Der Datenbestand der 2008 veröffentlichten Studie zum Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung, der mir 2010 zur Verfügung gestellt worden ist (unveröffentlicht), zeigt in der Selbsteinschätzung, aufgeteilt auf die der Umfrage zugrunde liegenden Dimensionen der Religion die überraschende Tatsache, dass sich ein Drittel der Konfessionslosen als religiös, davon 2 % sogar als sehr religiös bezeichnen. Dieses Ergebnis lässt danach fragen, in welcher Hinsicht dieses Selbstverständnis zu interpretieren ist. Daher habe ich alle Ergebnisse des Datenbestandes, die sich auf Konfessionslose beziehen, einmal getrennt von den anderen betrachtet, auch ohne Vergleiche anzustellen.
Um auszuschließen, dass in dieser Bewertung der Religiosität Konfessionsloser ein Irrtum vorliegt, möchte ich zunächst Ergebnisse aufzeigen, die das landläufige Urteil der Konfessionslosen als den „religiös Unmusikalischen“ bestätigen. Dazu passt ins Bild, dass 96 % der Konfessionslosen keine oder wenig öffentliche religiöse Praxis pflegen (z. B. Gottesdienstbesuch) und auch 85 % nur wenig private religiöse Praxis (Gebet). 74% beten nie, 74% meditieren nie und 90 % besuche nie den Gottesdienst. In der Priorität der Werteskala liegt die Religion an letzter Stelle: 1. Partner, Partnerin, 2. Arbeit/ Beruf, 3. Bildung, 4. Familie, 5. Freizeit, 6. Politik, 7. Religion. Eher traditionelle Begriffe wie Schuld und Befreiung von Schuld oder von einer bösen Macht, sowie Begriffe wie Angst, Zorn und Verzweiflung werden selten mit Gott oder etwas Göttlichem in Verbindung gebracht. Relativ klar sind auch die negativen Bewertungen eher traditionell geprägter Glaubenssätze wie die Überzeugung, dass die eigenen Religion recht hat (87%), dass die Mitglieder der eigenen Religion zum Heil gelangen (82%), sowie Bemühen, möglichst viele Menschen für die eigene Religion zu gewinnen (85%). Vermutlich ist es insgesamt der Habitus des Glaubensbesitzes, der hier gar nicht oder selten vorkommt. Dementsprechend hoch ist auch die Ablehnung der Frage nach dem Glauben an Gott (71%) und der Frage nach dem Sinn des Lebens im Glauben an Gott (81%). Auch die Gegenprobe funktioniert, denn 90% sind mehrheitlich der Meinung, dass das Leben nur dann einen Sinn hat, wenn man ihm selbst einen Sinn gibt. Allgemein wird demnach das Leben hauptsächlich von den Gesetzen der Natur bestimmt (84%).
Nachdem nun hinlänglich deutlich ist, dass das Bild der Konfessionslosen in der Umfrage des Religionsmonitors durchaus dem üblichen Kirchenfremden entspricht, ist zu fragen, welche Religiosität das eine Drittel hat, d. h. von welchem Themen und Handlungen ihre Vorstellung von Religion geprägt ist.
Eine sehr hohe Bewertung hat dabei die intellektuelle Dimension von Religion (7% hoch und 38 % mittel). Daneben tritt die Einheitserfahrung (21+7%) und das pantheistische Spiritualitätsmuster (16+4%). Weiterhin gibt es gelegentlich „Du“-Erfahrungen, Meditation und Gebet. 38% aller befragten Konfessionslosen wurden religiös erzogen. Sie kennen Gebet und Meditation, machen aber nur selten davon Gebrauch. Ihre Religion ist überwiegend individuell und nie öffentlich. Wie bereits festgestellt, überwiegt dann doch das Nachdenken über religiöse Themen (intellektuelle Dimension). Dabei kommt es auch zu kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition. (24% gelegentlich). Auch das Gefühl göttlichen Eingreifens oder der Einheit in und mit Allem kann es gelegentlich geben. Über 90% der Konfessionslosen denken zumindest gelegentlich über das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt nach (40% oft und 28% sehr oft). Insgesamt liegt die Selbsteinschätzung bei einem Drittel bei wenig religiös (27%) und wenig spirituell (31%), wohingegen 66% nicht religiös und 54% nicht spirituell sind. Es handelt sich um also bei einem Teil der Konfessionslosen um eine schwache, noch durch eine religiöse Erziehung geprägte, individuelle Religiosität, die sich aber sehr an Fragen von Leid und Ungerechtigkeit entzündet. Diese Menschen sind jedoch nicht gänzlich ungläubig, leben im Alltag sogar nach religiösen Geboten und interessieren sich für religiöse Themen. Eine Minderheit davon scheint esoterischen Einstellungen zuzuneigen, da 8% an übersinnliche Mächte glaubt, 6% an Astrologie und 8% an die Wirkung von Engeln. Zur Fragestellung: „Wie stark wirkt sich Ihre Religiosität auf folgende Lebensbereiche aus?“ äußern sich eine Minderheit von ca. 8-10% positiv zur religiösen Erziehung, Partnerschaft, Freizeit und Sexualität. Eine stärke Zustimmung finde die Frage nach dem Sinn des Lebens. Dort liegt die positive Zustimmung bei 17%. 17 % schätzen die Religion ebenfalls im Zusammenhang mit Erfahrungen von Lebenskrisen, 18 % im Umgang mit wichtigen Lebensereignissen, 19% im Umgang mit Krankheit. Die stärkste Zustimmung von immerhin 24% auf der rein positiven Seite findet sich bei der Frage nach dem Umgang mit der Natur. Dies ist interessant, weil die positive Zustimmung zum Umgang mit der Natur in diesem Kontext nicht aus einer Glaubensaussage oder Bindung an die Religion folgt. Die Schlussfragen zeigen, dass dabei auch eine Anbindung an unterschiedliche religiöse Quellen erfolgen kann. Für 46% hat jede Religion einen wahren Kern. Sogar 80% meinen, man sollen allen Religionen gegenüber offen sein. Dabei spielt im praktischen Alltag die Orientierung an Recht und Gesetz eine hohe Rolle. Von Ausländern erwartet man die Orientierung an den vorherrschenden Lebensstil im Gastgeberland.
Auch wenn bei Konfessionslosen mit ca. 2/3 die Ablehnung jeder Religion überwiegt, so gibt es bei 1/3 eine wenigstens schwache religiöse Selbsteinschätzung. Religion wird, von einigen esoterischen Richtungen abgesehen, als Wert für den allgemeinen Sinn des Lebens gesehen, der besonders in Krisen wichtig zu sein scheint. Die öffentliche Ausübung der Religion wird ersetzt durch eine intensive intellektuelle Auseinandersetzung mit religiösen Fragen. Das gesellschaftliche Leben orientiert sich an Recht und Gesetz auf der Grundlage einer freiheitlichen und toleranten Gesellschaft, was auch die Beachtung aller Religionen einschließt. Für viele dieser schwach religiösen Menschen außerhalb der Kirchen hat jede Religion eine wahren Kern. Der konkrete Glaube an Gott tritt zurück hinter eine allgemeine Orientierung an religiösen Themen und Erscheinungen eher pantheistischen Charakters. Trotzdem sind neben Einheitserfahrungen auch religiöse „Du“-Erfahrungen denkbar. Es hat sich im Bereich der Konfessionslosen, die ja immerhin zu 38% auf eine kirchliche Sozialisation zurückblicken, eine individuelle, an allgemeiner Verantwortung orientierte Religiosität herausgebildet, die die Einbindung in jegliche Institution und eindeutige religiöse Festlegung scheut. Sie bildet sich unter dem Einfluss publizistischer und medialer Einflussnahme, die eine intellektuelle Auseinandersetzung ermöglicht. Ein Drittel aller kirchenfremder konfessionsloser Menschen in Deutschland dürfen nicht als gänzlich religionslos bezeichnet werden. Im Einzelfall mag sogar eine stärkere ethische Orientierung vorliegen als bei Kirchenmitgliedern, auch wenn dieser Befund in dieser Umfrage nicht verallgemeinerbar ist. Es wäre daher interessant die Umfrage mit einer dezidiert ausführlichen ethischen Schwerpunktsetzung zu wiederholen.
Eine interessante, weil doch eher eigenständige Bewertung bietet die Auswertung der Aufteilung nach Altersgruppen, aus der der Bereich der Jugend, der 18 – 29 –jährigen ausgewählt wurde. Während die Konfessionslosen im Vergleich zu den Kirchenmitgliedern keinesfalls als völlig religionslos zu bezeichnen sind, steht die junge Generation der Religion insgesamt recht distanziert gegenüber. Dabei fällt auf, dass das Gottesbild, ob man ihm zustimmt oder nicht, traditionell metaphysisch als der höheren Macht gesehen wird, wenn nicht gar schon die Natur als Ganze das traditionelle Gottesbild ersetzt hat. Im Zusammenhang mit der religiösen Praxis taucht ein Widerspruch auf, der zur religiösen Erosion beiträgt. Einerseits wird das Thema Religion tabuisiert und als Privatsache angesehen, andererseits fällt aber die private Praxis fast völlig weg. Selbst Muslime beten wenig. Wenn Jugendliche religiös sind, dann nicht intensiv, eher beiläufig. Man betet also, wenn überhaupt, in kirchlicher Gemeinschaft, die man aber immer weniger sucht. Die Verbindung zwischen Religion und Alltag ist fast völlig weggefallen. Die Religion ist damit nicht ausgeschaltet, aber man nimmt sie vor allem als Angebot in der Krisenzeit wahr, als Spezialgebiet im Zusammenhang mit Tod, Krankheit und Leid, wovon man allerdings in diesem Alter weitgehend verschont werden möchte. Religion ist als Stütze in der Krise willkommen und wird mit den Themen Leid und Ungerechtigkeit in Verbindung gebracht. Religiöse Toleranz wird zwar angestrebt, aber faktisch nicht durchgängig praktiziert. Viele meinen, den Sinn des Lebens selbst schaffen zu müssen. Die religiöse Einstellung ist bei vielen eher negativ. Der Anteil derer, die konfessionslos sind, ist in dieser Altersgruppe recht hoch. Die eigenen Werte liegen demgegenüber bei den Themen Arbeit, Partnerschaft und Bildung und sind an den Fragen der Lebensplanung orientiert, womit die Religion wenig zu tun hat. Dennoch gibt es eine positive Einstellung zum religiösen Gefühl, dass man mit Begriffen wie Ehrfurcht und Dankbarkeit in Verbindung bringt, man braucht es nur eben nicht sehr oft. Sogar die Werte Hoffnung, Liebe und Freude werden in Verbindung mit Gott gebracht. Man kann sich vorstellen, dass in einer späteren Lebensphase ein stärkerer Kontakt mit der Kirche auch wieder zu einer Verstärkung der religiösen Praxis führen kann, z. B. im Zusammenhang mit der Familie. Fällt dies allerdings weg, dürfte der Trend zur Konfessionslosigkeit ansteigen. So einleuchtend es auch sein mag, kirchliche Angebote mit Schaltstellen des Lebens in der Familie in Verbindung zu bringen, so wenig reicht dies für eine normale Grundlage einer religiösen Praxis aus. Eine intensive religiöse Bindung wird in dieser Altersgruppe nur von einer kleinen Minderheit getragen.
Anmerkung zum Begriff der Dimensionen:
Stefan Huber: Der Religionsmonitor 2008: Strukturierende Prinzipien, operationale Konstrukte, Auswertungsstrategien. In: Woran glaubt die Welt? Hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2009. Stefan Huber unterscheidet die intellektuelle Dimension (religiöse Themen), ideologische Dimension (Glauben, Bekenntnis), öffentliche Praxis (Gottesdienst), private Praxis (Gebet), Erfahrung (Du-Erfahrung) und Konsequenzen (Ethik).