Predigt am Sonntag Sexagesimae 2020, Markuskirche, Evangelische Lydia-Gemeinde Herzogenrath
Liebe Gemeinde,
im jüdischen Lehrhaus gibt es die Tradition, Kindern zwischen drei und sechs Jahren das Lesen der Heiligen Schrift beizubringen. Von Anfang an sollen die Kinder die Tora lesend lieben lernen. Die Lehrhaustradition verehrt die Tora, die fünf Bücher Mose, als Gottes heiliges Wort an Israel. Gleichzeitig wird im Lehrhaus auch das kritische Befragen eines Textes eingeübt. Von allen Seiten wird ein Text fragend betrachtet. Es ist keine Infragestellung der Tora, eher ein Befragen und ein Fragen-Einüben. Oft gibt es keine eindeutige Antwort auf die Fragen. Genau das ist der Spielraum, wie der heilige Text am Leben bleibt und sich mit dem Leben der Fragenden verbindet.
In der ersten Lesestunde malt der Lehrer die ersten und die letzten vier Buchstaben des Alefbets an die Tafel. Nach dem Aufschreiben liest er die Buchstaben laut vor. Dann bestreicht er die Buchstaben mit etwas Honig und bittet die Kinder, die Buchstaben aufzulecken. Ein sinnlicher Akt, der sich den Kindern einprägt. Hier wird die Gabe der Tora rituell aktualisiert. Die Buchstaben der Tora werden sinnlich erfahren. Die Tora schmeckt süß wie Honig.
Die Tradition geht zurück auf die Berufungsgeschichte des Propheten Ezechiel.
Teile der Berufungsgeschichte bilden den heutigen Predigttext. Lassen wir den Text zu uns sprechen:
Ezechiel 2 – 3,3 (ich habe den ganzen Abschnitt gewählt)
2.1 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden. 2 Und als er so mit mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte dem zu, der mit mir redete.
3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den abtrünnigen Israeliten und zu den Völkern, die von mir abtrünnig geworden sind. Sie und ihre Väter haben sich bis auf diesen heutigen Tag gegen mich aufgelehnt. 4 Und die Kinder, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Zu denen sollst du sagen: »So spricht Gott der Herr!« 5 Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist.
6 Und du, Menschenkind, sollst dich vor ihnen nicht fürchten noch vor ihren Worten fürchten. Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich, und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten vor ihren Worten und dich vor ihrem Angesicht nicht entsetzen – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, 7 sondern du sollst ihnen meine Worte sagen, sie gehorchen oder lassen es; denn sie sind ein Haus des Widerspruchs.
8 Aber du, Menschenkind, höre, was ich dir sage, und widersprich nicht wie das Haus des Widerspruchs. Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde.
9 Und ich sah, und siehe, da war eine Hand gegen mich ausgestreckt, die hielt eine Schriftrolle. 10 Die breitete sie aus vor mir, und sie war außen und innen beschrieben, und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh.
3.1 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was du vor dir hast! Iss diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel!
2 Da tat ich meinen Mund auf und er gab mir die Rolle zu essen 3 und sprach zu mir: Du Menschenkind, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe. Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.
Liebe Gemeinde,
was für eine Berufungsgeschichte! Sie macht den Wandel deutlich und die Verunsicherung, was Gottes Wort überhaupt noch bewirken kann. War es für den Propheten Jeremia noch selbstverständlich, von der Selbstwirksamkeit und der Machtfülle des Wortes Gottes auszugehen: „Ist mein Wort nicht wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“(Jeremia 23,29), heißt es relativierend nüchtern in unserer Berufungsgeschichte: „und du sollst ihnen meine Worte sagen, sie gehorchen oder lassen es.“(Ezechiel 2,7)
Genauso wie die Menschen sich verhärtet haben, sich verschlossen haben gegenüber Gottes Geboten und seiner Weisung, von Gott nichts mehr halten, verstockte Herzen haben, soll Ezechiel sich hart machen gegenüber den Worten seiner Widersacher. Ezechiel, um es modern zu sagen, soll resilient werden gegenüber den Worten und Einflüsterungen derer, die ihn menschlich gesehen das Fürchten lehren. Ezechiel soll das Gift ihrer Worte und Gedanken, soll ihren Geist der Brandstiftung, der Revolte und der Kriegsführung nicht in sich einlassen. Das ist schwer, denn die Rädelsführer haben die Mehrheit und üben Gewalt aus. Sie sind ein „Haus des Widerspruchs“ gegen den Willen Gottes, gegen den Bund Gottes mit seinem Volk und seiner Schöpfung. Sie vertrauen auf menschliche Macht, statt Gott zu vertrauen. Sie achten und ehren Gott nicht mehr in ihrem Verhalten, sie jagen Götzen und dem Verführungsgeflüster selbsternannter Götter nach. Sie brechen das Recht und setzen auf Gewalt.
Das erinnert mich doch sehr an Ausschnitte aus der Eröffnungsrede von Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier auf der Münchener Sicherheitskonferenz, die diese Woche stattfindet. Statt den Frieden zu sichern, Völkerrecht und Menschenrechte zu achten, einen gemeinsamen Weg in der Völkerverständigung zu suchen, gilt wieder vermehrt das Recht des Stärkeren, wird aufgerüstet und sich in Stellung gebracht. Mit diesen und ähnlichen Worten legt Steinmeier den Finger prophetisch in gegenwärtig offene Wunden.
Zu nichts anderem beruft Gott Ezechiel, stellt ihn auf die Füße, begabt ihn mit seinem Geist, furchtlos die Wahrheit zu sagen: Ach und Wehe soll der Prophet über den eingeschlagenen Weg ausrufen. Die Klage über Jerusalem soll er anstimmen.
Fünf Jahre nach der öffentlichen Berufung des Propheten, der kaum Gehör fand und nur auf Widerstand stieß, wird Nebukadnezar den politischen Aufstand in Israel niederwalzen und Jerusalem samt Tempel schleifen. Das einstmals „glorreiche“ Reich Davids wurde gänzlich zerstört. JHWH war aus dem Tempel ausgezogen und emigrierte in´s Exil. Wie ging es weiter mit JHWH und seiner besonderen Beziehung zu seinem Volk Israel?
Gibt uns die Berufungsgeschichte Ezechiels einen Hinweis? Was wird aus dem Bund und der Treue Gottes, wenn es niemanden mehr interessiert?
Was wird – und so fragen wir uns auch gegenwärtig – aus der Kirche in unserer Gesellschaft, wenn die Kirche und die Frage nach Gott scheinbar niemanden mehr interessiert?
Ezechiel hat eine verstörende Vision. Sie ist vielfach in die Kunstgeschichte eingegangen. Sie ist sehr eindrücklich. Sie ist mehrschichtig. Viele Exegeten haben sich an ihr die Zähne ausgebissen. Enthält diese Vision etwas, was auch uns stärken kann? Was unserem Glauben in den Anfechtungen unserer Zeit Halt und Orientierung zu schenken vermag?
Ezechiel sieht, wie sich eine Hand gegen ihn ausstreckt. Die Hand hält eine Schriftrolle, die von beiden Seiten beschrieben ist. Die Hand entrollt die Schriftrolle und darauf ist für Ezechiel zu lesen:
„Klage, Ach und Weh“
Und Ezechiel hört eine Stimme, die zu ihm spricht:
„Iss, was du vor dir hast!
Iss diese Schriftrolle und rede zum Haus Israel.“
Und Ezechiel öffnet den Mund und die Hand führt die Schriftrolle zu seinem Mund – und Ezechiel verzehrt die Schriftrolle, füllt damit seinen Bauch.
Und es steht geschrieben: „Da aß ich sie und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.“(3,3)
Wie kann das sein? Der Inhalt ist Klage, Ach und Weh und schmeckt doch süß wie Honig? Wie kann das Schreckliche sich in Süße verkehren?
Ist damit die Zukunft Israels gemeint? Zuerst kommt eine Zeit der Schrecken und Heimsuchung, aber zuletzt Süße – ein Land, wo Milch und Honig fließt? Durch das Bittere hindurch zur vollkommenen Süße?
Kann so Geschichte verstanden werden? Durch Gewalt und Leid hindurch zu Recht und Freiheit? Nach einer Phase des gegenwärtig erstarkenden Nationalismus, der Kriege und des millionenfachen Flüchtlingselends hindurch zu einer gerechteren Weltgemeinschaft?
Oder könnte es nicht auch sein, dass Gottes Klage, Ach und Weh süß schmeckt dem, der darauf kaut? Vielleicht schmeckt er oder sie, dass sein Wort in Liebe und Treue gesprochen zu seinem Volk weiter gilt.
Gott, der hier spricht, ist ein enttäuschter Liebhaber. Es ist seine Liebe, die schmerzvoll mit ansieht, dass sein geliebtes Volk sich von ihm immer und immer wieder abwendet.
Wer aber Gottes Klage, Ach und Weh durchkaut, dem schmecken selbst diese Klageworte süß, weil sie von Gottes Treue und Liebe zeugen.
Gottes Wort bleibt bestehen, selbst wenn die Menschen sich von Gott und seinem Wort abwenden, selbst wenn das Land und der Tempel zerstört werden, selbst wenn wir unsere Kirchen schließen müssen, selbst, wenn die Liebe zu Gott erlischt.
Für den aber – dafür steht stellvertretend der Prophet – der sich von Gottes Wort ernährt, der es durchkaut, der sich auf Gottes Liebe einlässt und seine Gebote hält, nach Gottes Willen fragt, für den ist Gottes Wort süß wie Honig. Damit lässt es sich leben und die Welt gestalten.
Was für eine schöne Reinszenierung, dass jüdische Kinder im Lehrhaus die vier ersten und vier letzten Buchstaben des Alefbets abschlecken und die Süße der Tora kosten. Die Tora ist Nahrung für Leib, Seele und Geist.
Die Tradition des Verkostens der Heiligen Schrift aufgreifend, formulierte Dorothee Sölle auf dem Kirchentag 1995 in Hamburg über die Psalmen: „Sie sind für mich eines der wichtigsten Lebensmittel. Ich esse sie, ich trinke sie. Ich kaue auf ihnen herum, manchmal spucke ich sie aus, und manchmal wiederhole ich mir einen mitten in der Nacht.“
Unser Glaube braucht Nahrung, damit wir aus ihm leben. Das Wort Gottes ist eine edle Gabe. Der Tisch ist reich gedeckt. Lasst uns davon kosten – immer und immer wieder. Amen