Die konzentrative Bewegungstherapie betrachten, Rezension von Christoph Fleischer, Fröndenberg und Markus Chmielorz, Dortmund 2021

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Ute Backmann: Sexualität in der konzentrativen Bewegungstherapie, Ernst Reinhardt Verlag, München 2021, broschiert, 172 Seiten mit Sachregister und Literaturverzeichnis, ISBN: 978-3-497-03059-0 (print), Preis: 26,90 Euro

 

Link: https://www.reinhardt-verlag.de/55054_backmann_sexualitaet_in_der_konzentrativen_bewegungstherapie/

 

Im Grunde ist der Titel geschickt gewählt, da er eine Therapieform unter einen bestimmten Aspekt stellt. Dieser Aspekt soll die Sexualität sein.

 

Die Einführung geht zunächst ausführlich und ausdrücklich auf diesen Aspekt des Themas ein. Diese ersten 10 Seiten bilden ein Referat über die Bedeutung der Sexualität für die Psychologie, die Psychoanalyse und Psychotherapie. Praktische Anwendungsbeispiele fehlen hier noch.

 

Hierbei wird auch der Wandel des Verständnisses der Sexualität deutlich, dass diese weniger als unterschwelliges Grundthema angesehen wird, sondern sich hauptsächlich in der Frage der sexuellen Orientierung äußert. Da damit eine Selbstdefinition einhergeht, wird deutlich, dass die „konzentrative Bewegungstherapie“ auf Sexualität ebenfalls nicht direkt eingeht, sondern in ihrer Körperorientierung mitschwingt.

 

Diese Therapieform geht über die rein verbale oder meditative Form der Psychotherapie heraus und ist vermutlich vor allem in der klinischen Therapie möglich, da sie als eine begleitende Gruppentherapie funktioniert.

 

Im dritten Kapitel wird das Thema „Sexualität“ ausgeführt und hier beginnt die Stärke des Buches. Der inhaltliche Aspekt wird durch die Darstellung praktischer Beispiele verdeutlicht. Es geht dabei sowohl um die Übungen selbst, als auch die konkrete Praxiserfahrung.

 

Die Übungen sind ausschließlich körperorientiert von der Erfahrung des eigenen Mundraums bis hin zur Einhüllung in Decken. Man könnte auch sagen, dass es eine reflektierte Körperarbeit ist, die in der anschließenden Gruppensitzung ausgewertet wird.

 

Sexualität ist als Grundphänomen des Lebens dabei präsent, wird aber selten ausdrücklich thematisiert. Hierbei sind Entwicklungsstörungen genauso im Blick wie traumatisierende Erfahrungen wie sexueller Missbrauch oder Vergewaltigungen.

 

Wichtig wird am Ende des dritten Kapitels die Umdeutung des Ödipuskonfliktes durch Ilka Quindeau. Ute Backmann fasst dies so zusammen: „sexuelle Orientierung wird im Rahmen des Ödipuskonfliktes nicht endgültig festgelegt. Sexuelle Orientierung und Begehrensstruktur stellen das Ergebnis fortwährender Umschriften dar und können in verschiedenen Lebensphasen eine Wiederaufnahme mit jeweils unterschwelligen Lösungen finden. (Quindeau 2019). (Zitat S. 66).

 

Der Autorin gelingt es in hohem Maße, den Ansatz der KBT im gesellschaftlichen und medizinischen Kontext zu verorten und dabei einen normativen Blick zu öffnen für diejenigen, die als Lesben, Schwule und Bisexuelle lange als sexuelle Minderheiten und als trans* unter inter* Personen immer noch als geschlechtliche Minderheiten im Bereich von Medizin und Psychiatrie Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen und schwere Menschenrechtsverletzungen erlebt haben. Dass hier Geschlechtsidentitäten als ein Unterkapitel von sexuellen Identitäten erscheinen und nicht getrennt behandelt werden, überrascht allerdings und würde im sexual- und sozialwissenschaftlichen Diskurs nicht nur geteilt werden.

 

Dennoch: Die Reformulierung und Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie im Hinblick auf viel zu lange vorherrschende normative Vorstellungen von binärer Geschlechtsidentität und heterosexueller Identität sind überfällig und dringend notwendig. Dass die Autorin hier auch die psychoanalytischen Forschungsergebnisse zu sinnlichen Erfahrungen, körperlichen Erleben und der Bedeutung von Berührungen zusammenträgt, ist als ein großer Gewinn für die psychotherapeutische Praxis anzusehen – insbesondere auch deshalb, weil immer wieder Anleitungen für Übungen in der KBT angeboten werden.

 

Die Übungen ermöglichen den Klient*innen eine Selbstermächtigung in Bezug auf ihre sexuelle und geschlechtliche Identität. Ein weiteres Kapitel mit hohem Praxisbezug und der Darstellung von therapeutischen Methoden widmet sich störungsspezifischen Aspekten wie Trauma (insbesondere durch sexuelle Gewalterfahrungen), Borderline-Störung, sexuelle Funktionsstörungen, Esstörungen und somatoforme Schmerzstörung.

 

Die psychodynamische Grundhaltung der Autorin durchzieht das Buch und wird im letzten, 6. Kapitel des Buches ein weiteres Mal mit Praxiserfahrungen vermittelt. Es geht um die Weiterentwicklung der Selbstkompetenzen von Psychotherapeut*innen im Hinblick auf Selbstreflexion und Selbsterfahrung: Auch Psychotherapeut*innen haben ein „persönliches sexuelles Skript“ (S. 149ff.), das von Bedeutung ist für Phänomene von Übertragung und Gegenübertragung sexueller und erotischer Inhalte in der KBT.

 

Der Blick richtet sich dabei immer auf die Beziehungsgestaltung und dysfunktionale Kommunikations- und Interaktionsmuster. Das Buch verfolgt das Ziel zu sensibilisieren für unterschiedliche sexuelle und geschlechtliche Identitäten und Psychotherapeut*innen zu ermöglichen, reflektiert und professionell sexuelle und geschlechtliche Vielfalt jenseits binärer und heteronormativer Vorstellungen in der KBT anzuerkennen und wertzuschätzen: „Die binäre Geschlechterpolarität (…) sollte nicht weiter zementiert werden.“ Das ist wegweisend. Die selbstreflektierende Haltung der Therapeut*innen beinhaltet auch eine sensible Haltung im Hinblick auf Diskriminierungs- und sexuelle Gewalterfahrungen.

 

Ein weiteres Kapitel widmet sich den Gruppentherapieformen und deren besonderen Wirkfaktoren für Gestaltungs- und Symbolisierungsprozesse, in denen die Betonung der körperlichen Dimension, leiblicher Wahrnehmung und verbaler Reflexion psychisches Wachstum jenseits von Abwehrmechanismen durch rationalen Bewältigungsversuche ermöglichen.

 

Das Buch ermöglicht den Leser*innen, die auch außerhalb der KBT in therapeutischen, sozialpädagogischen oder seelsorgerischen Kontexten arbeiten, eine biographische Selbstreflexion in Bezug auf die eigene Geschichte von Berührungen, Körperempfindungen, Sexualität, Intimität und schließlich sexueller und geschlechtlicher Identität. Es konfrontiert mit den eigenen Brüchen und dem eigenen psychischen Wachstum und setzt damit einen Kontrapunkt zu einem ausschließlich kognitiven Vorgehen. Es ist ein gelungener, theoretisch fundierter Beitrag zu Bindung, Kommunikation und Interaktion aus Anlass von Praxis für Praxis.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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