Rezension zu: Neutestamentliche Grenzgänge. Hrsg. von Peter Lampe und Helmut Schwier, Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens. Festschrift für Gerd Theißen. Göttingen 2009, ISBN 978-3-525-53393-2, 70,00 Euro
Festschriften haben den Vorteil, dass sie zeigen, mit welchen Schwerpunkten in welche Themenbereiche hinein ein Wissenschaftler und Lehrer gewirkt hat, wie bei einer Prüfung, bei der der Lehrende merkt, was hängen geblieben ist. Diese Prüfung hat Gerd Theißen mit „sehr gut“ bestanden, wenn auch zu vermerken ist, dass nach diesem Buch die Hitliste seiner Schriften etwas anders aussehen dürfte, als die Bekanntheit der Bücher normalerweise vorgibt. Darauf nun in der Rezension einzugehen, würde der Lektüre vorgreifen, es soll lediglich neugierig machen. Ein paar Sätze zu jedem Aufsatz dieses Bandes sollen genügen:
Die Abschiedsvorlesung Theißens bildet den Auftakt, und so eröffnet sich die Frage, ob sich das heutige Selbstverständnis Theißens von seiner Rezeption unterscheidet. Er ist erstaunlich grundsätzlich und ordnet den Protestantismus ein in Religion und Ethik. In der Bibel sieht er dabei eine Ethik „von unten“. Die Religion geht davon aus, dass der letzte Sinn des Lebens gesetzt und geschenkt ist. Der Begriff des Protestantismus leitet sich nicht vom Protest ab, sondern vom Glauben, der in die Freiheit führt, in der jeder und jede selbst entscheiden kann, was er oder sie glauben kann und will.
Ulrich Luz greift von der Forschung Theißens her den Begriff des Mythos auf, sieht ihn auf dem Hintergrund von Religionstheorien und verdeutlicht dies am Christusmythos. Dabei wird Theißens Ergebnis der urchristlichen Religionstheorie einer durchaus auch kritischen aber wertschätzen Überarbeitung unterzogen. Das Bild der Kathedrale für den urchristlichen Glauben hält Luz für überladen.
Heikki Räisänen greift wiederum schon im Titel das Bild der Kathedrale auf, das im finnischen Kontext eine besondere Wirkungsgeschichte ausgelöst hat. Es wird von daher als kontraproduktiv aufgefasst. Das Urchristentum ist daher eher die „Baustelle einer Kathedrale“ oder besser gesagt eine Reihe kompatibler Kapellen gewesen.
Bengt Holmberg greift das Thema der Jesusforschung auf und zeigt, aus welchem Grund und vor welchem Hintergrund Gerd Theißen das Differenzkriterium für den historischen Jesus durch das Plausibilitätskriterium ersetzt hat.
Wolfgang Stegemann findet heraus, dass die Wanderradikalismusthese Theißens auf einer Vorgabe von Adolf von Harnack (1851-1930) beruht, die er in den Zusammenhang religionssoziologischer Überlegungen stellt. Markus Tiwald, der Franziskaner in der Nachfolge Theißens wird zitiert, da er mit diesem aufzeigt, dass die Quellensammlung Q diese (genannte) Lebensform bevorzugt („Nachfolge“). Ob dies mit dem traditionellen Modell der Kyniker zu tun haben könnte, lässt sich historisch nicht klären. Wichtig scheint hier eher, dass die Texte der Quelle Q die Aufgaben der Heilungen und der Predigten bevorzugen und dazu das Abschreiben und Tradieren der Texte voraussetzen. (Vom Predigen wird viel und vom Heilen dagegen weniger gesagt.) Fazit: Es gibt auch auf der Basis der Q-Texte alternative Erklärungen, besonders, wenn man wie später bei Paulus (auch) hierfür die Existenz von Ortsgemeinden voraussetzt, womit Theißen wieder an die Begründer der Formgeschichte anknüpft, die gerade in den Ortsgemeinden den Sitz im Leben der urchristlichen Literatur erkannten.
Annette Merz würdigt Gerd Theißens entscheidenden Beitrag zur Untersuchung der sozialen Schichtung der hellenistischen Gemeinden. Die in den Paulusbriefen namentlich genannten Personen werden einer reichen und sozial integrierten Gesellschaftsschicht angehört haben. Die frühere Annahme, es habe nur Arme in den hellenistischen Gemeinden gegeben, ist überholt. Gerade die urchristlichen Riten wie Taufe und Abendmahl bezeugen die Gleichheit unabhängig von sozialem Status, von Rasse und Geschlecht. Der Begriff des Liebespatriarchalismus, den Theißen in seiner frühen Literatur verwandte, ist dagegen verständlicherweise umstritten. Bezogen auf die Frage der Armut wird Theißen eine gewisse Nähe zum modernen Kapitalismus unterstellt, mit der Meinung, er würde die Bedeutung der Armen in den hellenistischen Gemeinden ignorieren. Armut sei für ihn eher ein Problem der Landbevölkerung, wo er den Wanderradikalismus ansiedelt. Interessant ist trotz aller Unschärfe, dass Armut bei der Lektüre nicht nur materiell gemeint ist, sondern immer gleich die Frage der Partizipation einschließt. Die frühen christlichen Gemeinden verstanden sich nach Gerd Theißen als Repräsentanten einer „neuen Menschheit“, da die Mahlfeier nicht nur als Kult galt, sondern auch als Tafel für Arme fungierte, formell als Einladung in Privathäuser, wobei die Einladenden nicht als privilegiert galten, sondern als Teil der Gemeinde. Dies belegt Annette Merz abschließend am Beispiel der im Römerbrief genannten Patronin Phöbe.
David Trobisch zeigt in einer ausführlichen Rezension die Arbeitsweise Gerd Theißens in dessen Buch ‚Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem‘. Dabei ist zunächst ein stark sozialgeschichtlicher Schwerpunkt zu konstatieren, da es sich bei den Schriften des Neuen Testaments um eine besondere Form von Literatur handelt, und zwar einer in der Unterschicht verbreiteten Bewegung. Das konkrete Beispiel des Hebräerbriefs, der durch seine literarische Einordnung als (echter) Paulusbrief gilt, zeigt nun, dass im Buch von Gerd Theißen die entscheidende Frage offenbleibt, welche Funktion und Geschichte das Buch „NT“ in seiner Endgestalt vom 2. Jahrhundert an erfüllt hat. Der Autor ermutigt Theißen, das begonnene Werk der Literaturgeschichte fortzusetzen.
Oda Wischmeyer referiert ebenfalls Theißens literaturgeschichtliche Arbeit. Theißen, so die Autorin, stellt das Markusevangelium neben die Paulusbriefe, da beide als personenbezogene Literatur die frühe Phase der christlichen Schriften prägen. Theißen geht über die frühere neutestamentliche Literaturgeschichte hinaus:
-Die Anwendung des modernen Literaturbegriffs auf die Schriften des Neuen Testaments ist nicht ohne eine Umdefinition traditioneller Gattungen möglich.
– Es greift zu kurz, wenn Theißen die Entstehung urchristlicher Literaturen in Beziehung setzt mit der Geschichte der frühen Christenheit.
– Theißen erneuert die lange wissenschaftliche Tradition der Literaturgeschichte des neuen Testaments und versucht sie in erster Linie historisch zu bewerten.
– Die Wanderradikalismusthese Theißens ist der Schlüssel zum Verständnis des Anfangs neutestamentlicher Literatur. Theißen füllt die Leerstellen der Formgeschichte. Damit wird auch die Zweiquellentheorie endlich verständlich: Den „Traditionen Jesu“ wird als Gegenentwurf ein „Buch über Jesus“ (Mk) entgegengesetzt; diese Quellen werden bei Lukas und Matthäus wie auch im Johannesevangelium mit dem Sondergut verschmolzen.
Parallel dazu wird Paulus gesehen, der die Gemeindebriefe geschaffen hat. Die Frage ist nun: Wie viele Traditionen Jesu sind Paulus bekannt gewesen?
Martin Leiner weist darauf hin, dass der Begriff „Revitalisierung“ in Bezug auf das Judentum nicht adäquat ist. Es ist mit Bezug auf Gerd Theißen selbst nötig, Kontinuität und Bruch mit dem Judentum gleichermaßen zum Ausdruck zu bringen, was dieser Begriff seiner Meinung nach nicht leistet. Er schlägt dafür den Begriff „Rekapitulation“ vor, womit die gesamte alte Tradition einer anderen Interpretation (Messias ist Jesus) unterzogen wird. Als Beispiel für diese Beziehung zum Judentum wird der Koran genannt, denn auch mit dem Islam vollzog sich eine Neuinterpretation der jüdisch-christlichen Religion verbunden mit einer Verselbstständigung. Somit lassen sich auch Taufe und Abendmahl von dieser Neuinterpretation her deuten, was Zitate Theißens und anderer Autoren belegen. In der Sprache der Evolution deutet Gerd Theißen die Botschaft Jesu antiselektionistisch: „Das Leben hat eine Chance. Gott ist gütig.“ Diese Aussage wird auch psychologisch gedeutet: „Der Mensch muss sich nicht mehr als gut oder böse, als Sohn des Lichts oder der Finsternis zu ordnen, sondern er kann das Böse in sich als seine Realität wahrnehmen, ohne gleichzeitig das Gute leugnen zu müssen.“ Auch die Interpretation der Paulusbriefe stützt eine solche Formulierung. Eine weitere Frage und Herausforderung wird sein, wie das Christentum im Lauf seiner Geschichte weitere Religionen rekapituliert und integriert hat.
Petra von Gemünden bedankt sich bei Gerd Theißen für den Mut, eine psychologische Exegese zu betreiben, da diese trotz mancher Bedenken der biblischen Tradition angemessen sei. Besonders hinter allegorischen Texten wie bei der Gleichnisdeutung Markus 4, 13-20 steht die Tendenz einer im Prinzip psychologisierenden Fragestellung. Dass die antiken Autoren von ihrer Beobachtung ausgehend theologisch oder mythisch argumentieren, steht nicht im Gegensatz zur psychologisch gedachten Wahrnehmung, womit gezeigt ist, dass die psychologische Fragestellung kein Anachronismus ist.
Elisabeth Parmentier zeigt, dass das von Paul Tillich entwickelte Denken der Korrelation von Gerd Theißen weiterentwickelt wird. Die christliche Religion besteht demnach aus einem Zeichensystem, dessen Struktur sich aus der Tradition heraus immer neu entfaltet. Im säkularen Kontext ist jedes Glaubenselement als ein Lebensmotiv zu deuten. Die Mitte der Bibel ist die Rede von Gott, der sich durch den Geist vermittelt. Jesus Christus ist das Zentrum der religiösen Sprache, mit dem alle Motive verbunden sind. Innerbiblisch präsent ist dabei schon das Potenzial der Störung, denn: „Religiöse Sprache sagt Neues …“ Das Ziel der religiösen Worte liegt darin, dass der Mensch zu seiner Bestimmung findet. Insgesamt ist einsichtig, dass die praktische Theologie vom Ansatz Theißens profitiert. Er ist persönlich, kontextuell und Adressatenbewusst. Die dadurch erfahrene Begegnung mit Gott ist keine statische Reproduktion altbekannter Texte, sondern eine erneuernde Erfahrung von Wort und Situation.
Helmut Schwier zeigt ausgehend von der Bibeldidaktik Gerd Theißens, dass dieser Predigtlehre und Predigtpraxis miteinander verbunden hat. Eine Predigt Theißens wurde als „Lesepredigt“ mit Unterstützung elektronischer Geräte daraufhin getestet, inwieweit sie Aufmerksamkeit erzeugt. Da die Predigt zuerst im Hochschulgottesdienst gehalten wurde, sind Kontext und Sprache für eine einfache Gemeinde etwas schwierig. Dennoch zeigt sich die Aufmerksamkeit kontinuierlich über 20 Minuten hin, ja sie steigt gegen Ende sogar an. Der Schluss stellt eine affirmative Beziehung zur Osterbotschaft her und wird von den Hörer/innen als Höhepunkt der Predigt erlebt. Der durchgängig narrative Duktus wird allerdings als irritierend erlebt. Der Autor formuliert am Ende seines Berichts einige Thesen, anstelle explizit auf das Erwartungsdefizit der Hörer einzugehen. Es ist etwas schwierig zu verstehen, warum die Analyse der Predigt genau so durchgeführt wurde. Dass Gerd Theißen aber ein engagierter und reflektierender Prediger ist, der offen für diverse literarische Stilrichtungen ist, wird in diesem Bericht belegt.
Eberhard Faust reflektiert in seinem Beitrag den Mythos der Klimakatastrophe. Zunächst wird nicht so recht deutlich, welcher Bezug zur Theologie Gerd Theißens besteht. Der Kontext der Klimaveränderung mag eine Rolle spielen für die Situation, in der sich heutige Theologie wiederfindet. Gerd Theißen blendet diese Situation nicht aus. Doch auf solche Parallelen zu Theißens Theologie geht der Autor gar nicht ein. Er erklärt sehr kundig die Entstehung der Rede von der globalen Erwärmung und die Funktion ihrer öffentlichen Akzeptanz. Der inhaltliche Bezug zu Gerd Theißen ist dann die Analyse des Begriffes „Klimakatastrophe“ als eines öffentlichen Mythos. Die Beschreibung dieses Phänomens als Mythos bedeutet aber nicht dessen Leugnung, sondern zeigt, wie Politiker und Öffentlichkeit damit umgehen. Die Ablösung der Menschheit von der Natur ist reine Fantasie, da der Mensch in Naturprozesse eingebunden bleibt. Die Rede von der „Klimakatastrophe“ ist gerade darin problematisch, dass sie zu unberechtigten Verwechslungen führt. Die Angstbesetzung der Katastrophensprache lenkt von tatsächlich umsetzbaren Faktoren ab. Die Inflationierung archaischer Ängste führt zur Abstumpfung und völliger Skepsis, anstelle zu motivieren, etwas gegen den realen Klimawandel zu tun.
Gerd Theißen. „Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein.“ Das Ende des Buches ist eine Dokumentation der Heidelberger Antrittsvorlesung Theißens aus dem Jahr 1980, die zuvor niemals gedruckt erschienen ist. In ihr wird das moderne Bewusstsein insofern ins Spiel gebracht, als die aus der Evolutionstheorie geläufige Metapher der Mutation auf biblische Inhalte angewandt wird. Wo in der Bibel von einer neuen Welt oder einer neuen Schöpfung die Rede ist, kann die Metapher der Mutation gebraucht werden, um eine Brücke zwischen dem biblischen Inhalt und dem modernen Bewusstsein zu schaffen. Hier kommen Beispiele aus der Mutationsforschung der biologischen Evolutionstheorie zum Tragen. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die christlogische Vorstellung von der neuen Schöpfung das biologische Selektionsprinzip infrage stellt. In diesem wäre nämlich der Tod der Preis für die Entwicklung zu einer höheren Lebensform. Doch in der Auferstehung des Gekreuzigten ist das Selektionsprinzip inhaltlich überwunden. Die Grundbotschaft der Bibel stellt die Solidarität über die Selektion. So wird die moderne Metapher der Mutation zur Beschreibung einer biblischen Aussage herangezogen und selbst zu einem Beispiel dafür, dass sich die Botschaft der Bibel kreativ immer neue semantische Felder erschließt, ohne den Bezug zur Tradition aufzugeben.
Fazit: Die inhaltliche Position Theißens ist weniger die eines Grenzgangs, wie es der Titel des Buches suggeriert, sondern die einer Neugewinnung von Sprache auf der Basis der biblischen Tradition. Die Begegnung mit der säkularen Gegenwart ist kein Grund zu fatalem Traditionalismus, sondern eine Aufforderung zur Gewinnung neuer semantischer Felder, um die Bibel zum Sprechen zu bringen. Der vorliegende Sammelband ist (nun) keine Wirkungsgeschichte Theißens, sondern ein Dokument der Weite seiner Positionen, die die Axiome der säkularen Sprache nicht von der Bibel und ihrer Auslegung separiert, sondern zum Dialog bringt, kein Abschluss, sondern ein Zwischenstopp. Seine Arbeit hat vieles angestoßen und wird dies auch in Zukunft noch tun. Die Frage nach Jesus, die Theißen von Anfang an umtreibt, ist nicht zu trennen von der urchristlichen Religions- und Literaturgeschichte. Die historisch kritische Erforschung des Neuen Testament ist nicht zu Ende, ja hat vielleicht gerade erst richtig begonnen.