„Selig sind die Frieden stiften,…“, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025

Predigt Buß- und Bettag 2025

 

 „… denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Mt 5,9

 Ihr Lieben,

Ihr habt wie alle Jahre wieder mit den Kindern und Eltern des Familienzentrums St. Martin gefeiert. Ein Fest, das immer noch sehr beliebt ist. Die Geschichte des Heiligen Martin berührt Kinder und Erwachsene. Mit Lichtern wird durch die Straßen gezogen, St. Martins-Lieder werden gesungen, Weckmänner werden an die Kinder verteilt. Die Geschichte, wie der Offizier St. Martin seinen Mantelumhang teilt und die Hälfte des Mantels einem frierenden Bettler vor den Stadttoren gibt, wird erzählt und vielerorts auch gespielt.

Erinnerung an St.Martin

Weniger bekannt aus dem Leben St. Martins ist, dass er als 15jähriger von seinem Vater gezwungen wurde in das römische Heer einzutreten und dort ungefähr mit vierzig Jahren, nachdem er getauft wurde, den Militärdienst quittierte. Der Erzählung nach soll Martin vor Kaiser Julian getreten sein mit den Worten „Bis heute habe ich dir gedient, gestatte mir, dass ich jetzt Gott diene. Ich bin Soldat Christi. Es ist mir nicht erlaubt, zu kämpfen!“

In den ersten Jahrhunderten nach Christi war es weit verbreitet, dass Männer, wenn sie Christen wurden, sich weigerten die Waffe in die Hand zu nehmen. Für sie und für viele christliche Gemeinden war klar, es gilt Gottes Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Und auch Jesus war ihr Vorbild. Seine Gewaltlosigkeit und sein Aufruf zur Feindesliebe waren für die ersten Christen nicht naive Spinnerei, sondern der Weg in ein neues Leben, dass die Herrschaft der Mächtigen auf den Kopf stellte. Oft genug wurden sie für ihre Gewaltlosigkeit und ihre Kriegsdienstverweigerung nicht nur verlacht und verspottet, mussten Repressalien hinnehmen, sondern sie wurden von den Herrschern getötet. Sie starben als Märtyrer, weil sie Soldaten Christi waren. Dass sie ihren Überzeugungen treu waren, brachte ihnen bei den Mitmenschen viel Respekt ein. Leben und Glauben vielen nicht auseinander, sondern der gelebte Glaube war eine Kraft, die nicht zu töten war. Nachfolge Christ war gelebte Kreuzesnachfolge. Hatte Jesus nicht gesagt: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden nimmt an seiner Seele? Wer sein Leben aber um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen. Ein jeder nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“(Mk 8,34ff)

„Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15)

Mit diesen Worten Jesu möchte ich uns und vor allem meine Evangelische Kirche zur Buße rufen. Kehrt um! Verlasst die Wege der propagierten Kriegstüchigkeit! Widersprecht doch endlich den Abermilliarden Investitionen in Waffensysteme, die zu einer endlosen Rüstungsspirale führen. Aber meine Kirche schweigt. Sie ist erstarrt. Oder schlimmer: Sie glaubt nicht mehr dem Evangelium. Wenn die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Annette Kurschuss zu Beginn des Ukrainekriegs sagt: „Waffenhilfe ist Nächstenliebe!“ verkehrt sie das Evangelium ins Gegenteil. Wenn die EKD ihre neueste Friedensdenkschrift (2025) herausbringt und darin den Besitz von Atomwaffen unter der Hand still legitimiert und nicht ächtet, nimmt sie die Zerstörung allen Lebens auf dem Globus in Kauf, und opfert Jesus und ihren eigenen Glauben auf dem Altar der Abschreckung. Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel!

Aber zurück zu unseren Kindern. Was sollen sie lernen? Was sollen wir sie lehren? Wie reagieren wir auf die Bundeswehrwerbung, die jungen Männern wie Frauen mit Kameradschaft und sinnvollen Einsätzen für Demokratie anwirbt? Wie reagieren wir als Christen darauf, dass die Bundeswehr in die Schulen geht, um junge Frauen und Männer anzuwerben? Wie reagieren wir als Christen darauf, dass Sönke Neitzel, Carlo Masala, Rodrich Kiesewetter und andere sogenannte Militärexperten behaupten, ein Krieg mit Russland stehe kurz bevor? Das war der letzte Friedenssommer, sagen sie und schüren Angst ohne Ende. Wie stoppen wir die mentale Umerziehung zur Kriegstüchtigkeit unserer Kinder und der ganzen Gesellschaft? Wie begegnen wir der unverhohlenen Kriegstreiberei in vielen Medien?

Wenn die sich klein- und gesundschrumpfenden Kirchen überhaupt noch eine Botschaft für ein zukünftiges Europa haben, dann kann es doch nur die Botschaft: „Kehrt um!“ sein. Kehrt um von eurem einseitigen Setzen auf Waffensysteme und einer Aufrüstung ohne Ende, sucht endlich wieder Diplomatie und Versöhnung, baut Brücken der Verständigung, stoßt einen europäischen Friedensprozess an, sonst endet das Friedensprojekt Europa in ein Kriegsprojekt. Das ist Selbstzerstörung pur. Dazu kommt: Deutschland soll wieder größte Militärmacht Europas werden.  Das haben unsere Väter und Mütter nicht gewollt!

Hat dieser Stellvertreterkrieg denn nicht schon genug Menschenleben gekostet und Schaden angerichtet? Beide Seiten beharren auf ihre Maximalforderungen. Der Klügere gibt nach. Warum widersprechen so wenige?

Kehrt um!

Aber vielleicht hört uns schon längst niemand mehr. Wir Christen sind einfach – je höher es in der Institution Kirche geht, je mehr – zu angepasst. Wir wollen angesehen sein und merken nicht, dass wir schon längst nicht mehr systemrelevant sind. Das Geld ist es. Die Rüstungsindustrie soll die Retterin aus der wirtschaftlichen Krise sein. Ja, spinnt denn unsere Regierung?

Militärdienstverweigerung ein Zeugnis des Glaubens

Aber ich brauche gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen: Umkehr beginnt bei uns selbst. Wollen wir Jesus in seiner Gewaltlosigkeit nachfolgen? Wollen wir Soldaten Christi werden – ohne Waffengebrauch? Wollen wir unsere Kinder friedens- oder kriegstüchtig machen?

Ich wünsche mir eine Kirche und ein neues Lernen in der Kirche, wie Gewaltlosigkeit in den Konflikten unserer Zeit geht. Ich wünsche mir eine Kirche, die sich wieder an ihre erste Zeit erinnert, wo Militärdienstverweigerung ein Zeugnis des Glaubens war.

Ausgerechnet ein Philosoph, nämlich Olav Müller von der Humboldt-Universität Berlin, brachte kürzlich in einen Radiointerview folgende Idee für ein verpflichtendes Jahr für junge Frauen und Männer zur Sprache. Die jungen Frauen und Männer sollten die Möglichkeit haben zu wählen, ob sie ihre Dienstzeit für die Gesellschaft in der Bundeswehr oder mit einem  intensiven Lernen von Verteidigung durch gewaltfreie Aktionen und Maßnahmen verbringen. Denn auch Friedenstüchtigkeit will gelernt sein.

Lasst uns umkehren, dazu ist es nie zu spät, und unseren Glauben an das Evangelium festigen mit Jesu Seligpreisung: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

 

 

Feindesliebe: verrückt, unsinnig, unmöglich!?, Dr. Vera Leberecht, Herzogenrath 2025

Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 

 9. November 2025, Evangelische Lydia-Gemeinde Herzogenrath, Lukas-Gemeindezentrum, Herzogenrath-Kohlscheid

 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes, des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!

(Amen)

Wir hören den Predigttext aus dem Lukasevangelium im 6. Kapitel. Da spricht Jesus:

27Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. 30Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!

32Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. 33Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. 34Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. 35Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

Was für ein Text. Was für ein Anspruch! Und: Was für eine zutiefst in uns lebende Sehnsucht berührt Jesus da.

Viele von uns haben in den letzten Wochen mitgefiebert, mitgebangt, gebetet und gehofft beim Blick auf den fragilen Prozess zurück in ein friedliches Miteinander in Gaza. Beim Hören und Lesen der Nachrichten scheint es fast täglich, dass das eine Aufgabe ist, die die menschlichen Möglichkeiten übersteigt. Fast möchte man darüber verzweifeln. Aber Glauben geht anders. Da ist die Tür immer mindestens einen Spaltbreit offen für die Hoffnung.

Diese Hoffnung entgegen allen äußeren Anzeichen halten schon die alttestamentlichen Propheten immer wieder hoch, wie Micha in dem starken Stück, das wir gerade gehört haben [der alttestamentlichen Lesung aus Micha 4,1-5]. Gott wird hier als der Handelnde, als der Friedens-Initiator beschrieben. In dieser Tradition stehen wir! Das ist eine der Kraftquellen, zu der uns unser jüdisch-christlicher Glaube immer wieder einlädt. Damit wir das augenscheinlich so hoffnungslose tägliche Leben ertragen und hoffnungsfroh gestalten können.

An dieser Quelle hat auch Jesus immer wieder aufgetankt. Auf diesem Fundament stand er. Bei Gott hat er immer wieder Kraft gefunden. Vor diesem Hintergrund, auf diesem festen Boden stehend, so erfahrungsgesättigt stellt nun Jesus seinen Anspruch auf Feindesliebe. Und der klingt doch echt verrückt, eine unsinnige Zumutung, utopisch. Hören wir also noch einmal genauer hin, was Jesus uns hier als Zuspruch und Anspruch sagt.

  1. „Liebet eure Feinde“: verrückt? Auf jeden Fall! Wir Christinnen und Christen sind im wahrsten Sinne ver-rückt. Nicht von dieser Welt. Wir stehen als Gemeinde Gottes in einem anderen Referenzrahmen. So spricht Gott schon zur Zeit des AT mehrfach zu Mose: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3Mo 11,44.45; 19,2). Und „heilig“ bedeutet hier weniger das, was wir heute vielleicht eher hören, etwa ethisch oder moralisch hochstehend und besonders brav. Nein, es heißt, abgesondert für Gott, zum exklusiven Tempelbereich gehörend. Es heißt Thomas Merton folgend, dass wir bei aller äußeren Aktion dadurch definiert sind, dass unsere Wurzeln tiefer reichen als die sichtbare Welt um uns herum. Dass wir in unserem Inneren bei Gott zur Ruhe kommen können und dass daraus unsere Kraft kommt für beherztes Handeln. Unsere Perspektive ist tiefer. Und weiter. Sie reicht über diese Welt hinaus. Das ist eine echte Verschiebung unserer Ausrichtung, da werden wir tatsächlich ver-rückt. Das gibt uns im besten Fall Um-Orientierung im Leben und lässt uns unsere Prioritäten neu ordnen.

Diese Ausrichtung auf Gott ist dem Evangelisten Lukas besonders wichtig. Er ist der Evangelist, der das mehr als seine „Kollegen“ Matthäus, Markus und Johannes in seiner Jesus-Biographie in den Mittelpunkt stellt: Es geht um Gott! Es geht um Jesu ganz besondere Beziehung zu ihm (Er spricht Gott von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater an) — und dann auch um unsere.

Was heißt das denn nun konkret für uns? Was erwarten wir denn tatsächlich (noch) von Gott? In unserem eigenen Leben, in der Gemeinde, gar für das, was derzeit bei uns gesellschaftlich passiert? Was ist möglich, wenn wir die Bibel lesen als ein Wort „wie Feuer,… und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“ (Jer 23,29)? Wer, wenn nicht wir, kann denn so manchem gesellschaftlichen Diskurs eine weitere Perspektive vielleicht nicht entgegen-halten, aber sie wenigstens offen-halten? Was könnten wir mit Gottes Hilfe sowohl als Individuen als auch als Kirche bewegen, wenn wir uns etwas mehr von Gott ver-rückt machen ließen?!

Da geht doch noch was! Wir glauben an einen mächtigen Gott! Da ist doch noch so viel mehr „drin“ als ein lascher Gott, in dessen Wort wir uns nur noch bei dem bedienen, was sich wohltuend und gefühlsstreichelnd für im besten Fall lieb gewordene, aber nicht wirklich aufrüttelnde Zeremonien am Sonntagmorgen oder Heiligabend eignet. Ein GOTT, dessen manchmal unbequeme Ansprüche wir lieber unter den Tisch fallen lassen, weil er in unseren aufgeklärten und verteidigungspragmatischen Zeiten doch sowieso als überholt angesehen wird.

Wie soll so ein zur Bedeutungslosigkeit eingehegtes Überbleibsel christlicher Tradition denn noch jemandem, der ganz verschluckt wird von der Dauerbelustigung am Handy oder der allgegenwärtigen Drohnenangst, in den Gottesdienst locken? — Und was erwarte ich persönlich denn tatsächlich (noch) von Gott? Vielleicht können wir ja versuchen, etwas weniger angepasst und etwas mehr ver-rückt zu sein?!

  1. Denn ja, es ist verrückt: Liebet eure Feinde! Außerdem ist es auch noch unsinnig, eine Zumutung. Es ist keine sinnlose (!) Challenge, die Jesus hier seinen Zuhörer_innen aufgibt. Wohl ist es eine Zu-Mut-ung im besten Sinn.

Jemandem, der mich schlägt, auch noch die andere Wange hinhalten? Jemandem, der mir meinen Mantel nimmt, auch noch den Pulli geben? Genau darin besteht die Zumutung. Dass Jesus uns herausfordert: Überdenkt die Norm. Dreht das Normale um. Dreht den Spieß um?! Im menschlichen System von Geben und Nehmen gilt „Wie du mir, so ich dir“. Du produzierst Waffen, also kurble ich meine Wirtschaft an und mache noch mehr. Dann bekommst du sicher ganz viel Angst und streckst mir die Hand zum Frieden entgegen. Oder?!

Diejenigen von uns, die Geschwister haben oder mit anderen Kindern irgendwann in unserem Leben mal Streitigkeiten hatten, wissen: Wenn dich der oder die andere haut, dann hau am besten zurück so fest du kannst. Dann hört das Gegenüber direkt auf. Oder?!

Seltsam eigentlich, dass sich etwas, das sich doch weder im Kleinen noch im Großen jemals wirklich bewährt hat, plötzlich wieder als sinnvoll, als zielführend gilt. Dass es sich in den letzten Monaten gar nicht heimlich, gar nicht still und leise seinen Weg zurück in unseren gesellschaftlichen Konsens gebahnt hat. Während Jesu Aufforderung als „unrealistisch“, als „naiv“ weggewischt wird.

Was passiert, wenn wir unser Verhalten verschieben von „Wie du mir, so ich dir“ nach „Wie Gott mir, so ich dir“? Vielleicht würden wir ja erleben, dass wir, wenn wir aus dem scheinbar unausweichlichen Spiel der sich hochschaukelnden Drohungen und Gegendrohungen aussteigen, gar nicht schwächer werden, sondern im Gegenteil freier und stärker?!

Gut, sagt ihr jetzt. Die Theorie klingt prima. Und ja, wir wollen alle versuchen, etwas netter zu sein, wenn wir heute beim Nachhausekommen der unmöglichen Nachbarin über den Weg laufen. Aber im großen Rahmen muss man doch auch vernünftig sein. Denn wie soll das funktionieren:

  1. „Liebet eure Feinde!“ Letztlich bleibt das doch utopisch. —Oder vielleicht nicht?! Liebet eure Feinde, ist das wirklich so weltfremd? Jesus selbst kann man diesen Vorwurf jedenfalls nicht machen. Ihm geht es hier um viel mehr als eine schöne fromme Idee. Es geht ihm um die direkte praktische Umsetzung. Unser Bibeltext ist eingebettet in die sog. Feldrede (quasi Lukas’ Version der Bergpredigt aus dem Matthäus-Evangelium). Und direkt im Anschluss an diese Rede schildert Lukas, wie Jesus in Kapernaum den Knecht eines Hauptmanns der römischen Besatzungsmacht heilt. Moment mal: Die Römer, das waren doch die Feinde Israels? Und was macht Jesus? Er heilt einen von ihnen. Und zeigt uns so, ganz ohne Worte: Es lohnt sich, immer wieder mal zu hinterfragen: Wer ist denn überhaupt mein Feind? Und wer ist mein Mitmensch, der mein Verständnis, meine Hilfe, meine Zuwendung braucht? Populistische Parteien schüren ja oft Ängste, indem sie Feindbilder an die Wand malen, Stereotype über „uns“ und „die anderen“ heraufbeschwören. Sobald wir jedoch jemanden von „denen da“ persönlich kennen lernen, wird oft unsere Wahrnehmung viel differenzierter. Selbst will ich schließlich auch nicht auf meine Nationalität oder Hautfarbe reduziert werden — ich bin doch viel mehr als das.

Okay, sagen wir vielleicht, aber Jesus war ja auch Gottes Sohn. Und das ist ja alles sehr lange her. Wie soll das denn funktionieren, so ein radikales Aussteigen aus der Logik von „Wie du mir, so ich dir“? Heute, in unserer Gesellschaft? Nun ja, ein Blick in die Geschichte zeigt: Er ist nicht der Einzige geblieben!

  • In Pennsylvania hat der Quäker Benjamin Lay als einzelner Privatmann (!) jegliche durch Sklavenarbeit entstandene Waren boykottiert und Gastgeber, die Sklav_innen hatten, gemieden. Ein Vierteljahrhundert individuellen Boykotts und Agitation haben dann 1758 dazu geführt, dass die Quäker in Philadelphia die Sklavenhaltung geächtet haben. Die Quäker und auch andere christliche Gruppen haben durch ihr anhaltendes gewaltfreies Handeln entscheidend dazu beigetragen, dass Sklavenhandel und Sklaverei in immer mehr Ländern gesetzlich verboten wurden.
  • Im Jahr 1955/56 fand in Montgomery, der Hauptstadt von Alabama, der berühmt gewordene Busboykott statt, ausgelöst von Rosa Parks und mit organisiert von Martin Luther King jr.: Ganz ohne Gewalt war das ein entscheidender Protest gegen die Politik der Rassentrennung in den USA.
  • In Deutschland wurde nach dem 2. Weltkrieg das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht im Grundgesetz verankert.
  • Seit 1983 gibt es das Kirchenasyl, mit dem Schutzsuchende vor einer Abschiebung bewahrt werden können.
  • Die Montagsdemonstrationen in der DDR haben 1989/90 zur Friedlichen Revolution, zur Wende, geführt. Genau heute vor 36 Jahren fiel die innerdeutsche Mauer, lasst uns daran denken: Was für ein — ganz reales — Wunder!

Bei all diesen friedlichen, gewaltfreien Aktionen haben Christinnen und Christen eine entscheidende Rolle gespielt. Sie waren ver-rückt genug, um über bestehende Rahmen hinaus zu denken und zu handeln. Sie haben sich von Gott herausfordern lassen, haben sich etwas zumuten lassen und anderen etwas zugemutet. Haben genug von Gott erwartet, der unseren Verstand übersteigt, um etwas zu wagen.

So wünsche ich mir auch für uns Glauben und Leben als Kirche Jesu in dieser Welt. Glauben, der tiefer verwurzelt ist als auf der Oberfläche unseres Alltags. Eine Kirche von Menschen, die mehr erwarten als das, was wir logisch fassen können. Und die darum auch mutig handeln.

Die sich nicht gemütlich einrichten, sondern als lebendige Fische gegen den Strom schwimmen. Die hoffen, wo nach menschlichem Ermessen kein Grund zur Hoffnung mehr ist. Darum: „Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Mehr als nur Ortsgeschichte, Pressehinweis, Hartmut Hegeler, Unna 2025

Hartmut Hegeler: Rittersitz in Unna-Massen. Geschichte des adligen Rittergeschlechts von Romberg und Haus Massen.
Schriftenreihe der Stadt Unna 66. Stadtmarketing Unna, 2025, ISBN 978-3-927082-70-0
Hardcover 24,90 €

Das neu erschienene Buch von Hartmut Hegeler beleuchtet auf 298 Seiten die Geschichte von Haus Massen und der adeligen Familie von Romberg von den Anfängen bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Erstmals liegt hiermit eine umfassende Gesamtdarstellung der Geschichte des Rittersitzes dieser evangelischen Adeligen und ihrer Familien vor. Diese wird eingebettet in die Zeitgeschichte der Stadt Unna und der Historie der Grafschaft Mark. Diese Aristokraten gehörten zu den wohlhabendsten Familien in Westfalen, verkehrten mit den einflussreichen Personen ihrer Zeit und vermehrten durch geschickte Heiratspolitik Einfluss und Besitz. Doch sie waren auch von den Schattenseiten des Schicksals betroffen, von Krieg, Bankrott, Wahnsinn und Mord.

Viele Grabsteine in der Stadtkirche zeugen von ihrem Einsatz. Als der Kirchturm des evangelischen Gotteshauses in Unna am 4. Juni 1559 während des Nachmittagsgottesdienstes durch einen Blitzschlag entzündet wurde, ließ ihn die Freifrau Grude von Haus, Witwe von Bernd von Romberg, auf ihre Kosten wieder aufbauen. Seit der Zeit besaß die Familie von Romberg ein besonderes Läuterecht in der Kirche zu Unna. Zwei Kirchenbänke mit je vier Sitzen gehörten dem Rittergut Massen und standen noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Stadtkirche.

Die Geschichte des Hauses Massen reicht weit über lokale Heimatgeschichte hinaus. Der berühmte Pfarrer Philipp Nicolai beschrieb in einem bis dato unbekannten Brief vom 14. April 1586 in bewegenden Worten die Rettung der Evangelischen in der Schlacht von Schwelm durch den „Romberger“ von Haus Massen.

Urkunden, Akten und erschütternde Quellen werfen neues Licht auf das Schicksal von dem Rittersitz Haus Massen. Die Historie der Adelsfamilie wird angereichert durch umfangreiches Bildmaterial (u.a. Abbildungen, Wappen, historische Karten) sowie genealogische Quellen. Ein Index erschließt Namen von Personen und Orten.

Hartmut Hegeler, Pfr.i.R., hat zahlreiche historische Arbeiten zur Geschichte der Frühen Neuzeit und zur Lokalgeschichte veröffentlicht.