Heideggers Vermächtnis, Rezension von Christoph Fleischer, Fröndenberg 2022

zu: Martin Heidegger: Vorläufiges I – IV (Schwarze Hefte1963 – 1970), Gesamtausgabe Band 102, Herausgegeben von Peter Trawny, Vittorio Klostermann Frankfurt/Main 2022, kartonierte Ausgabe,  441 Seiten, ISBN 978-3-465-02687-7, Preis: 48,00 Euro

 

 

Problematik der „Schwarzen Hefte“

 

Die zu recht problematischen „Schwarzen Hefte“ während der Nazi-Zeit werden hiermit fortgesetzt. Von antisemitischen Äußerungen distanziert er sich nicht, so weit ich das gelesen habe, aber er zeigt auf, dass sein Rücktritt vom Rektorat 1934 auch als Distanzierung gemeint war. Er habe Entscheidungen getroffen, die nicht auf der Linie des damaligen Mainstream lagen.

Doch was haben diese schwarzen Hefte (1963 – 1970) sonst für eine Funktion?

Vertiefung und Bestätigung

 

Es geht um eine Dokumentation von Notizen, die im Zusammenhang stehen mit den Schwerpunkten seines Denkens. Dabei bezeichnet er seine Philosophie mit seinem Nachnamen, spricht von sich als „Heidegger“ und nicht in der ersten Person.

Er geht dabei immer wieder auf sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ ein. Es gibt keine Abkehr von diesem Denken, sondern allenfalls eine Vertiefung und Bestätigung.

Vergessenheit des Seins

Immer wieder kommt er auf die Seinsvergessenheit zurück, die er der neuzeitlichen Philosophie vorwirft, auch in den gewohnten Heideggerschen Sprachspielen wie:

„Die Vergessenheit des Seins und seiner Wahrheit

            wandelt sich in die Enteignis

            das Aussagen in das Entsagen

            der Satz in das Bringen

            das Gespräch in das Erschweigen.“ (Vorläufiges I, Abschnitt b, S. 11)

(Korrigenda: S. 17, 1. Zeile muss es heißen: „Instrumentale“)

Unablässiges Fragen

 

Was ich an Heidegger sympathisch finde, ist die Aufforderung zum „unablässigen Fragen“ (S. 20).

Die Schüler Jaspers und Löwith werden positiv gewürdigt. Hier betont Heidegger die Kontinuität seines Denkens.

Mit „Fernsehkultur“ und „Illustrierten“ setzt er sich kritisch auseinander. „Horkheimer und Konsorten“ scheinen im Begriff der Dialektik der Metaphysik verhaftet.

Aus dem Fragen folgt das „verdankende Denken“ (S. 39), einen Gedanken, den ich ebenfalls sympathisch finde.

Den Impuls von Habermas „mit Heidegger und gegen Heidegger“ greift er auf und dreht ihn kritisch um: „gegen Heidegger – zu Heidegger“ (S. 53).

lyrische Versuche und Aphorismen

 

Zwischendurch finde ich lyrische Versuche, die nicht als Gedichte gezeichnet sind, vielleicht Aphorismen, so zum Dank:

„Wohne, ihn hütend, im Dank“ (S. 74).

Jeder Teil wird von einem Stichwortverzeichnis abgerundet, das Heidegger selbst erstellt hat. Dadurch wird deutlich, dass die Sentenzen keine Tagebuchnotizen sind, sondern bewusste Reflexionen.

(z. B. Industriegesellschaft, S. 139).

 

wenig Biografie, mehr Reflexion

Es gibt keine Datierung. Nur im dritten Teil werden leere Seiten notiert, die den erfahrenen Schlaganfall (1970) als Zäsur deutlich machen. Der Rest des Dritten Teils und der vierte sind sicher nicht nur im Jahr 1970 entstanden. Anspielungen auf die Besuche von Paul Celan, Hannah Arendt und Martin Buber habe ich nicht gefunden. Ein Tagebuch wollen die Schwarzen Hefte ohnehin nicht sein.

Im zweiten Teil kommen bekannte Themen wieder vor. Die Frage nach dem Denken tritt immer mehr in den Vordergrund. Was hier der Abschied der Metaphysik bedeutet, scheint etwa in folgendem Aphorismus auf:

„Es handelt sich nicht mehr um Grundlegungen, Prinzipien, Rückgang in den Grund und um Selbstbegründung, was alles in der Philosophie als die radikalste Aufgabe gilt, es handelt sich ebenso wenig um Sicherung und Gewissheit und Strenge und Beweisbarkeit – sondern nur noch darum: die Sache des Denkens zu finden und in ihr das Denken selbst.“ (S. 196)

Von dort her kritisiert Heidegger auf die gegenwärtige Wissenschaft, die im Grunde Bildung nur noch funktional als Ausbildung definiert. Das Denken der Industriegesellschaft dringt in alle Bereiche des Lebens ein.

Das dichtende Denken

Davon ausgenommen sieht er die Bedeutung der Dichtung, „das Unterwegs zum Eigentümlichen der Sprache“ (S. 204). (Könnte das auch eine Anspielung auf Paul Celan sein? der Rez.)

Kurz vor der Zäsur 1970 finden sich schon im dritten Teil zwei Gedichte, Der „Glockenturm“ und „der Tod“ (S. 247). Später ein Aphorismus als Aufzählung, den ich kurz zitieren möchte:

„Das Gesetz des Sanften.

            Der Sieg des Zarten.

            Die Macht des Geringen.

            Die Pracht des Schlichten.

            Der Glanz des Unscheinbaren.

            Die Stille des Ungedachten.

            Die Ruhe des Einfachen.“ (S. 255)

Das dichtende Denken, das hier immer wieder auch zum Gedicht findet, scheint das Grundthema des dritten Teils. Bei der flüchtigen Durchsicht habe ich eine Erwähnung Pauls Celans nicht gefunden, aber er wird mitgemeint sein.

Der vierte Teil hat keine 20 Seiten und greift noch einmal Grundgedanken von „Sein und Zeit“ und seiner Wirkungsgeschichte auf.

Peter Trawny fügt als Anhang noch ein weiteres Heft hinzu, das nicht zu den schwarzen Heften gehört und auch etwas früher datiert werden muss, überschrieben mit „Furchen“ (S. 369 – 431, einschließlich einiger Beilagen auf eingelegten Zetteln und einem Stichwortverzeichnis).

Diese Rezension ist nicht als wissenschaftliche Zusammenfassung gedacht, sondern als das Aufgreifen von Eindrücken. Die Denkwege Martin Heideggers sind meines Erachtens nicht hinfällig, vielleicht besonders, weil er sich der Instrumentalisierung und Funktionalisierung der philosophischen Debatte und des wissenschaftlichen Denkens entgegenstellt.

 

Das Hohelied der Liebe, Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

Link: https://www.dumont-buchverlag.de/buch/houellebecq-vernichten-9783832181932/

Der neue Roman von Michel Houellebecq „Vernichten“ (2022) nimmt die große Frage vom Werden und Vergehen nicht in einem Akt philosophischen Exkurses auf, sondern in der Erzählung der Lebensgeschichte des Endvierzigers Paul. Paul arbeitet dem konservativen Wirtschaftsminister Bruno zu und unterstützt ihn auch als persönlicher Assistent bei der anstehenden Präsidentschaftswahl 2027. Der Roman ist in naher Zukunft in Frankreich vor einer Präsidentschaftswahl verortet, wie auch schon der Roman „Unterwerfung“. Kleine Spitzen auf gegenwärtige politische und gesellschaftliche Akteure sind bei Houellebecq natürlich en Passant eingearbeitet. Gleichzeitig wird im Genre eines Thrillers von einer geheimnisvolle Terrorismuszelle und deren globalen hochtechnisierten Anschlägen berichtet, die die Geheimdienste und Regierungen der westlichen Welt, aber auch Chinas in Angst, Schrecken und Ratlosigkeit versetzen. Einmal mehr zeichnet Houellebecq die durchaus realistische Gefahr auf, wie eine kleine Gruppe mit genügend finanziellen und technischen Ressourcen die Welt in Atem halten kann. Es bleibt bis zum Schluss in der Schwebe, wer genau hinter den gezielten Anschlägen steht.
Geschickt verwebt Houellebecq die Nachforschungen zu den Anschlägen mit der Berufsbiographie von Pauls Vater Édouard, der bis zu seiner Pensionierung für den französischen Geheimdienst gearbeitet hat.

Ehe und Familie

Um Pauls Ehe steht es schlecht. Seit über neun Jahren leben Paul und seine Frau Prudence zwar in einer schicken Pariser Eigentumswohnung, führen jedoch komplett getrennte Leben. Der Kühlschrank mit den veganen Speisen von Prudence und Pauls‘ Tiefkühlfertigkost – alles fein säuberlich getrennt – wird zum Realsymbol der Trennung von Bett und Tisch. Zu seiner Familie hat Paul so gut wie keinen Kontakt. Das ändert sich erst, als sein Vater einen Hirninfarkt überlebt und als Wachkoma-Patient in ein Pflegeheim in der Nähe seines Anwesens, das er sich mit Pauls Mutter als eine Art Refugium aufgebaut hat, eingewiesen wird.

Die Ehe des schweigsamen Vaters mit der extrovertierten künstlerischen Mutter wurde – so scheint es Paul – von dem gemeinsamen Lebensprojekt, das ländliche Anwesen zu restaurieren, zusammengehalten. Hier ist Paul, der Älteste, mit seiner Schwester Cécile und seinem um etliche Jahre jüngeren Bruder Aurélien aufgewachsen.
Die schwere Erkrankung des Vaters führt zu einer neuen Familiendynamik, angefangen von ersten Gesprächen Pauls‘ und Prudences‘, der Auseinandersetzung mit seiner im katholischen Glauben verwurzelten Schwester und seinem Schwager Hervé, und seinem innerlich weit entfernten Bruder Aurélien, der ganz im Machtbereich seiner intriganten Frau Indy steht.

Houellebecqs Kunst

Nachdem Houellebecq die Figuren seines Familienepos entfaltet hat, erzählt er – völlig unerwartet – wie neues Leben, Begegnung, Vertrauen, Annäherung und sogar ein Erwachen der Liebe geschehen. Für mich sind das die schönsten Geschichten von Liebe, die ich von Houellebecq – ja überhaupt im 21. Jahrhundert – gelesen habe. Das alles wird aus Pauls Sicht erzählt, es ist gar nicht kitschig, auch nicht romantisch, sondern schön – ein neuer Ton bei Houellebecq. „Er musste geduldig sein, sagte er sich immer wieder, sie müssten sich Zeit lassen, aber um ehrlich zu sein, war es angenehm und sogar erregend, sich Zeit zu lassen, denn am Ende würden sie einander zweifellos in die Arme fallen.“ (S.306)
Natürlich dürfen wir nicht allzu lange darin schwelgen, weiterspinnen und träumen, dafür taugt die harte und unschöne Realität nicht. Fantastisch bis grotesk wird der Vater aus dem Pflegeheim von einer Pro-Leben-Guerilla für Schwerstkranke entführt, damit er mit seiner Lebensgefährtin Madeleine zusammenleben kann.

Diese Organisation wird ähnlich wie die militanten Abtreibungsgegner in Amerika von einem schwerreichen evangelikalen Amerikaner finanziert. Pauls Schwager Hervé hat über seine katholisch- identitären Beziehungen Kontakt zu dieser rechten Untergrundbewegung aufgenommen. Hier flirtet Houellebecq wieder einmal offen mit dem rechten Spektrum. Wieso er allerdings die katholische und die identitäre Bewegung gleichsetzt, ist für mich als Deutscher nicht recht nachvollziehbar. Jedenfalls ist sein einfühlsames Schreiben über Édouards‘ Wachkoma ein Plädoyer für ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt.

Kabale und Liebe

Kaum haben die Geschwister halbwegs zueinander gefunden, hat Aurelien die Kraft, sich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich von Indy zu lösen. Er verliebt sich in eine der Pflegerinnen seines Vaters. Diese emanzipative Liebesgeschichte bringt zwei einsame Seelen zueinander, wobei Maryse Aurélien in die sinnliche Liebe einführt. Die hoffnungsvolle Wendung in Auréliens Leben nimmt ein jähes Ende durch einen intriganten Zeitungsartikel seiner Nochfrau Indy. Der Artikel hat den alleinigen Zweck, der gesamten Familie zu schaden. Vor lauter Scham und Schuldgefühlen nimmt sich Aurelien das Leben. Für die Familiendynamik bedeutet das einen Wendepunkt. Wie Édouard alle aufs Land zusammengeführt hat und so etwas wie Heilung im gemeinsamen Kümmern stattgefunden hat, werden mit dem Suizid alle wieder in ihr altes Leben katapultiert. Die Fliehkräfte sind größer als das Kreisen um die Mitte. Die Mitte, die Ruhe, die Stille – ja die Meditation siedelt Houellebecq auf dem Land an. Sie liegt im Schauen der Natur. Ob es Édouard ist, der stundenlang auch gemeinsam mit Paul durchs große Fenster in die Natur schaut, oder Paul und Prudence, die auf der Fahrt durch die Landschaft Halt machen und einfach nur schweigend in die Landschaft schauen, es werden die Schauenden ein Teil des Angeschauten, und es stellt sich selbst beim Lesen ein Stück Frieden ein. Dann schreibt Houellebecq Sätze wie: „Die Gottheit ruhte jetzt, in der Stille dieses schönen Wintertages.“(S.183)

Nach Aureliens Suizid hat der Roman einige Längen, wie etwa die sich anschließende Schilderung des Präsidentschaftswahlkampfs, bevor er wieder im letzten Viertel an Dichte gewinnt. Mir scheint die Konstruktion hier nicht recht gelungen zu sein, vielleicht gibt Houellebecq dem Leser aber auch bewusst eine emotionale Verschnaufpause, damit er sich ganz der wiedergefundenen Liebe von Paul und Prudence und dann Pauls Sterben hingeben kann.

Traum

In keinem seiner früheren Romane spielt das Träumen seines Protagonisten eine derart herausragende Rolle wie in „Vernichten“. Erinnert hat mich das an die großen Romane von Dostojewskij, wobei die Träume bei Dostojewskij in der Bildsprache eindeutiger sind als bei Houellebecq. Pauls Träume sind intensiv, bizarr und lang. Sie sind mitunter so gestrickt, dass der Leser mitunter überlegen muss, was Traum und was Realität ist, etwa der Suizid von Aurelien. Gerade diese Schwebe von Traum und Wirklichkeit hebt die starke Unterscheidung auf und führt zu einem durch die Traumwelt erweiterten Verständnis von Wirklichkeit. Paul ist nach außen hin der Vernünftige, der es nicht gelernt hat über seine Gefühle zu sprechen, aber er hat auch jenseits der Ratio als Person ein Unbewusstes, das zu ihm gehört. Sich Pauls Träume noch einmal genauer anzuschauen ist sicherlich lohnenswert.

Spiritualität und Religion

Noch bevor das Gespräch von Paul und Prudence in Gang kommt, entdeckt Paul, dass Prudence ein Wicca-Magazin bezieht. Auf dieses Wicca-Motiv haben sich die Gazetten, aber auch DER SPIEGEL in der Vorankündigung des neuen Romans gestürzt und meist mehr über die Wicca-Religion berichtet als im Roman darüber erzählt wird. So wird zwar erzählt, dass Prudence eine Sabbat-Feier der Wicca-Anhängerinnen besucht und das Jahr in diverse Sabbatfeste eingeteilt ist, was aber Prudence dort -wie auch viele andere Städter – erlebt oder warum sie dort für sich eine spirituelle Quelle gefunden hat, wird nicht erklärt. Es scheint aber auf eine Verbundenheit aller mit allen hinaus zu laufen. Dabei spielen die festen Prinzipien des Männlichen und Weiblichen eine besondere Rolle. (s. S. 354) Ein Schelm, wer hier nicht denkt, dass Houellebecq die Wicca-Religion gegen den Gender-Kult ins Feld führt. Für Prudence spielt ihre neue spirituelle Heimat in der Kommunikation mit Paul keine Rolle. Fast scheint es, als hätte Paul intuitiv verstanden, dass die Wicca-Spiritualität etwas mit der neuen Prudence zu tun hat. Ihr gereiftes Frau-Sein, ihre erotische Sinnlichkeit, ihre Fähigkeit im Hier und Heute zu leben und zuletzt auch in der Annahme von Pauls Sterblichkeit und ihre Hoffnung auf die Wiedergeburt ihrer Liebe in einem zukünftigen Leben sind positive Wirkungen ihrer Spiritualität. Das wird von Paul nicht analytisch zerredet, sondern dankbar erlebt. Bei Houellebecq ist die Religion lebendig und sie trägt zur Lebensbewältigung bei. Houellebecq hat kein Interesse am Wicca-Kult, er dient ihm nur als Vehikel für die Aussage, dass der Westen immer noch nicht verstanden hat, dass der Mensch ohne Religion verloren ist. Eine durch Technik, Konsum und Macht aufgebaute Gesellschaft stillt niemals die Sehnsucht der Seele nach transzendentaler Geborgenheit angesichts von Leid und Endlichkeit. Das katholische Christentum begegnet dem Leser in der Gestalt von Cécile und Hervé. Sie werden als grundehrlich, aber auch als langweilig gezeichnet, wobei Cécile als Betschwester und Ehemann-Versorgerin noch biederer daherkommt als ihr arbeitsloser Mann Hervé. Die Libido liegt eindeutig bei der Wicca-Anhängerin Prudence und bei Auréliens Liebschaft mit der aus Benin geflüchteten katholischen Maryse.

Ein Seitenhieb auf das Christentum sitzt perfekt, wenn Paul sinniert, dass Sinnlosigkeit keine christliche Denkweise sei. (428) Damit trifft Houellebecq die allgemeine Klageunfähigkeit im Christentum. Da der Erlöser schon in die Welt gekommen ist und zukünftig in Herrlichkeit alles recht ordnet, ist das Christentum der Gefahr des Duldertums ausgesetzt. (380)

Eros und Tod

Die schon auf dem Landwesens seines Vaters auftretenden dumpfen Zahn- und Kieferschmerzen Pauls‘ stellen sich als bösartiges Krebsgeschwür heraus, das sofort mit Strahlen- und Chemotherapie und dann mit plastischer Chirurgie unter Neuaufbau des Kiefers und der Zunge behandelt werden soll. Paul nimmt die Nachricht erstaunlich gelassen hin, erst mit der Zeit trifft ihn sein Schicksal als Kränkung. „Jede Krankheit war nun in gewissem Sinn eine beschämende Krankheit, und tödliche Krankheiten waren selbstredend die schändlichsten von allen. Der Tod war die ultimative Unanständigkeit.“(550)
Michel Houellebecq läuft mit der Schilderung von Pauls Auseinandersetzung mit der Krankheit von Diagnose bis Endstadium literarisch zur Hochform auf. Wer sich nicht den gesamten Roman vornehmen will, lese das letzte Kapitel sechs. (S. 499ff)

Pauls körperlicher Zerfall wird durch eine verdichtete Beziehung mit Prudence ausgeglichen. Als wäre die Liebe noch einmal zur richtigen Zeit zurückgekehrt, endet „Vernichten “ zwar mit Pauls körperlichen Zerfall, aber mit einer umso stärkeren sich entfaltenden Liebe und einem Glauben an eine zukünftige Vereinigung. Selbst der agnostische Paul lässt sich von der Beschäftigung mit Nahtoderfahrungen einen Spalt Hoffnung offen und Prudence religiöse Gewissheit lässt auch ihn Frieden finden, dass es auch mit ihr gut weitergeht. Paul und Prudence sprechen nicht viel, sie schweigen gemeinsam, spüren ihre Körper und vereinigen sich bis zuletzt mit lustvoller Hingabe. Für den einen oder anderen mag das irritierend sein, für Paul und Prudence – deren Ehe und Liebe neun Jahre auf Eis lag – ist es stimmig, schön und vor allem tröstlich. Eros und Tod sind seit der Antike bis in die Gegenwart (nicht nur) literarisch starke Kräfte, die aufeinander bezogen sind, sich abstoßen und unbändig anziehen.

Fazit

 

„Familie und Ehe waren die beiden verbliebenen Pole, die das Leben der letzten Bewohner des Abendlandes in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ordneten.“(453) Zugleich beruhigt und erschreckt erlebt Paul, dass selbst Familie immer gleich in ihren Beziehungen untereinander ist: „unverwüstlich und hoffnungslos.“(453) Houellebecqs Untergangsphantasien des Abendlandes, nach denen das ganze System unweigerlich vor dem Kollaps steht, zieht sich scharfsinnig und grotesk durch den Roman. Halt und Neuorientierung liegen für Houellebecq in einer wie immer auch verwurzelten und gelebten kosmischen Spiritualität, die nicht wie die Ratio unterscheidet, sondern alles mit allem verbindet. Die Fliehkräfte und das Zerstörungspotential des Systems sind so groß, dass allein die erlebte Liebe zweier Menschen dem Leben Sinn abtrotzen kann.
Das ist eine sehr resignative Sicht auf die gegenwärtige Gesellschaft, die Houellebecq als unheilbar skizziert. Darin bleibt er sich treu. Neu schält sich in „Vernichten“ heraus: Erlösung und Heilung geschehen allein durch Liebe.
Das ist auch die Kernbotschaft der christlichen Religion, dessen heimlicher Bewunderer Houellebecq ist. Im christlichen Glauben und im Vollzug des Glaubens wird die Liebe nicht verengt auf die Liebe eines Paares, sondern sie umfasst alles Leben und durchdringt den ganzen Kosmos.
Mit „Vernichten“ hat Houellebecq einen vielschichtigen Gesellschafts-, Familien- und Liebesroman geschrieben. Ich hoffe, es ist nicht sein letzter!