Feindesliebe: verrückt, unsinnig, unmöglich!?, Dr. Vera Leberecht, Herzogenrath 2025

Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 

 9. November 2025, Evangelische Lydia-Gemeinde Herzogenrath, Lukas-Gemeindezentrum, Herzogenrath-Kohlscheid

 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes, des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!

(Amen)

Wir hören den Predigttext aus dem Lukasevangelium im 6. Kapitel. Da spricht Jesus:

27Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. 30Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!

32Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. 33Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. 34Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. 35Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

Was für ein Text. Was für ein Anspruch! Und: Was für eine zutiefst in uns lebende Sehnsucht berührt Jesus da.

Viele von uns haben in den letzten Wochen mitgefiebert, mitgebangt, gebetet und gehofft beim Blick auf den fragilen Prozess zurück in ein friedliches Miteinander in Gaza. Beim Hören und Lesen der Nachrichten scheint es fast täglich, dass das eine Aufgabe ist, die die menschlichen Möglichkeiten übersteigt. Fast möchte man darüber verzweifeln. Aber Glauben geht anders. Da ist die Tür immer mindestens einen Spaltbreit offen für die Hoffnung.

Diese Hoffnung entgegen allen äußeren Anzeichen halten schon die alttestamentlichen Propheten immer wieder hoch, wie Micha in dem starken Stück, das wir gerade gehört haben [der alttestamentlichen Lesung aus Micha 4,1-5]. Gott wird hier als der Handelnde, als der Friedens-Initiator beschrieben. In dieser Tradition stehen wir! Das ist eine der Kraftquellen, zu der uns unser jüdisch-christlicher Glaube immer wieder einlädt. Damit wir das augenscheinlich so hoffnungslose tägliche Leben ertragen und hoffnungsfroh gestalten können.

An dieser Quelle hat auch Jesus immer wieder aufgetankt. Auf diesem Fundament stand er. Bei Gott hat er immer wieder Kraft gefunden. Vor diesem Hintergrund, auf diesem festen Boden stehend, so erfahrungsgesättigt stellt nun Jesus seinen Anspruch auf Feindesliebe. Und der klingt doch echt verrückt, eine unsinnige Zumutung, utopisch. Hören wir also noch einmal genauer hin, was Jesus uns hier als Zuspruch und Anspruch sagt.

  1. „Liebet eure Feinde“: verrückt? Auf jeden Fall! Wir Christinnen und Christen sind im wahrsten Sinne ver-rückt. Nicht von dieser Welt. Wir stehen als Gemeinde Gottes in einem anderen Referenzrahmen. So spricht Gott schon zur Zeit des AT mehrfach zu Mose: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3Mo 11,44.45; 19,2). Und „heilig“ bedeutet hier weniger das, was wir heute vielleicht eher hören, etwa ethisch oder moralisch hochstehend und besonders brav. Nein, es heißt, abgesondert für Gott, zum exklusiven Tempelbereich gehörend. Es heißt Thomas Merton folgend, dass wir bei aller äußeren Aktion dadurch definiert sind, dass unsere Wurzeln tiefer reichen als die sichtbare Welt um uns herum. Dass wir in unserem Inneren bei Gott zur Ruhe kommen können und dass daraus unsere Kraft kommt für beherztes Handeln. Unsere Perspektive ist tiefer. Und weiter. Sie reicht über diese Welt hinaus. Das ist eine echte Verschiebung unserer Ausrichtung, da werden wir tatsächlich ver-rückt. Das gibt uns im besten Fall Um-Orientierung im Leben und lässt uns unsere Prioritäten neu ordnen.

Diese Ausrichtung auf Gott ist dem Evangelisten Lukas besonders wichtig. Er ist der Evangelist, der das mehr als seine „Kollegen“ Matthäus, Markus und Johannes in seiner Jesus-Biographie in den Mittelpunkt stellt: Es geht um Gott! Es geht um Jesu ganz besondere Beziehung zu ihm (Er spricht Gott von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater an) — und dann auch um unsere.

Was heißt das denn nun konkret für uns? Was erwarten wir denn tatsächlich (noch) von Gott? In unserem eigenen Leben, in der Gemeinde, gar für das, was derzeit bei uns gesellschaftlich passiert? Was ist möglich, wenn wir die Bibel lesen als ein Wort „wie Feuer,… und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“ (Jer 23,29)? Wer, wenn nicht wir, kann denn so manchem gesellschaftlichen Diskurs eine weitere Perspektive vielleicht nicht entgegen-halten, aber sie wenigstens offen-halten? Was könnten wir mit Gottes Hilfe sowohl als Individuen als auch als Kirche bewegen, wenn wir uns etwas mehr von Gott ver-rückt machen ließen?!

Da geht doch noch was! Wir glauben an einen mächtigen Gott! Da ist doch noch so viel mehr „drin“ als ein lascher Gott, in dessen Wort wir uns nur noch bei dem bedienen, was sich wohltuend und gefühlsstreichelnd für im besten Fall lieb gewordene, aber nicht wirklich aufrüttelnde Zeremonien am Sonntagmorgen oder Heiligabend eignet. Ein GOTT, dessen manchmal unbequeme Ansprüche wir lieber unter den Tisch fallen lassen, weil er in unseren aufgeklärten und verteidigungspragmatischen Zeiten doch sowieso als überholt angesehen wird.

Wie soll so ein zur Bedeutungslosigkeit eingehegtes Überbleibsel christlicher Tradition denn noch jemandem, der ganz verschluckt wird von der Dauerbelustigung am Handy oder der allgegenwärtigen Drohnenangst, in den Gottesdienst locken? — Und was erwarte ich persönlich denn tatsächlich (noch) von Gott? Vielleicht können wir ja versuchen, etwas weniger angepasst und etwas mehr ver-rückt zu sein?!

  1. Denn ja, es ist verrückt: Liebet eure Feinde! Außerdem ist es auch noch unsinnig, eine Zumutung. Es ist keine sinnlose (!) Challenge, die Jesus hier seinen Zuhörer_innen aufgibt. Wohl ist es eine Zu-Mut-ung im besten Sinn.

Jemandem, der mich schlägt, auch noch die andere Wange hinhalten? Jemandem, der mir meinen Mantel nimmt, auch noch den Pulli geben? Genau darin besteht die Zumutung. Dass Jesus uns herausfordert: Überdenkt die Norm. Dreht das Normale um. Dreht den Spieß um?! Im menschlichen System von Geben und Nehmen gilt „Wie du mir, so ich dir“. Du produzierst Waffen, also kurble ich meine Wirtschaft an und mache noch mehr. Dann bekommst du sicher ganz viel Angst und streckst mir die Hand zum Frieden entgegen. Oder?!

Diejenigen von uns, die Geschwister haben oder mit anderen Kindern irgendwann in unserem Leben mal Streitigkeiten hatten, wissen: Wenn dich der oder die andere haut, dann hau am besten zurück so fest du kannst. Dann hört das Gegenüber direkt auf. Oder?!

Seltsam eigentlich, dass sich etwas, das sich doch weder im Kleinen noch im Großen jemals wirklich bewährt hat, plötzlich wieder als sinnvoll, als zielführend gilt. Dass es sich in den letzten Monaten gar nicht heimlich, gar nicht still und leise seinen Weg zurück in unseren gesellschaftlichen Konsens gebahnt hat. Während Jesu Aufforderung als „unrealistisch“, als „naiv“ weggewischt wird.

Was passiert, wenn wir unser Verhalten verschieben von „Wie du mir, so ich dir“ nach „Wie Gott mir, so ich dir“? Vielleicht würden wir ja erleben, dass wir, wenn wir aus dem scheinbar unausweichlichen Spiel der sich hochschaukelnden Drohungen und Gegendrohungen aussteigen, gar nicht schwächer werden, sondern im Gegenteil freier und stärker?!

Gut, sagt ihr jetzt. Die Theorie klingt prima. Und ja, wir wollen alle versuchen, etwas netter zu sein, wenn wir heute beim Nachhausekommen der unmöglichen Nachbarin über den Weg laufen. Aber im großen Rahmen muss man doch auch vernünftig sein. Denn wie soll das funktionieren:

  1. „Liebet eure Feinde!“ Letztlich bleibt das doch utopisch. —Oder vielleicht nicht?! Liebet eure Feinde, ist das wirklich so weltfremd? Jesus selbst kann man diesen Vorwurf jedenfalls nicht machen. Ihm geht es hier um viel mehr als eine schöne fromme Idee. Es geht ihm um die direkte praktische Umsetzung. Unser Bibeltext ist eingebettet in die sog. Feldrede (quasi Lukas’ Version der Bergpredigt aus dem Matthäus-Evangelium). Und direkt im Anschluss an diese Rede schildert Lukas, wie Jesus in Kapernaum den Knecht eines Hauptmanns der römischen Besatzungsmacht heilt. Moment mal: Die Römer, das waren doch die Feinde Israels? Und was macht Jesus? Er heilt einen von ihnen. Und zeigt uns so, ganz ohne Worte: Es lohnt sich, immer wieder mal zu hinterfragen: Wer ist denn überhaupt mein Feind? Und wer ist mein Mitmensch, der mein Verständnis, meine Hilfe, meine Zuwendung braucht? Populistische Parteien schüren ja oft Ängste, indem sie Feindbilder an die Wand malen, Stereotype über „uns“ und „die anderen“ heraufbeschwören. Sobald wir jedoch jemanden von „denen da“ persönlich kennen lernen, wird oft unsere Wahrnehmung viel differenzierter. Selbst will ich schließlich auch nicht auf meine Nationalität oder Hautfarbe reduziert werden — ich bin doch viel mehr als das.

Okay, sagen wir vielleicht, aber Jesus war ja auch Gottes Sohn. Und das ist ja alles sehr lange her. Wie soll das denn funktionieren, so ein radikales Aussteigen aus der Logik von „Wie du mir, so ich dir“? Heute, in unserer Gesellschaft? Nun ja, ein Blick in die Geschichte zeigt: Er ist nicht der Einzige geblieben!

  • In Pennsylvania hat der Quäker Benjamin Lay als einzelner Privatmann (!) jegliche durch Sklavenarbeit entstandene Waren boykottiert und Gastgeber, die Sklav_innen hatten, gemieden. Ein Vierteljahrhundert individuellen Boykotts und Agitation haben dann 1758 dazu geführt, dass die Quäker in Philadelphia die Sklavenhaltung geächtet haben. Die Quäker und auch andere christliche Gruppen haben durch ihr anhaltendes gewaltfreies Handeln entscheidend dazu beigetragen, dass Sklavenhandel und Sklaverei in immer mehr Ländern gesetzlich verboten wurden.
  • Im Jahr 1955/56 fand in Montgomery, der Hauptstadt von Alabama, der berühmt gewordene Busboykott statt, ausgelöst von Rosa Parks und mit organisiert von Martin Luther King jr.: Ganz ohne Gewalt war das ein entscheidender Protest gegen die Politik der Rassentrennung in den USA.
  • In Deutschland wurde nach dem 2. Weltkrieg das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht im Grundgesetz verankert.
  • Seit 1983 gibt es das Kirchenasyl, mit dem Schutzsuchende vor einer Abschiebung bewahrt werden können.
  • Die Montagsdemonstrationen in der DDR haben 1989/90 zur Friedlichen Revolution, zur Wende, geführt. Genau heute vor 36 Jahren fiel die innerdeutsche Mauer, lasst uns daran denken: Was für ein — ganz reales — Wunder!

Bei all diesen friedlichen, gewaltfreien Aktionen haben Christinnen und Christen eine entscheidende Rolle gespielt. Sie waren ver-rückt genug, um über bestehende Rahmen hinaus zu denken und zu handeln. Sie haben sich von Gott herausfordern lassen, haben sich etwas zumuten lassen und anderen etwas zugemutet. Haben genug von Gott erwartet, der unseren Verstand übersteigt, um etwas zu wagen.

So wünsche ich mir auch für uns Glauben und Leben als Kirche Jesu in dieser Welt. Glauben, der tiefer verwurzelt ist als auf der Oberfläche unseres Alltags. Eine Kirche von Menschen, die mehr erwarten als das, was wir logisch fassen können. Und die darum auch mutig handeln.

Die sich nicht gemütlich einrichten, sondern als lebendige Fische gegen den Strom schwimmen. Die hoffen, wo nach menschlichem Ermessen kein Grund zur Hoffnung mehr ist. Darum: „Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Mehr als nur Ortsgeschichte, Pressehinweis, Hartmut Hegeler, Unna 2025

Hartmut Hegeler: Rittersitz in Unna-Massen. Geschichte des adligen Rittergeschlechts von Romberg und Haus Massen.
Schriftenreihe der Stadt Unna 66. Stadtmarketing Unna, 2025, ISBN 978-3-927082-70-0
Hardcover 24,90 €

Das neu erschienene Buch von Hartmut Hegeler beleuchtet auf 298 Seiten die Geschichte von Haus Massen und der adeligen Familie von Romberg von den Anfängen bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Erstmals liegt hiermit eine umfassende Gesamtdarstellung der Geschichte des Rittersitzes dieser evangelischen Adeligen und ihrer Familien vor. Diese wird eingebettet in die Zeitgeschichte der Stadt Unna und der Historie der Grafschaft Mark. Diese Aristokraten gehörten zu den wohlhabendsten Familien in Westfalen, verkehrten mit den einflussreichen Personen ihrer Zeit und vermehrten durch geschickte Heiratspolitik Einfluss und Besitz. Doch sie waren auch von den Schattenseiten des Schicksals betroffen, von Krieg, Bankrott, Wahnsinn und Mord.

Viele Grabsteine in der Stadtkirche zeugen von ihrem Einsatz. Als der Kirchturm des evangelischen Gotteshauses in Unna am 4. Juni 1559 während des Nachmittagsgottesdienstes durch einen Blitzschlag entzündet wurde, ließ ihn die Freifrau Grude von Haus, Witwe von Bernd von Romberg, auf ihre Kosten wieder aufbauen. Seit der Zeit besaß die Familie von Romberg ein besonderes Läuterecht in der Kirche zu Unna. Zwei Kirchenbänke mit je vier Sitzen gehörten dem Rittergut Massen und standen noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Stadtkirche.

Die Geschichte des Hauses Massen reicht weit über lokale Heimatgeschichte hinaus. Der berühmte Pfarrer Philipp Nicolai beschrieb in einem bis dato unbekannten Brief vom 14. April 1586 in bewegenden Worten die Rettung der Evangelischen in der Schlacht von Schwelm durch den „Romberger“ von Haus Massen.

Urkunden, Akten und erschütternde Quellen werfen neues Licht auf das Schicksal von dem Rittersitz Haus Massen. Die Historie der Adelsfamilie wird angereichert durch umfangreiches Bildmaterial (u.a. Abbildungen, Wappen, historische Karten) sowie genealogische Quellen. Ein Index erschließt Namen von Personen und Orten.

Hartmut Hegeler, Pfr.i.R., hat zahlreiche historische Arbeiten zur Geschichte der Frühen Neuzeit und zur Lokalgeschichte veröffentlicht.

Predigt zum 17. So nach Trinitatis, „Die traut sich was?!“, Vera Leberecht, Herzogenrath 2025

Gottesdienst zum 17. So nach Trinitatis am 19. Oktober 2025 in der Ev. Markuskirche Herzogenrath

(eigentlich: 18. So nach Trinitatis)

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes, des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! (Amen.)

[Szenen- bzw. Rollenwechsel]

Guten Morgen!

Das fällt mir jetzt ganz schön schwer, hier zu stehen. Ich bin sonst nämlich eher für die Eins-zu-eins-Kommunikation. Aber euer Pfarrer meinte, es wäre okay, wenn ich heute mal hier rede. Denn meine Geschichte könnte euch was zu sagen haben. Aber das überlasse ich euch selbst.

Also…

Man sieht es mir nicht mehr wirklich an, aber ich war mal richtig hübsch. Manche nannten mich sogar schön. Ich war ein echter Feger. In meiner Kindheit hat es das Leben nicht gut gemeint mit mir… und irgendwann bin ich dann in dem gelandet, was ihr so verschämt „das älteste Gewerbe der Welt” nennt. Ja, ich war eine Prostituierte. Und ich war gut in meinem Job. Das fanden jedenfalls eine ganze Menge Männer da in Jericho, wo ich wohnte, wo ja auch meine Familie herkam.

Und irgendwie war das halt so. Irgendwie war ich geduldet. Vielleicht sogar anerkannt. Aber dass die meisten mit mir nicht allzu nahen Kontakt haben wollten, ist auch klar. Jedenfalls nicht im Licht der Öffentlichkeit. Aber egal. Ich hab schon immer gut allein sein können. Und meine Ruhe hat mir auch gefallen.

Bis eines Tages zwei Männer vor meiner Tür standen. Die waren anders. Auf der Durchreise, dachte ich erst, mit einer Karawane oder so. Aber irgendwas war da faul, das spürt eine Frau wie ich ziemlich schnell. Ja, und prompt kamen an demselben Tag Leute von der Sicherheitspolizei und sagten, dass in meinem Haus zwei israelische Spione untergetaucht seien. Oh — das war mal was in meinem an Ereignissen nicht armen Leben! Da hatte ich die beiden allerdings schon aus so einer Ahnung heraus versteckt, und den Beamten des Königs habe ich gesagt, ich hätte keine Ahnung, wer die zwei Fremden gewesen seien und die hätten die Stadt längst wieder verlassen. Und — genau wie ich erwartet hatte — : Die Sicherheitsleute sind denen direkt nachgeprescht.

Mir war klar, hier ist etwas Großes im Gange. Denn über die Israeliten hatten wir schon viel gehört. Echte Schreckensmeldungen. Davon, wie sie vor dem ägyptischen Pharao durchs trockene Schilfmeer entkommen sind, in dem er dann mit seinem ganzen Heer ersoffen ist. Und dass sie unser Land eingenommen haben. Und dabei mit schrecklicher Gewalt gegen die Stadtstaaten vorgegangen sind, die auf ihrem Weg lagen. Wir alle hatten Angst: Wir wussten, es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieses Heer vor den Toren von Jericho steht. Es hat uns die Luft abgeschnürt wenn einer bloß vom Volk Israel gesprochen hat…

Und als ich da noch so an meiner Haustür stand, wusste ich es plötzlich: Die beiden hat mir Gott geschickt! Was, ihr wundert euch, dass ich von Gott spreche? Na klar, das ist ja wohl das Vernünftigste, was ein Mensch in einer solchen Situation tun kann. Da machen Nachrichten von einem Volk die Runde, einem Volk, das von dem Einen, Wahren Gott auserwählt sein soll. Und alles, was sie machen, gelingt ihnen? Das ist ein Gott, zu dem will ich gehören. Dem will ich mich ausliefern. Das ist auf jeden Fall besser, als sich auf Menschen verlassen, die schnell sind mit ihrem Urteil und dich im Zweifelsfall ihren eigenen Prinzipien opfern. (Brave Familienväter, die dich in der Öffentlichkeit mit dem Hintern nicht angucken, nachdem sie vorher… aber egal.) Oder irgendwelchen Göttern, die Gehorsam und Opfer verlangen, aber denen unser Leben offensichtlich egal ist — oder die gar nicht die Macht haben, darauf einzuwirken?!

Wir in Jericho wussten es alle längst: der Herr, der Gott Israels, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden. Und das habe ich den beiden Fremden ins Gesicht zugesagt. Und dann, ich weiß es noch wie gestern, habe ich gesagt: Ich helfe euch zu entkommen. Unter einer Bedingung: Schwört mir bei dem Herrn, dem Gott Israels, weil ich an euch Barmherzigkeit getan habe, dass auch ihr an meines Vaters Hause Barmherzigkeit tut, und gebt mir ein sicheres Zeichen, dass ihr leben lasst meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern und alles, was sie haben, und uns vom Tode errettet.

Und die beiden? Die haben mir versprochen: Wenn du uns rettest, wenn du uns nicht verrätst, dann stehen wir auch zu unserem Wort. Dann sind wir auch zu dir barmherzig und treu, wenn uns GOTT das Land hier gibt. Wenn wir mit unserer Kriegsmacht wiederkommen und Jericho erobern, dann werden wir dich und deine gesamte Familie verschonen. Machen wir das nicht, sollen wir auf der Stelle tot umfallen.

Und dann haben wir folgendes ausgemacht: Ich wohnte damals in einem Haus direkt an der Stadtmauer. Sie konnten also aus meinem Haus rausklettern aus der Stadt, ohne durchs Stadttor zu müssen. Ich hab ihnen eingeschärft: Flieht nicht über die Ebene Richtung Jordan; genau da fahnden ja die  Leute von der Sicherheitspolizei nach euch. Sondern: Geht in Richtung Gebirge und versteckt euch da, bis etwas Ruhe einkehrt. Bis die anderen ihre Suche aufgegeben haben und in die Stadt zurückgekehrt sind. Mindestens drei Tage. Danach könnt ihr in Sicherheit zu eurem Volk zurückkehren. Das leuchtete ihnen ein. Und sie sagten: Und du, hänge ein rotes Seil aus dem Fenster, das weithin sichtbar ist. Wenn wir dann kommen und die Stadt einnehmen, so werden alle, die sich in deinem so markierten Haus aufhalten, verschont bleiben. Nur: Geht auf keinen Fall raus, da können wir für niemandes Sicherheit garantieren! Aber solange ihr drinnen bleibt, seid ihr sicher. Das schwören wir in Gottes Namen.

Und genauso ist es passiert. Ich habe ihnen das Leben gerettet. Und sie haben auch Wort gehalten und haben mich verschont. Mich, eine Fremde. Eine Feindin. Die alles andere als einen guten Ruf hatte. Das war ihnen egal.

Und vor allem: Gott war das alles egal. Dem Gott, der der Gott Israels war und auch meiner geworden ist. Er denkt nicht in unseren menschlichen Kategorien von Herkunft, Freundin und Feind, Beruf oder was jemand alles im Leben schon verpfuscht hat. Er steht darüber. Er schaut auf das Herz eines Menschen und sieht, wer ihm wirklich vertraut — und wer auch etwas von Ihm erwartet! Was hat es mir gebracht, dass ich wie ein Schaf mitgelaufen bin in meiner Jugend, dass ich mich den lokalen Glaubenstraditionen angepasst hatte, die längst ihre Kraft verloren hatten? Was hatte mir dieser blutleer gewordene Glaube noch zu geben?

Manchmal gibt es solche Wendepunkte im Leben, da weißt du: Jetzt musst du dich entscheiden. Jetzt geht es um Leben oder Tod. Übernimm Verantwortung für das, was du glaubst und tust. Manchmal auch im totalen Gegensatz zu dem, was deine Umgebung denkt, glaubt und tut. Manchmal sogar im Gegensatz zu dem, was das objektiv Richtige zu sein scheint. Und dann bricht das Leben sich Bahn. In meinem Fall ist das tatsächlich geschehen: Erst habe ich den beiden Israeliten das Leben gerettet, und später sie mir und meiner Familie. Das ist im wahrsten Sinne ein roter Faden in meinem Leben geworden: Gott, der HERR, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und jetzt schon viele Jahre auch mein Gott: er schenkt Leben. Er ist das Heil. Er ist die Rettung. Er ist meine Rettung geworden und sagt Ja zum Leben. Jeden Tag neu. Auch zu eurem. Traut ihr euch? Lasst ihr euch auf ihn ein? Dafür bete ich. Das wollte ich euch sagen.

[[Szenen- bzw. Rollenwechsel]]

Vorhin im Evangelium haben wir gehört, wie eine syro-phönizische Frau alles auf Jesus setzt. Sie lässt nicht locker, bis Jesus sie heilt. Damit wird deutlich: Das Heil Gottes gilt für jeden Menschen, unabhängig von einer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit. Und auch das Beispiel von Rahab, die gerade ihre Geschichte erzählt hat, zeigt: Wenn ein Mensch alles auf eine Karte setzt und sich dem lebendigen Gott zumutet, wird er errettet.

Die Geschichte ist übrigens aufgeschrieben im Buch Josua, im zweiten Kapitel. Wer möchte, kann sie sich am Ausgang zum Nachlesen mitnehmen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

(Vera Leberecht)

Vertrauensverlust – eine Versuchung, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2025

12. Oktober 2025

Hebräer 4,14-16, Neue Genfer Übersetzung, 2011

Weil wir nun aber einen großen Hohenpriester haben, der den ganzen Himmel ´bis hin zum Thron Gottes` durchschritten hat – Jesus, den Sohn Gottes – , wollen wir entschlossen an unserem Bekenntnis zu ihm festhalten.

15 Jesus ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte. Vielmehr war er – genau wie wir – Versuchungen aller Art ausgesetzt, ´allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass` er ohne Sünde blieb.

16 Wir wollen also voll Zuversicht vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten, damit er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.

 

Liebe Gemeinde,

heute geht es um Versuchung. Was verstehen wir unter einer Versuchung? In der Regel, dass wir vom richtigen Weg abgebracht werden und selbst etwas tun, denken oder unterlassen, was wir besser nicht hätten tun, denken oder unterlassen sollen. Wenn wir der Versuchung erlegen sind, haben wir ein schlechtes Gewissen. Das Gewissen beißt uns, quält uns, dass wir es nicht geschafft haben der Versuchung zu widerstehen. Wir wissen, dass unser Gewissen das Produkt unserer Erziehung ist, das merken wir allein schon daran, dass die Beurteilungen und Empfindlichkeiten von Person zu Person verschieden sind und wir im Laufe unseres Lebens unsere Einstellungen auch ändern, unser Gewissen modifizieren.

Unsere Werte bleiben nicht ewig gleich und manche Menschen in der Gesellschaft müssen erst wieder Werte lernen, emphatisch werden mit anderen Menschen, dass Konflikte anders als mit Gewalt gelöst werden können, dass es nicht nur ein Ich gibt, sondern auch ein Du, dass jeder Mensch Respekt verdient, selbst der, der schuldig wird und scheinbar kein Gewissen mehr hat. Wir wissen, zu einer reifen Persönlichkeit gehört es, dass sie moralisch integer ist, dass sie mit sich und ihrer Umwelt in Reinem ist.

All das schwingt für mich mit in unserem Predigttext. In der Bibel geht es nicht um (die kleinen) Versuchungen, wie Versuchung in der Werbe- und Alltagsprache verstanden wird: ob ich verführt werde, ein Stück Schokolade mehr zu essen, ob ich lieber auf dem Sofa liegen bleibe als ins Fitnessstudio zu gehen, es geht nicht darum, ob ich  alles für meine Gesundheit tue, jede Voruntersuchung wahrnehme, mich ja nur gesund ernähre und jedes Verzehren von Fett mir ein schlechtes Gewissen macht, es geht nicht darum, dass ich nicht genießen darf oder noch schlimmer, nicht aufhören darf zu essen, weil es anderen schlecht geht: „Iss aber deinen Teller schön auf, du weißt doch in Afrika hungern die Kinder“, sondern es geht in der Bibel darum, dass ich mein Vertrauen in Gott nicht verliere. Das Vertrauen in Gott zu verlieren, kann schnell gehen. Das Vertrauen wieder finden, dauert umso länger und manchmal bleibt ein schmerzhafter Bruch zurück.

Bevor Jesus anfängt öffentlich zu wirken, wird er vom Geist in die Wüste geschickt (Mt 4,1-11). Dort wird er der Versuchung ausgesetzt. Ist er nicht Gottes Sohn und ein Wundertäter, kann er nicht Steine in Brot verwandeln? Ist er nicht Gottes Sohn, der Gott(es Wort) blind vertraut, dass seine Engel ihn auf Händen tragen werden, wenn er vom Dach des Tempels springt? Ist er nicht Gottes Sohn und damit der Herrscher über alle Länder?

Die Prüfung in allen Versuchungen liegt darin, dass Jesus in seinem Hunger, in seinem Bedürfnis nach Geborgenheit und in seiner Ohnmacht, sein Vertrauen zu seinem himmlischen Vater fallen lässt. Der Versucher führt Jesus vor Augen, wie sehr er von Gott verlassen ist. Quält ihn nicht der Hunger? ist er nicht einsam und ganz auf sich selbst zurückgeworfen? Verzweifelt er nicht an seiner Ohnmacht?

Das sind Versuchungen, die wir abgewandelt auch kennen, es sind existentielle Versuchungen. Da wo wir Hunger haben und unser Hunger nicht gestillt wird – die tief empfundene Demütigung in unseren Breitengeraden nicht das zu bekommen, was wir dringend brauchen: Wertschätzung, Anteilnahme, Stillung unserer Bedürfnisse. Da kann schon unser Vertrauen schwinden oder ganz abhandenkommen, wenn wir übersehen werden. Wie schnell sind wir versucht, zurück zu stecken, aufzugeben, etwas schlecht zu reden, uns gar nicht erst zu öffnen, denn dann machen wir uns ja verletzlich, wie sehr suchen wir Sicherheiten, geben der Versuchung nach, mehr zu scheinen als zu sein, geben der Versuchung nach, den einfachen Weg zu gehen, geben der Versuchung nach, Konflikten aus dem Weg zu gehen statt uns ihnen zu stellen, geben der Versuchung nach, die Macht anzubeten, statt der Liebe zu dienen.

Auch unser Vertrauen zu Gott kann verloren gehen. Das ist die Versuchung, es scheint auf dem ersten Blick einfach Gott nicht mehr zu vertrauen, einfacher denke ich manchmal als Gott zu vertrauen. „Mag ich auch gleich nichts fühlen von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele, auch mitten durch die Nacht.“ (Lied: So nimm denn meine Hände, EG 376,3)

Das ist eine im Glauben geschenkte Gewissheit, die hilft das Leben zu bestehen und nicht gleich alle Hoffnung aufzugeben. Wenn eine Durststrecke im Leben kommt, wir feststecken in Zweifeln und Grübeleien, der Alltag und die damit verbundenen Mühen uns im Bild gesprochen empfinden lassen wie im griechischen Mythos Sisyphos, der dazu verurteilt ist den Felsbrocken immer wieder den Berg hochzuschieben und kaum ist der schwere Stein oben, rollt er sogleich wieder runter. Wir verlieren dann den Blick für das Schöne am Wegrand, sehen keinen Ausweg und können nicht anders denken als in den verhafteten Bahnen. Aber haben wir es nicht auch schon erfahren, dass sich die Dinge ändern können, dass auf einmal der Berg voller Sorgen sich von selbst abträgt? Hat Gott nicht immer mehr Wege für uns bereit als wir sehen und empfinden? Ist Vertrauen in Gott nicht eine Ressource, die uns durchs Leben trägt, gerade weil die Ressource Gott nicht ausgeht?

Der Hebräerbrief ermutigt die Glaubenden, ihr Vertrauen nicht fahren zu lassen. Dabei lenkt er den Blick auf Jesus. Wenn die Glaubenden keine Kraft mehr haben zu vertrauen und allen Mut verloren haben, hilft es an einen Stellvertreter zu glauben, der für sie glaubt. Jesus Christus ist ein Stellvertreter, der für uns glaubt, wenn wir nicht mehr glauben können. Wir wissen aus Erfahrung, wie gut es ist, wenn ein Mensch an uns glaubt, selbst wenn wir den Glauben an uns selbst verloren haben. Das ermutigt uns. Das gibt uns Kraft und Hoffnung, weiter zu machen, Tag für Tag, selbst wenn die Tage dunkel sind. Wir bekommen neue Energie den nächsten Schritt zu gehen. Nichts anderes geschieht mit unserem Vertrauen in Gott. Nicht wir müssen den Glauben tragen, machen und anschieben. Wir sind gehalten. Der Glaube geschieht. Hoffnung widerfährt uns, Kräfte wachsen uns zu.

Auch Jesus wird das Vertrauen geschenkt. Es ist Gottes Geist, der in ihm wirkt. Aus diesem Geist heraus erliegt er nicht der Versuchung: in der Wüste, genauso in seinen Streitgesprächen oder wenn er alles auf Liebe setzt und nicht danach fragt und handelt, was werden die anderen jetzt denken und wo wird das enden? Diese Sorge überlässt Jesus ganz seinem Vater, selbst in seinem Sterben: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“ (Lk 23,46)

Das Schlüsselwort bei aller Versuchung heißt Vertrauen. Es zu wagen, es wieder neu zu finden, sich in Gott fallen zu lassen, dieser Glaube wird uns geschenkt.

 

 

 

 

Joachim Leberecht: Predigt, Gottesbegegnung im Traum, Herzogenrath 2025

 

Predigt Genesis 28, 10-19                                   14. Sonntag nach Trinitatis, 2025

„Und ihm träumte, und siehe eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen darauf auf und nieder.“ (V.12)

Liebe Gemeinde,

haben Sie es auch gehört? Jakob träumt und sieht eine Leiter, die von der Erde bis zur Spitze des Himmels reicht. Es ist die Himmelsleiter. So weit haben viele von uns dieses eindrückliche Bild und die sprichwörtlich gewordene Himmelsleiter vor Augen. Auch das die Engel etwas mit der Leiter zu tun haben wissen wir noch irgendwo hinten in unserem Kopf. Doch in meinem Kopfkino kommen die Engel vom Himmel zur Erde, sagen Jakob die Botschaft Gottes weiter, und steigen wieder die Leiter hoch. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Luther übersetzt das Hebräische genau: „Und siehe, die Engel Gottes stiegen darauf auf- und nieder.“ Das ist bewusst formuliert. Zuerst der Aufstieg, dann der Abstieg. Die Engel sind hier nicht Boten Gottes, sondern Boten Jakobs. Sie steigen von der untersten Leitersprosse auf zu Gott – wie es auch unsere Gebete tun. Der Traum ist eine besondere Form der Wahrnehmung, Ausdruck unseres Unbewussten oder wie hier in dem alten hebräischen Denken eine besondere Bild- und Zeichensprache, die den Menschen mit Gott verbindet. Nicht irgendein Mensch. Es ist Jakob. Er ist der direkte Nachkomme von Isaak. Und Isaak ist der direkte Nachkomme von Abraham, dem Vater des Glaubens. Hier beginnt die Geschichte Gottes mit seinem Volk.

Ein Stein als Kopfkissen

In der Nacht kommen wir unseren Sehnsüchten und unseren Ängsten nah. Jakob ist allein. Ganz allein in der weiten Landschaft. Wir alle kennen Nächte, wo wir ganz auf uns selbst zurückgeworfen sind. Es ist schon viel, wenn wir einschlafen und die sorgenvollen Gedanken fahren lassen können. Manchmal wälzen wir das Kopfkissen so lange hin und her, bis wir endlich einschlummern können. Jakob hat kein Kopfkissen, aber er sucht sich einen passenden Stein, wo er seinen Kopf leicht erhöht, ablegen kann. Sich hinlegen, sich ablegen, ruhig werden, still werden und in den Schlaf hineingleiten ist etwas Wunderschönes. Nicht einschlafen zu können ist eine Plage, macht nervös und unruhig.

Jakob auf Wanderschaft

Jakob kann schlafen. Er ist auf Wanderschaft. Er ist aufgebrochen in eine ungewisse Zukunft. Er hat seine Heimat und alle, die er lieb hat hinter sich gelassen. Es ist seine erste Nacht in der Fremde. Sein Traum ist besonders lebhaft. Es scheint, dass die verborgene Welt um ihn weiß. Die Engel begleiten ihn. Sie gehen die Leiter hoch und stellen die Verbindung zum Höchsten her. Jakob ist allein, aber von Gott nicht verlassen. Was für ein. tröstlicher Traum für den einsamen Wanderer Jakob, der nicht weiß, wie er leben soll – auch mit seiner Schuld. Die Engel verbinden ihn mit Gott. Hat er auch Vater und Mutter verlassen und seinen Bruder, vor dem er sich fürchtet, weil er ihn bestohlen hat, ist er doch von Mächten umgeben, die ihn schützen. Allein auf sich zurückgeworfen ist er auf Gott geworfen. Die Engel in seinem Traum sind seine Fürsprecher. Sie sorgen dafür, dass seine Verbindung zu Gott nicht abreißt. Sie nehmen ihn, der am Boden liegt, Stufe für Stufe mit, dass Jakob schlussendlich im Traum Gott zu sich reden hört: „Ich verlasse dich nicht. Du und deine Nachkommen sollen allen Geschlechtern auf Erden zum Segen werden.“

Das ist keine alltägliche Erfahrung. Jakob macht sie. Aber nicht, weil er es will. Sie wird ihm geschenkt. Sie widerfährt ihm. Sein Traum ist der Ort der Gottesbegegnung.

Der Glaube fällt nicht vom Himmel.

Wenn es ums Eingemachte in unserem Leben geht, können wir nichts machen. Wir können nur still sein und lauschen, welche Hinweise und Ahnungen unsere Seele uns vermittelt. Alles, was wir brauchen, ist in uns. Wir müssen nur vertrauen und manchmal richtiggehend lernen auf uns zu hören. Jakob sieht und hört. Es ist nichts Neues, was er hört. Denn er steht in einer Geschichte. Einer Geschichte der Verheißung Gottes für seinen Vaters Isaak und seiner Mutter Rebekka. Und zuerst für seinen Großvaters Abraham und seiner Großmutter Sarah. Der Glaube fällt nicht vom Himmel. Der Traum auch nicht. Sie sind angelegt. Sie haben Wurzeln, die tief ins Erdreich reichen und die sogar Luftwurzeln in Form einer Himmelsleiter bilden.

Wir Menschen sind Wesen zwischen Himmel und Erde. Wir sind irdisch und   zum Himmel hin aufgerichtet.

Die Geschichte Abrahams, Isaaks und Jakobs geht weiter – bis heute. Sie wird erzählt und damit wird ein Erfahrungsraum für den Himmel geöffnet. Es gibt eine Leiter zum Himmel, zu der verborgenen Wirklichkeit, die wir Gott nennen.

Jakob ist aufgebrochen in ein neues Leben. Sein Leben wird von Gott begleitet. Auch in unserem Leben gibt es Aufbrüche. Vielleicht mehr als wir denken – bis ins hohe Alter hinein. Wir sind unterwegs, selbst wenn sich äußerlich wenig ändert. Wir leben mit dem, was uns begegnet. Eine gute Nachricht. Eine schlechte Nachricht. Eine verrückte Welt voller Gewalt und Umbrüche. Eine wunderbare Welt voller Leben, Einsatz für den Frieden und Menschlichkeit. Zeichen der Fürsorge und Güte Gottes.

Jakob hat den Zuspruch Gottes gehört.

Jakob war auf der Flucht. Er fürchtete um sein Leben. Er war allein und doch nicht allein. Jakobs Engel haben ihn mit Gott verbunden. Jakob hat den Zuspruch Gottes gehört. Wir alle brauchen Zuspruch. Ermutigung auf unserem Weg. Und sei es, dass wir uns mit unseren kleineren und größeren Macken annehmen können, letztlich mit dem, wie wir geworden sind. Auch Schuld und Brüche gehören zu unserem Leben. Dennoch nimmt uns Gott an, kappt nicht die Verbindung. Zeigt uns den nächsten Schritt.

Hinweise für unseren Weg können Träume sein in denen Gott zu uns spricht. Du bist nicht allein. Du kannst dich mit Gott verbinden und gleichzeitig verbindet sich Gott mit dir durch Engel und Zeichen am Wegesrand. Und wir selbst können auch zu Engeln werden für andere, die wir trösten und ermutigen durch Worte und einfach, dass wir da sind. Es geht um Verbindung. Nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Jakob hat gesehen und gehört, dass er mit Gott verbunden ist. Das war eine überwältigende Erfahrung.

Hier ist mir Gott begegnet. Dafür hat er seinen Stein, auf dem er in der Nacht seinen Kopf abgelegt hat, aufgerichtet. Ein Gedenkstein. Ein heiliger Ort für ihn. Ein Stein, der seine Gotteserfahrung repräsentiert. Ein Stein aus dem später Beth-El wurde. Ein Haus des lebendigen Gottes. Bleiben wir unterwegs, ob unser Radius klein oder groß ist, das macht nichts, überall können wir uns zu Gott aufmachen und Gottes Botschaft hören, selbst im Schlaf.