Rezension Denkanstöße 2022. Ein Lesebuch aus Philosophie, Kultur und Wissenschaft
https://www.piper.de/buecher/denkanstoesse-2022-isbn-978-3-492-31782-5
Interessanter Querschnitt
Es ist das dritte Jahr, dass ich mir die Denkanstöße zu Gemüte führe. Beim Blick in das Inhaltsverzeichnis hatte ich auf wenige Artikel Lust, jetzt kann ich sagen, dass Isabella Nelte wieder einen interessanten Querschnitt zusammengestellt hat.
Zeitzeugenschaft
Begeistert hat mich der Auszug aus der Autobiographie von Stefan Aust. Sicherlich liegt es auch daran, dass Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Rudi Dutschke Personen sind, die zum kollektiven Gedächtnis meiner Generation gehören. Hier einen Zeitzeugen zu hören, ist schlichtweg spannend.
Der Missbrauch in der katholischen Kirche
Interessanter und verstörenden als ich dachte, war der Artikel über sexuellen Missbrauch und das System Ratzinger, das gerade durch die Veröffentlichung einer Münchener Kanzlei über Missbrauch im Erzbistum München/Freising wieder hochkocht. Es war aber schon vieles bekannt, wie Doris Reisinger und Christoph Röhl in ihrem Buch „Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger“ überzeugend und in der Fülle der Quellen erschlagend zusammentragen. Heute am 24. März 2022 hat der emeritierte Papst zugegeben, dass er eine Falschaussage über seine Teilnahme an einer Sitzung 1980 mit Übernahme eines bekannten Sexualstraftäters aus der Essener Diözese gemacht hat. Vgl. hier S.160 ff.
Gefühle, Wünsche und Ängste in Partnerschaften
Der Bindungseffekt von Ursula Nuber regt zum Nachdenken über das eigene Verhalten und die damit verbundenen Gefühle, Wünsche und Ängste in Partnerschaften an. Es kommt schlicht und einfach geschrieben daher, aber es gewinnt an Tiefe im Rückblick auf eigene Beziehungsmuster. Dass Ursula Nuber die Zeitschrift „Psychologie heute“ herausgegeben hat, davon zeugen ihr guter Stil und ihre Recherchefähigkeit.
Natur und Gesellschaft
Was mir an Fabian Scheidler „Der Stoff aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“ gefällt, ist die Schärfe seiner Analyse, verbunden mit Nüchternheit, sein philosophischer Ansatz und, dass er nicht in Moralin ertrinkt. Unbedingt lesenswert!
Pandemie
Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Pandemie. Der eine bietet kritisch eine Risikoanalyse, der andere fragt nach systematischer Gefahrenabwehr. Beide haben gegenüber den lauten Medien den Vorteil, langsam, leise und eher tiefgründig an das Thema heranzugehen. Allein das tut gegenüber dem Schrillen in der Medienlandschaft gut.
Diskurs über Rassismus
Mit „Der weiße Fleck“ von Mohamid Anjahid, eine antirassistische Anleitung für die weiße Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, wird eine Stimme aus der Minderheitengesellschaft hörbar. In der Radikalität neu für mich. Ich bin gespannt, wie der gesellschaftliche Diskurs über Rassismus in unserer Gesellschaft weiter geht.
Verletzung von Menschenrechten in westlichen Demokratien
Nils Melzer ist Sonderberichterstatter der UN für Folter und Menschenrechtsverletzung und rollt den Fall Julian Assange auf. Dabei weist er nach, dass England, Schweden, Ecuador und USA Folter an Julian Assange ausgeübt haben und trotz seiner Intervention nicht zu einer rechtsstaatlichen Praxis zurückkehren wollen. Ihn treibt die Sorge um die Entwicklung von Menschenrechten bei Gefangenen in westlichen Demokratien um. Ein starker Beitrag, ein Augenöffner zur Wahrnehmung von Verletzung von Menschenrechten. Die durch Medien verbreiteten Narrative über Julian Assange ( ich ergänze über die Corona-Politik) gilt es kritisch zu hinterfragen.
Wir alle werden durch Dauerberieselung in unserer Wahrnehmung stark beeinflusst. Nils Melzer hat einen der stärksten Beiträge in den Denkanstöße 2022 verfasst.