jetzt freier Korrespondent in Istanbul, hat ein außerordentlich informatives Sachbuch über die Vernichtung der Armenier im ersten Weltkrieg herausgegeben. Wer, wie ich, immer zu wenig vom ersten Weltkrieg verstanden hat, da die kollektive Erinnerung fast vollständig von der Materialschlacht in Frankreich und Belgien bestimmt wird, sieht nun hier, dass noch zuvor das vergebliche Anrennen gegen die Meerenge der Dardanellen die Kriegsgegner Deutschlands, England und Frankreich an die 100000 Menschenleben gekostet hat. Zum anderen war ein Winterfeldzug 1914/15 durch das osmanische Reich gegen Russland ein derartiges Fiasko, so dass nun ein Schuldiger herhalten musste, das Volk der Armenier.
Zuvor jedoch, sozusagen als Vorgeschichte des ersten Weltkriegs, war das osmanische Reich auf dem Balkan fast vollständig zurückgedrängt und die muslimische Bevölkerung in Massen vertrieben worden. Wie immer ist Gewalt eine Folge von Gewalt und ein Auslöser von Gegengewalt. Diese Gewaltgeschichte um das Volk der Armenier setzt sich im Buch fort bis in die Gegenwart, wo einerseits in der Türkei und zum Teil auch in Deutschland das Wort Völkermord zumeist vermieden wird und wo es andererseits auch seitens einiger Armenier und gegen diese schon kurz nach dem ersten Weltkrieg zu Terroranschlägen kam und später sogar zu Kriegshandlungen wie gegen Aserbaidschan um die armenische Enklave Berg-Karabach geführt hat.
Ministerpräsident Erdogan (Türkei) hat zum Jahrestag am 23.4.2014 indirekt die Ermordungen und Deportationen der armenischen Bevölkerung erwähnt und der Opfer gedacht: „Es lässt sich nicht abstreiten, dass die letzten Jahre des Osmanischen Reiches, gleich welcher Religion oder ethnischen Gruppe sie angehörten, für Türken, Kurden, Araber, Armenier und Millionen weiterer osmanischer Bürger eine schwierige Zeit voller Schmerzen war … Ereignisse mit unmenschlichen Folgen, wie Umsiedlungen, bei denen während des ersten Weltkrieges Millionen von Menschen aller Religionen und Volksgruppen ihr Leben ließen, sollten kein Hindernis dafür sein, dass zwischen Türken und Armeniern Empathie aufgebaut wird und sie sich gegenseitig menschlich verhalten und begegnen … Auch gedenken wir aller osmanischer Bürger gleich welcher ethnischen und religiösen Herkunft, die damals unter ähnlichen Bedingungen ihr Leben ließen, mit Respekt.“ (S. 312–314, Dokumente)
Das Buch von Jürgen Gottschlich ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der deutsch-türkischen Geschichte, weil es in den verschiedenen Kapiteln jeweils die Perspektive einer konkreten Person wählt und die Erfahrungen der Hauptpersonen schildert, wodurch auch Hintergründe und Beziehungen deutlich werden, die letztlich das Weltgeschehen mitbestimmen. Da ist von dem deutschen Kapitänleutnant Hans Humann die Rede, der in Izmir aufgewachsen ist, und dem mit seiner Familie befreundeten Enver Pascha, dem aufstrebenden Politiker der jungtürkischen Bewegung und späteren Kriegsminister des Osmanischen Reiches. Humann, der Sohn eines Hobbyarchäologen und Museumsgründers auf der Museumsinsel in Berlin (Pergamonaltar aus Troja), der eigentlich als Geheimdienstoffizier tätig war, wird als Kapitän der Yacht der deutschen Botschaft in Konstantinopel/Istanbul zu einer Schlüsselfigur der deutsch-osmanischen Zusammenarbeit im ersten Weltkrieg. Verleumdungen, Vertreibungen, Räumungen armenischer Wohngebiete, Verschleppung und direkte Ermordung der armenischen Bevölkerung, deren Opfer-Leichen zum Teil im Euphrat und Tigris bis hinein in die Gebiete der Kriegsgegner getrieben wurden, wurden pauschal damit begründet, dass diese Volksgruppe verdächtigt wurde, mit den Kriegsgegnern Frankreich, England und Russland zu kooperieren. Immerhin: Es gab eine deutsch-armenische Gesellschaft, es gab diplomatische Bedenken und es gab Proteste, die aber nichts ausrichten konnten, da sie erst so spät kamen, dass die Vernichtung schon sehr weit fortgeschritten war oder (angeblich) nicht mehr gestoppt werden konnte. Interessant und bedenklich ist schon, wie weit dies alles in Vergessenheit geriet oder im Schatten der Ereignisse des zweiten Weltkriegs verschwand, obwohl es von Franz Werfel einen Roman gibt, der die Ereignisse um die Ermordung der Armenier sehr genau dokumentiert (Die vierzig Tage des Musa Dagh, Wien 1933).
Aus deutscher Sicht, so schilderte es Jürgen Gottschlich, wurde die Vernichtung der Armenier teilweise unterstützt, gerechtfertigt oder toleriert, weil sie dem Bündnis zwischen Deutschland und dem osmanischen Reich nützen sollte, in das nicht zuletzt der deutsche Kaiser seine Hoffnung gesetzt hatte. Als der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, war die Deportation und Vernichtung der Armenier längst beendet.
Die „Asienkämpfer“ wie sie sich nannten, gehörten vom Kriegsende an zu den erbittertsten Gegnern der Weimarer Republik. Dazu zählte auch der Stabsoffizier des Palästinastabs und späterer Vorgänger Adolf Hitlers im Reichs-Kanzleramt, der gebürtige Werler Franz von Papen. Als Hans Humann 1933 recht früh im Alter von 55 Jahren starb, hielt von Papen, damals schon als Vizekanzler Hitlers, die Gedenkrede. Doch schon vom Friedenschluss in Versailles an hatten die Kriegsverlierer versucht das Kapitel „Armenien“ abzuhaken: „Die offizielle deutsche Politik, repräsentiert durch das Außenministerium und die Verhandlungsführung bei den Friedensverhandlungen in Paris und Versailles, war dagegen nur mit Schadenbegrenzung und der Leugnung deutscher Schuld beschäftigt.“ (S. 280)
Das Buch von Jürgen Gottschlich liest sich außerordentlich gut, weil er in jedem Kapitel eine eher an persönlichen Begebenheiten orientierte biografische Skizze schildert, was aber auch teilweise dazu führen kann, dass in der Orientierung an der Zeitabfolge der geschilderten Ereignisse Rückblenden oder Vorblicke nötig sind. Man liest das Buch und wird dadurch zum Augenzeugen, dem der Weg zum Zeitzeugen versperrt ist. Das Quellenstudium ergänzt der Autor durch Vor-Ort-Recherche. Fazit: Die deutsche Beteiligung an der Vernichtung der Armenier im ersten Weltkrieg ist nicht zu leugnen.