Systemisch oder systematisch? Christoph Fleischer, Werl 2009

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Rezension zu: Lehrbuch Praktische Theologie Band 3: Seelsorge von Christoph Morgenthaler, Gütersloher Verlagshaus 2009, ISBN 978-3-579-05404-9, 22,95 Euro

Wie der Titel meiner Rezension andeutet, ist es diese Frage zur „Seelsorge“-Theorie, die Christoph Morgenthaler mit dem 3. Band des „Lehrbuchs Praktische Theologie“ im Gütersloher Verlagshaus vorlegt(systemisch oder systematisch?), die sich sachgerecht durch alle Themengebiete der Seelsorge Lehre zieht, und demnach auch zu einer Gesamtdarstellung, einem Lehrbuch passt. Hier wird nicht darüber der Stab gebrochen, doch ist es gerade im Sinne Morgenthalers, dass Seelsorge immer so konkret und situativ geschieht, dass ein systematischer Zugang immer auf Offenheit und den Prozess des Agierens zielte und daher nicht im strengen Sinn systematisch genannt werden könnte. Sind systemisch und systematisch also ein Gegensatz?
Was heißt es denn anders, wenn die Frage „Was ist eigentlich Seelsorge?“ einerseits gestellt und andererseits offen gehalten werden soll? Was heißt es denn anders, wenn die Seelsorge vom Anderen her zu verstehen ist und auf den Anderen hin konzipiert werden soll, der doch immer zumindest in der Erstbegegnung der Unbekannte und so auch Rätselhafte ist?
Der Schlüssel des durchaus systematischen Aufbaus des Buches (1-5 Annäherungen und Grundlagen, 6-10 Themen und Zugänge, 11-15 Kompetenzen und Methoden, 16-20 Orte und Spezialisierungen) liegt im 4. Kapitel und damit in der „Konzeptbildung“. Hier wird der systemische Ansatz modellhaft so vollzogen, dass jede seelsorgerliche Handlung eine eigene Theoriebildung voraussetzt, was dann auch entsprechend auf die Theoriebildung der Seelsorgelehre anzuwenden wäre. Die Seelsorgelehre unterstützt also die Theoriebildung der Seelsorgenden darin, im konkreten seelsorgerlichen Vollzug handlungsfähig zu sein, wobei mit dem Begriff Konzeptionslosigkeit wohl der Gegenbegriff zur gelungenen Seelsorge gefunden wäre. Die Konzeptionsbildung wird ermöglicht durch:

–          Metaphern, die Zugänge zum eigenen Seelsorgeverständnis erleichtern

–          Entscheidung für ein bestimmtes Gesprächskonzept (z. B. gesprächstherapeutisch, psychoanalytisch oder systemisch)

–          Das Ziel, in die Frage nach dem Sinn hineinzuführen (z. B. dem Sinn einer Krankheit)

–          Ermöglichung der Kommunikationsschritte des Gegenübers wie Aussprechen, Erinnern, Wiederholen und durcharbeiten

–          Auslegung einer Seelsorgesituation mit dem Ziel Ansatzpunkte zur Erweiterung eigener Perspektiven zu finden

–          Unterschiedliche Konzepte, die es zuzulassen und ins Gespräch zu bringen gilt.

Diese Stichworte zeigen exemplarisch, dass die Frage nach einer bestimmten Seelsorgekonzeption nach Christoph Morgenthaler nicht die nach einem in jeder Situation zu funktionierenden Modell sein kann (wie kerygmatisch oder therapeutisch), sondern die Frage nach einer Konzeption in einer konkreten Situation unter der Voraussetzung des eigenen persönlichen Seelsorge (- und Kirchen)  Verständnisses sein muss.
Die einzelnen Kapitel des Seelsorge Lehrbuchs sind gründlich ausgearbeitet und dennoch nicht einheitlich konzipiert. Es scheint so, als ob jedes einzelne Kapitel, sei es bezogen auf konkrete Subjekte, Methoden oder Situationen jeweils auch ein eigenes oder anderes Konzept erfordert.
Natürlich werden regelmäßig die Grundlagen systemischer Orientierung genannt, die in der Seelsorgeausbildung zurzeit auch zum Grundbestand des Wissens gehören. Sie werden aber nicht systematisch theoretisch verortet, sondern auf di Praxisinhalte bezogen. Seelsorge fragt z. B. nach Ressourcen.  Das heißt hier, dass sie an das Credo des Einzelnen genauso denkt wie an die immanenten und transzendenten Beziehungsebenen. Sie ist lebensgeschichtlich orientiert, lässt erzählen, denkt an Stationen im Lebenszyklus und fragt nach der Relevanz der Religion für den Lebenslauf (Biografie). Eigene Entwicklungsphasen fragen nach eigenen Antworten auch in familienorientierter und intergenerationeller Perspektive. Sie kennt den Umgang mit Geschichten als eigenen Erkundungsprozessen und fragt danach, worin gerade die eigenen Erfahrungen, auch die zur Klage Anlass geben, zu Ressourcen werden können. So gesehen wird die Seelsorge selbst nicht nur als Aktion, sondern auch selbst als Ressource verstanden: Seelsorge bietet soziale Unterstützung; Seelsorgende können die bejahende Kraft der Gnade verkörpern; Seelsorge richtet den Blick auf die persönlichen Ressourcen; Seelsorge denkt daran, die eigene Selbstachtung zu stärken; Seelsorge fördert die Kommunikation.
Christoph Morgenthaler regt dazu an, Seelsorge mit der Selbstkonzeption zu vollziehen, also indirekt immer die systemischen Grundfragen durchzuarbeiten. Die Grundfrage, ob die Konzeption von ihrer Systematik her immer eindeutig und gleich funktioniert, wäre von diesem Ansatz her nicht nur nicht zu stellen, sondern auch abzulehnen. Seelsorge ist weder nur systemisch, nur Gender-orientiert, nur (inter-)religiös oder nur rituell. Seelsorge ist Gespräch und Stille, ist persönliches Handeln wir Einladung zur Passivität, Ergreifen einer Initi9ative wie das Suchen einer Ressource. Seelsorge ist Leben.
Christoph Morgenthaler lädt dazu ein, sich der eignen Konzeption im seelsorgerlichen Handeln bewusst zu sein und zu werden und diese auch immer wieder hinterfragen zu lassen. Das Material aus verschiedenen Handlungsperspektiven wird dazu reichlich geboten und es eignet sich dazu, in der Praxis erprobt zu werden. Hierin ist dieses Lehrbuch sicher auch eine Fundgrube. Ein Handbuch steht zwischen Theorie und Praxis. Das ist Christoph Morgenthaler im Konzept gelungen.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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