Zu: Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, Neuausgabe mit Register und Glossar, Nachword von Michael Brocke, Manesse Verlag, Zürich 2014, 780 Seiten, gebunden, ISBN 9783717523680, Preis: 29,95 Euro
Die erste Buchausgabe dieses Bandes erschien 1949 und war damit in zweifacher Hinsicht historisch. Es war Martin Bubers Antwort auf die Shoah: Die Erzählungen des Judentums aus Osteuropa leben und in ihnen lebt das Judentum weiter. Das Buch ist sicherlich ein Lebenswerk Bubers, in dieser neuen Ausgabe auf dem Einband durch eine Grafik von Marc Chagall aufgewertet. Diese Neuausgabe enthält drei wertvolle Zugaben: Ein Stichwortverzeichnis wichtiger Namen und Begriffe, mit der sich gezielt exemplarische Kurztexte heraussuchen lassen, dazu ein Verzeichnis biblischer Bezugnahmen und das Nachwort des Judaisten Michael Brocke.
Nach der Lektüre des Nachworts wird die biographische Bedeutung und Einordnung der Erzählungen der Chassidim in das Werk von Martin Buber deutlich. Die Erzählungen, die Buber zum Teil schon gedruckt vorlagen und im Judentum Osteuropas verbreitet waren, wollte Martin Buber als lebendiges Zeugnis verstehen. Er hat die ihm vorliegenden Texte bearbeitet und eine Auswahl getroffen. Nicht die esoterische Botschaft der jeweiligen Rabbiner interessierte ihn, sondern die Betonung der Bedeutung der jeweiligen Zaddikim (Lehrer) selbst. In den Erzählungen reduziert Buber die Aussagen auf das Wesentliche. Michael Brocke schreibt: „Schaut man etwas genauer hin, sieht man die Stücke jeweils in ihrer Umgebung, so wollen sie oftmals zu zweit oder zu dritt gelesen werden. Sie sind einander unauffällig thematisch verwandt;“ (S. 756).
Die innere judaistische Deutung wie auch die äußere psychologische liegen Buber fern. Sein Interesse ist vielmehr religionsgeschichtlich. Er liest die Erzählungen als Beispiele der Mystik.
Das sehr umfangreiche Vorwort Martin Bubers lässt sich jetzt besser einordnen. Die Botschaft der Chassidim zielt immer wieder direkt auf die Gegenwart. Deshalb soll Martin Buber in einigen Sätzen selbst zu Wort kommen:
„Im Judentum war, unbeschadet des Glaubens an ein ewiges Leben, stets die Tendenz mächtig, der Vollkommenheit eine irdische Stätte zu schaffen.“ (S. 17).
Nicht die kabbalistische Lehre, sondern die Rückkehr des Messianischen ist eine wichtige Weichenstellung dazu: „Ohne die messianische Hoffnung abzuschwächen, erregte die chassidische Bewegung sowohl in den geistigen wie in den ‚einfachen’ Menschen, die ihre anhingen, eine Freude an der Welt, wie sie ist, am Leben, wie es ist, an jeder Stunde des Lebens in der Welt, wie diese Stunde ist.“ (S. 18).
Und in der Tat ist dieses Werk viel mehr als eine Dokumentation, es ist ein Zeugnis des Judentums selbst wie der mystischen Intention Martin Bubers als des Sammlers und Editors der Erzählungen, die er stark redaktionell bearbeitet hat. Das ist Weltliteratur.
Ich möchte nur ein paar Beispiele meiner Begegnung mit den chassidischen Erzählungen nennen:
Ich persönlich finde ich hier ein Zitat, das ich immer schon benutzt habe, ohne zu wissen, woher es stammt: „Wenn nicht jetzt, wann dann!“ Hier heißt es in den Worten von Jizchak Meir von Ger: „Wenn ich nicht meinen Dienst tue, wer wird ihn für mich tun? Jeder muss seinen Dienst selbst vollbringen. Und weiter spricht er: ‚Und wenn nicht jetzt, wann dann! Wann wird das Jetzt sein? ‘“ (S. 705f).
Ein anderes Beispiel ist das Gedicht „Du“, von dem sicherlich auch die dialogische Philosophie Bubers inspiriert ist: „Wo ich gehe – du! Wo ist stehe – du! Nur du, wieder du, immer du…“ (Levi Jizchak von Berditschew, S. 293).
Eine ganz kurze Geschichte aus den Überlieferungen des Gründers des Chassidismus Israel ben Elieser, genannt der Baal-Schem-Tow: „Der Meister tanzt mit. An einem Abend des Festes der Freude an der Lehre tanzte der Baalschem selber mit seiner Gemeinde. Er nahm eine Schriftrolle in seiner Hand und tanzte mit ihr. Dann gab er die Rolle aus der Hand und tanzte ohne sie. In diesem Augenblick sagt einer der Schüler, der mit den Bewegungen des Baalschem sonderlich vertraut war, zu seinen Gefährten: ‚Jetzt hat unser Meister die leibliche Lehre aus der Hand getan und die geistige Lehre angenommen.“ (S. 116). Freude an der Religion und Freude an der Welt dürfen im Sinn Martin Bubers kein Gegensatz sein.