Predigt über 2. Mose 19, 1-6, Christoph Fleischer, Werl 2011

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis (Israel-Sonntag)
1 Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. 2 Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.

3 Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: 4 Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. 5 Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.

Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.

Liebe Gemeinde!

Hier in diesem Text ist sehr viel von einem Volk die Rede, von einem auserwählten Volk, dem Volk Israel. Wenn wir an uns, an die Kirche, die Gemeinde im Gottesdienst denken, dann merken wir schnell: Wir sind kein Volk, wir sind einzelne Menschen, Männer, Frauen, Mädchen, Jungen, Kinder, Alte. Wir kommen zum Gottesdienst, um Gott im Hören und Reden zu begegnen.

Wir empfinden uns als von Gott geschaffen, wir sind dankbar für unser Leben und das Leben der anderen und bitten Gott um seine heilsame Gegenwart in unserem Alltag, um Segen und Nähe, in guten und schlechten Zeiten. Wir Christen sind kein Volk, sondern Menschen aus vielen verschiedenen Völkern und Nationen, die in vielen Ländern der Erde leben, manchmal als Mehrheit, manchmal als Minderheit, als Einheimische oder Zugewanderte. Was uns verbindet ist der Glaube an Christus, der eine eröffnende Funktion hat. Das heißt der Glaube an Christus eröffnet uns die Nähe Gottes. Nur im Glauben, nicht im Wissen begegnet uns Gott als Grund unseres Vertrauens.

Auch wenn wir dies als Einzelne so denken und vollziehen, wissen wir uns dabei doch zugleich in Gemeinschaft. Wir wissen, dass wir Geschöpfe sind und so auch Mitgeschöpfe und Mitmenschen auf dieser Erde haben. Der Glaube bringt uns miteinander in Kontakt und zeigt uns, dass wir vor Gott und unter dem Menschen nicht allein sind. Die religiöse Grundhandlung, der Beginn des Lebens als Christ und Christin ist die Taufe. Die Taufe zeigt uns, dass Gott unser Gegenüber ist, schon bevor wir uns dazu verhalten können und werden. In unserem Verständnis folgt der Glaube auf die Taufe und nicht umgekehrt. Das sehen manche Konfessionen anders. Doch auch bei ihnen ist klar, dass Christinnen und Christen eine Gemeinschaft des Vertrauens und der Hoffnung bilden, keine Partei, kein Verein, kein Volk und kein Staat. Das Christentum ist übernational, wie auch die Bibel in sehr viele Sprache der Welt übersetzt worden ist. Wir lesen das Wort Gottes in unserer Sprache, wie die Menschen anderer Völker die Bibel in ihrer Sprache lesen können.

Wenn ich an den Predigttext und an das Thema des Volkes Gottes, an Israel denke, so eröffnen sich mir zwei Fragen:

Die erste Frage ist:
Was ist beim Volk Israel anders als bei uns und was ist gleich?

Und die zweite Frage ist:
Was sagen diese Sätze, dieses Bekenntnis Gottes zu Israel, für uns aus, obwohl sie so, wie sie gemeint sind, auf uns zunächst nicht zutreffen.

Dabei lasse ich eine Frage aus, die eigentlich noch vorher käme, und die fragt: Warum das alles? Warum haben wir uns mit dem Thema Israel zu beschäftigen? Diese Frage ist deshalb auszulassen, weil die Bibel die Grundlage unseres Glaubens ist und wir nicht einfach das herauslassen können, was nicht zu uns passt. Wir können vieles erklären und auch von unserem Glauben unterscheiden, aber das ist ja kein Weglassen. Die Bibel ist Grundlage unseres Glaubens und verbindet uns mit Israel, zumal Jesus Christus und die ersten Christinnen und Christen Juden waren. Wer diese Beziehung von vornherein ausblendet, wie dies unter dem Nationalsozialismus versucht wurde, der ist nicht mehr in einer christlichen Kirche. Die christliche Kirche ist anders als das Volk Israel, aber sie ist durch die Bibel mit dem Volk Israel für alle Zeiten verbunden.

Nun folgt die Beantwortung der Fragen, die ich jeweils noch einmal wieder hole:

Die erste Frage ist:
Was ist beim Volk Israel anders als bei uns und was ist gleich?

– Anders ist die Geschichte. Völker haben eine Geschichte, Religionen eigentlich nicht. Geschichtliche Fakten sind für ein Volk wichtig, aber nicht im gleichen Maß für einzelne Menschen. Geschichte ist immer vergangen, liegt in der Vergangenheit und rückt auch immer weiter in die Ferne. Wenn man das ändern will, muss man sie vergegenwärtigen, etwa einen Feiertag oder Gedenktag einführen, an dem bewusst eines Ereignisses wie der Wiedervereinigung gedacht wird. Das gilt im besonderen Maß für Israel. Die Bibel ist zum großen Teil ein Geschichtsbuch, in dem Erinnerungen aus der Geschichte Israels aufgeschrieben sind. Das muss nicht vollständig oder immer beweisbar sein. Wichtig ist, dass diese Erinnerungen vergegenwärtigt werden können, durch Feiertage, durch Riten, Sitten und Gebräuche. Dies zeigt an unsrem Text schon die Erzählung. Es wird genau festgehalten an welchem Tag das Volk Israel nach seiner Befreiung aus Ägypten am Berg Horeb eingetroffen ist und auf welchem Weg sie dorthin gekommen sind. Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug aus Ägypten. Dieser Tag gehört in den jüdischen Festkalender. Es ist das Fest der ersten Feldfrüchte und des Gedenkens an die Gebote, genannt das Wochenfest, bei uns ist es Pfingsten.

– Dass dieser Weg durch die Wüste dann noch vierzig Jahre dauern sollte, wird hier nicht erwähnt. Hier beginnt die Vorgeschichte der Herabsendung der zehn Gebote an Mose, daher wird genau gesagt, wo in etwa sich das Volk befindet. Geschichte hat es immer mit Zeiten und Orten zu tun. Ein Gedenken an solche Ereignisse setzt zumindest zum Teil auch den passenden Ort voraus. Zusätzlich werden in der jüdischen Religion die verschiedenen Ereignisse symbolisch nachgestellt, wie das Schlachten des Passahlamms am Feiertag des Auszugs oder wie hier der Tag, an dem Mose hinaus stieg zu Gott um die Gebote zu empfangen.

– Die Worte, die Mose nun auf diesem Berg empfängt und die auch später immer wieder weitergegeben worden sind, nehmen Bezug auf die geschehenen Ereignisse, der Untergang der Ägypter und somit die Befreiung aus der Sklaverei, und der Weg durch die Wüste zum Berg Gottes. Die Worte Gottes, die für Israel später wichtig sind, werden immer wieder in die Erzählung der Geschichte hinein gelesen, die von uns Christen so nicht nachvollzogen werden kann. Das heißt aber nicht, dass das für uns komplett unwichtig ist, eher im Gegenteil. Diese Ereignisse werden allerdings ein wenig ortlos und zeitlos, sie werden verallgemeinert und auf ihren Sinngehalt zurückgeführt. Sie lösen sich von der Präsenz in der israelitischen Geschichte und Landschaft. Das Geschehen an sich und die Worte treten in den Vordergrund. Israel ist für uns zum Typ der Religion geworden, wobei aber wichtige Inhalte beibehalten werden. Was wir gleich noch sehen werden. Der Unterschied ist klar: Die Geschichte Israels ist nicht unsre Geschichte, das Land Israel ist nicht unser Land, es sei denn wir wäre zufällig christliche Israeliten, welche es ja auch gibt. Wir würden jedoch die israelitische Bibel nicht lesen, wenn nicht ein ganz entscheidender Bezug übernommen würde, und das ist der Gottesbezug. Wir verstehen Gott in seiner Beziehung uns gegenüber ganz ähnlich wie das Volk Israel. Nur dass wir es eben nicht als Volk, sondern als Einzelne hören und glauben. Wir hören aus der Bibel, dass Gott der Schöpfer der Welt ist. Das muss niemand mit der Evolutionstheorie in Einklang bringen, sondern einfach glauben: Im Leben der Erde begegnet uns der Schöpfer, der Wille des Lebens, der Natur. Nicht auf das Machen der Natur kommt es an, sondern auf den Geist des Lebens. Wir hören aus der Bibel, dass Gott uns in den Worten begegnet. Diese Worte sind zur Schrift geworden. Das ändert aber nichts daran, dass wir diese uralte Erfahrung immer wieder nachvollziehen: Gott begegnet uns in den Worten der Menschen, die Erfahrungen mit ihm erzählen. Und Gott ist mit uns auf dem Weg. Er ist wie bei der ganzen biblischen Erzählung vorgestellt, wie beim Volk Israel immer irgendwie in der Nähe. Dabei ist er keine andere Wirklichkeit. Gott ist vielleicht eher das Gefühl, geleitet zu sein, gewollt zu sein, willkommen zu sein, erwünscht zu sein. Wer Gottes Gegenwart mit den Ereignissen gleichsetzt, kommt dann immer zu den fatalen Fragen: Warum ich, warum jetzt, warum nicht andere? Gott ist eher neben den Ereignissen als ihr Urheber. Er leidet sie mit und lebt sie mit.

– So können wir also von den Überlieferungen Israels auch auf unsere Gottesbeziehung schließen. Sie ist sozusagen der Prototyp, weil Gott in dieser Hinsicht in einem bestimmten Sinn vorgestellt wird. Und es ist gar nicht zufällig, dass sich diese Vorstellungen sogar im Islam wiederfinden, der auch vom Christentum und Judentum inspiriert worden ist..

Die zweite Frage soll nun noch einmal klar wiederholt werden: Was sagen diese Sätze, diese Bekenntnis Gottes zu Israel für uns aus, obwohl sie so, wie sie gemeint sind, auf uns nicht zutreffen?

Hierzu möchte ich die letzten Sätze des Predigttextes genauer betrachten und versuchen, die einzelnen Aussagen auf uns heute zu übertragen. Wichtig ist, dass ich damit nicht bestrebt bin, diese Sätze Israel wegzunehmen. Sondern ich versuche mich und meine Gottesbeziehung in ihren wiederzufinden.

4 Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.

5 Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein.

6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.

Von den einzelnen Ereignissen abgelöst lautet dieser Satz, den Gott selbst spricht: Ihr habt gesehen, was ich getan habe und wie ich euch getragen habe und euch zu mir gebracht. Die viermalige Vorsilbe „ge“ prägt sich ein: gesehen – getan – getragen – gebracht. Wer will mag diese Worte in Gesangbuchlieder oder anderen Texten nachsuchen. Gott hat es mit unserem Leben zu tun, indem wir etwas sehen und als von Gott für uns „getan“, „getragen“ und „gebracht“ deuten. Das ist aktiv, und wir sind passiv. Gott hat etwas getan, es ist etwas geschehen, das unserem Leben zugutegekommen ist. Es ist Befreiung geschehen, Heilung und Rettung. Dabei ist zumindest bei uns nicht von Wundern die Rede, sondern von dem, was geschehen ist. Es geht dabei um die Deutung. Wir haben etwas gesehen, also erlebt und deuten es als von Gott getan, wir erfahren uns als von Gott getragen und finden, dass wir dahin, wo wir jetzt sind, von Gott gebracht worden ist. Ohne diese Übertragung der geschichtlichen Dimension auf unser Leben ist die Religion nicht denkbar. Damit ist gar nicht gesagt, wie wir diese Kraft verstehen, die wir Gott nennen. Um diese Erfahrungen so zu deuten, müssen wir Gott nicht als eine zweite Wirklichkeit sehen, sondern es geht genauso ihn als die heilsame und segnenden Kraft unseres Lebens zu sehen. Das müssen nicht nur Glückserfahrungen sein: Gott kann uns auch zu denken geben, Steine in den Weg legen und einen langen Weg durch die Wüste führen. Mag sein dass das etwas ernüchternd ist, weil es nicht nur positiv ist. Aber finde es gut, dass wir unser Leben deuten können, dass wir einen Sinn in dem Geschehen erkennen und daraus auch Konsequenzen ziehen können. Das ist heute kein Zwang mehr, sondern eine Einladung.

Aus diesen Erfahrungen der heilsamen Gegenwart der Kraft Gottes folgt Glauben und Vertrauen. Dem Volk Israel gegenüber ist nun die Gabe der Gebote und der ganzen Thora zu erwähnen. In diesem Bibeltext ist Gott in der Mitte des Volkes. Der Text wird gelesen und gehört und so ist Gottes Stimme in unserer Mitte. Im übertragenen Sinn spricht Gott durch diese Bibeltexte in unser Leben hinein und weist uns auf die Deutungsmöglichkeiten hin. Er erwartet, dass wir seinen Bund halten und spricht uns zu, sein Eigentum zu sein. Ganz klar, das ist eine Form der Auslegung, die das, was früher dem Volk Israel gesagt wurde, jetzt auf einzelne Menschen überträgt. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Spruch: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein.“ Dieser Satz, zum Beispiel als Tauf- oder Konfirmationsspruch gilt für einen einzelnen Menschen, der sich nicht fürchten soll, weil er zu Gott gehört. Ursprünglich ist beim Propheten Jesaja, wo dieser Satz steht, aber ganz klar das ganze Volk Israel gemeint, das von Gott aus Ägypten befreit wurde (erlöst), beim Namen gerufen wurde (als auserwähltes Volk) und deshalb zu Gott gehörte: Du bist mein. Das Volk des Eigentums ist. Ich möchte nicht mehr darüber diskutieren müssen, warum wir das, was früher einem ganzen Volk gesagt wurde, jetzt auf einen einzelnen Menschen übertragen können. Das ist in unsrer christlichen Religion einfach so, weil durch Jesus eben diese Heilszusage allen Menschen gesagt worden ist. Früher sagte man, dass Gott diesen Segen seinem Volk weggenommen habe und den anderen gegeben. Doch was soll das denn bedeuten als nur eine Aussage der Eifersucht und des Hasses? Hier gilt das Sowohl als Auch. Das, was im Buch Exodus für Israel gilt, gilt im Neuen Testament für jeden einzelnen Menschen. Wir sind Gottes Eigentum! Die Begründung bleibt gleich und ist hochaktuell: Gott gehört die ganze Erde! Gott darf auf dieser Erde Menschen zu seinem Eigentum machen und erklären und darf gleichzeitig am Bund mit seinem auserwählten Volk festhalten.

Und so gilt nun auch der dritte Satz für uns Persönlich, dass wir ein heiliges Volk und ein königliche Priesterschaft sind. Das Priestertum aller Gläubigen ist uns mit der Taufe zugesagt. Wir können und dürfen selbst Verantwortung für unseren Glauben übernehmen.

Und so fasse ich zusammen:

So gut die Worte des Alten Testaments für das Volk Israel gelten, genauso ist es möglich, durch die Erfahrung mit Jesus Christus alles diese für einzelne Menschen als gültig zu glauben. Und damit sind alle unsere Lebenserfahrungen von dem Gedanken her zu deuten, dass sie vor Gott einen Sinn ergeben. Gottes Handeln an uns ist, er hat etwas getan, uns getragen und uns hierher gebracht. Das können wir sehen und so lernen wir, unser Leben zu verstehen. Wir hören die Zusage: Ihr seid Gottes Eigentum, ihr gehört dazu. Die Verbindung wird von Gott her zugesagt und in der Taufe bekräftigt. Wir sind Gottes Eigentum und werden zu einem Königreich von Priestern und zu einem heiligen Volk.

Das alles ist keine eigenmächtige Interpretation, sondern das, was durch Christus geschehen ist und was wir durch unsren Glauben auch in unserem Leben geschehen lassen. Wir müssen es nur zulassen, das Leben aus den Augen des Glaubens zu sehen, darauf vertrauen Gottes Eigentum und Besitz seinem Lebens zu sein und das Priestertum aller Gläubigen kräftig zu praktizieren. Religion ist der aktive Umgang mit eigenen Lebensdaten: Deutung und Perspektive, von Gott her begründet. Religion ist die Quelle von Sinn.

Für uns gilt dieser wie andere Sätze:

„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein.“

Amen.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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