Anmerkungen zu: Küstenmacher, Marion u.a.: Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird. Gütersloh, 3. Auflage 2011
Die Worte aus dem 58. Psalm hat Heinrich Schütz im 17. Jahrhundert, im Übergang zur Moderne, unter dem Eindruck des Dreißigjährigen (Religions-)Krieges vertont. Das Buch der Psalmen ist ein Buch von Gebeten, Liedern und Gedichten, die sich an JHWH richten, den Gott des Volkes Israel. Sie sind Teil der Geschichte des Monotheismus und eine Quelle christlich-jüdischen Denkens von der Antike bis hin zur Postmoderne.
„Wie nun, ihr Herren, seid ihr stumm,
dass ihr kein Recht künnt sprechen?
Was gleich und grad, das macht ihr krumm,
Helft niemand zu sei’m Rechten,
Mutwillig übt ihr G’walt im Land,
nur Frevel geht durch eure Hand,
was will zuletzt draus werden?“
Ein Gedicht ermöglicht eine ästhetische Erfahrung, die von etwas anderem spricht, als unsere Alltagserfahrungen: Es spricht von der Hoffnung, dass es anders sein möge. Im Jahr 2000 fand in Köln die Fachtagung „Verdammt frei? – Heimat und Sinnsuche von Lesben und Schwulen“ satt, zu der das Sozialwerk für Lesben und Schwule e.V. eingeladen hatte. Von einem Verlust von Heimat sprachen viele der Teilnehmer_innen damals: „Mit meinem Coming-out“ habe ich viel von dem verloren, was Heimat war. In meinem zweiten Zuhause (gemeint war der kirchliche Jugendverband, mc.) hatte vieles von dem, was mich ausmacht, keinen Raum mehr“. (Dokumentation der Fachtagung, Köln, 2001, S.54) Sich beugen müssen und krümmen, Unrecht erfahren und erleiden – nicht nur die Lebensgeschichten von lesbischen Frauen und schwulen Männer sprechen davon, wenn sie vom Erwachsenwerden in einer der christlichen Kirchen sprechen.
Der kritische Anspruch von Aufklärung und Moderne hat mit den Kirchen die Religion überhaupt in den Blick genommen. Dabei wird schnell deutlich: Eine quasi natürliche Religiosität mit einem naiven Gottesglauben (vgl. Derbolav, Josef (Hrsg.): Kritik und Metakritik der Praxeologie. Kastellaun, 1976, S. 15) wäre nur um den Preis eines Zurück hinter die Aufklärung zu haben. Bei Derbolav schon scheint auf, worum es gehen könnte, wenn er die „gläubige Liebe“ als die „Stufe des Durchschauens der regulativen Idee“ der Religion bezeichnet – ein Ausgang, der sich zu den Fragen der Begründung einer Ethik hinwendet.
So erinnert denn auch das neunstufige Modell, dass die Autoren_innen von „Gott 9.0“ vorlegen, an die Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils von Lawrence Kohlberg, die sich ja ebenso menschheitsgeschichtlich wie entwicklungspsychologisch lesen lässt. Kohlberg unterscheidet dabei ein vormoralisches Niveau von einem konventionellen und dieses von einem postkonventionellen Niveau, je nach dem, ob die subjektiven Begründungen von Handlungen motiviert sind von der Vermeidung drohender Strafen etwa, von der Übernahme konventioneller, „guter“ Verhaltenserwartungen oder von der Entwicklung überindividueller und auszuhandelnder, allgemeingültiger Normen. (Vgl. Oerter, Rolf und Leo Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim und Basel, 6. Auflage, 2008)
Schon der Titel des Buches impliziert Vorraussetzungen: Es geht um Gott, es geht um die Gesellschaft, es geht um eine spirituelle Perspektive, und es geht um Wachstum. „Es erscheint mir nicht unwichtig zu sein, (…) noch einmal auf das eigentlich evolutive Moment hinzuweisen, das in der Entwicklung zum Menschen sein vorläufige Spitze erfährt: Höher entwickelt, so haben wir gesagt, sind die Arten, die das Strukturprinzip des Lebendigen , das Prinzip der Selbstregulation weiterentwickelt haben“, so Günter Dux, der sich sehr ausführlich damit auseinandersetzt, wozu es gut ist, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Gottesbilder entwickelt haben. (Dux, Günter: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte. Frankfurt/Main, 1982, S.49f.) Wie also Kontingenz und Transzendenz ins Verhältnis setzen? Wie also Sinnstrukturen entwickeln aus dem, was Menschen in Laufe ihrer Lebensgeschichte erfahren? Wie also eine Antwort auf die Frage nach dem Tod des Subjektes finden, die die französische Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestellt hat, wenn denn das Leben eins zum Tode ist? Dux beschreibt die subjektivistische Logik, von einem Ereignis aus nach dessen Ursache zu fragen und hebt dabei die Einzigartigkeit des israelitischen Monotheismus hervor, eben weil es diesem auch darum zu tun war, zu einer Ethisierung der Lebensführung zu finden, zu einer normativen Ordnung, die eben jene Personifikation JHWHs hervorgebracht hat. Sein Fazit ist jedoch das Fazit des modernen Menschen, nach dem die Religion ihre Funktion eingebüßt hat, die Welt zu erklären und dem, was in ihr passiert, Sinn zuzuschreiben: „Über die ganze Geschichte hin haben Götter und Gott ihren Anhalt an der Auffassung der Wirklichkeit gefunden. Heute ist jeder, aber auch jeder rationale Anhalt abhanden gekommen. Der Verdacht, dass jeder Gottesgedanke nur die Hypostase der Subjektivität des Menschen ist, ist nicht zu entkräften.“ (Ebd., S. 306).
Die Autoren_innen von „Gott 9.0“ halten am Begriff Gottes fest, auch wenn sie ihn, ihrem Stufenmodell entsprechend inhaltlich wieder und wieder neu füllen. So meinen sie etwas anderes, als das, was das Deutsche Wörterbuch unter „Gott“ verzeichnet: „Gott“, das ist derjenige, der „angerufen“ wird (vgl. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: Gott. Im Internet: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=gott Stand: 25.03.2012). Das germanische Wort stellt einen Zusammenhang zur magischen Sphäre her. In Folge der Mission war es nötig geworden, für die germanischen Stämme eine Bezeichnung für den christlichen Gott zu finden, eine Bezeichnung, die als maskuliner Singular auch einen Eigennamen bezeichnen kann. „Gott“ bezeichnet also „den umfassenden, jenseitig überweltlichen Charakter des Begriffs, gleichsam seine objektive Seite (…) Gott ist Name des höchsten, allmächtigen, personhaft gedachten Wesens, das die Welt geschaffen hat, regiert, erhält und erlöst“ (ebd.).
Hier fallen die spirituellen Erfahrungen der Autoren_innen von „Gott 9.0“ und die Alltagserfahrungen des in den Sonntagsgottesdiensten der christlichen Kirchen verkündeten Gottes offenbar weit auseinander. An dieser Stelle wäre es lohnenswert gewesen, auf die Erfahrungen der Übersetzer_innen der „Bibel in gerechter Sprache“ zurückzugreifen. Sie benennen die Lücke, die bleibt, wenn JHWH, Adonai, der Heilige, ha-schem, die Lebendige, der Eine, die Ewige, die Eine, SieEr, Schechina, der Name, Du, der Lebendige, Ich-bin-da genannt wird. Wer eben „Gott“ sagt, gebraucht eine Sprache, die gebunden ist an ein anderes Weltbild als das, das die Autoren_innen von „Gott 9.0“ doch eigentlich vertreten wollen: Ein Weltbild, das Hierarchien kritisch zu hinterfragen eben nicht geeignet ist und das stattdessen noch immer von Herrschaft, von oben und unten, von klein und groß, von mehr und weniger und dem Urteil darüber spricht.
Die Autoren_innen setzten ihre spirituelle Sicht der kirchlichen entgegen und benennen so den kritischen Ansatz ihrer Argumentation. Damit können sie sich auf die zweite Wurzel des christlichen Glaubens, die antike Philosophie Athens beziehen: Der lateinische „spiritus“, das ist der Hauch, der Atem, der Geist, die griechische „psyche“, die Seele. Platon hatte seine Theorie der Seele zum ersten Mal im 5. Jahrhundert vor Christus in seinem „Phaidon“ entwickelt. Mit der Unsterblichkeit der Seele benennt er -neben der Tradition Jerusalems- die andere, dualistische Seite von Transzendenz als ein Spannungsverhältnis von Körper und Seele, von hier und dort, von Diesseits und Jenseits. Für die Autoren_innen ist die spirituelle Entwicklung eine Lösung des von der modernen Religionskritik nach Feuerbach und Marx aufgezeigten Problems. Eine Lösung, die eine Antwort auf menschliche Bedürftigkeit anbietet, die sowohl Kirchenkritik nachzeichnet, als auch ein personales Gottesbild verabschiedet: „Gott ist auf der türkisen Stufe pures Bewusstsein oder Geist. Der ‚spirit’, der allem zugrunde liegt und alles in allem ist.“ (Küstenmacher, Marion u.a.: Gott 9.0. Gütersloh, 3. Auflage 2011, S.211). Die türkise Stufe ist die achte, die vorletzte, die Stufe der „Diaphanie des Geistes“, die multiperspektivische Stufe fraktaler Netzwerke, als hätten die Autoren_innen hier eine Parallele zur „Nächsten Gesellschaft“ beschrieben, von der der Soziologe Dirk Baecker spricht. (Vgl. Backer, Dirk: 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft. Im Internet: http://www.dirkbaecker.com/16_Thesen.pdf Stand: 25.03.2012).
Dabei setzt „Gott 9.0“ auf eine „transrationale, christliche Spiritualität“ (ebd., S. 279), wohl wissend, dass Spiritualität und Irrationales allzu oft einhergehen. Ein Beispiel dafür mögen die Diskussionen sein, die sich im Anschluss an das Buch online ergeben haben, wenn beispielsweise wieder naturrechtliche Begründungen angeführt werden. (Vgl. Facebook-Gruppe „Gott 9.0“. Im Internet: http://www.facebook.com/groups/gott90/ Stand 25.03.2012). Das aber wäre, nach Hume und Moore, nach Aufklärung und Moderne, ein naturalistischer Fehlschluss vom Sein zum Sollen im Hinblick auf die Geltung von Wertbegriffen. Der Baum vor dem Fenster bringt eben keine Verhaltensaufforderung mit sich, aus ihm eine Kultstätte oder Brennholz zu machen – die Autoren_innen von „Gott 9.0.“ nennen das die „Prä-Trans-Verwechslung“ bezogen auf die rationalen, prärationalen und transrationalen Bewusstseinsstufen.
Als einen ihrer Gewährsmänner führen die Autoren_innen den französischen Schriftsteller André Malraux an: „Das 21. Jahrhundert wird religiös sein – oder es findet nicht statt.“ (Zit. n. ebd., S.275) Es sind diese Unschärfen, die einen kritischen Blick auf das Buch nötig machen, es sind die Implikationen, die die verwendeten Begriffe mitbringen: Wie unterscheiden die Autoren_innen denn „religiös“ von „sprituell“? Wo genau verorten sie ihre Spritualität – sowohl innerhalb des Christentums, als auch außerhalb, sowohl innerhalb der Kirchen, als auch außerhalb? Von wem sprechen sie, wenn sie „die Kirche“ sagen? Gleichzeitig setzen sie mit dem US-amerikanischen Autoren Ken Wilber auf die Weltreligionen: „Sie sind die einzigen Systeme, die wie eine Art großes Förderband Menschen helfen können, sich auf den Bewusstseinsstufen auch sprituell weiterzuentwickeln (…)“ (ebd., S.285). Bleibt am Ende die Kritik des evolutionären Modells. Die Autoren_innen implizieren damit eine vergleichende Ethik des Komparativs, des Erwägens und Ermessens, ohne dass sie die Bedingungen der Möglichkeit für das Fortschreiten Stufe um Stufe zu benennen und ohne, dass sie die Dialektik des Fortschritts in den Blick nehmen und kritisches Denken auf ihn anwenden würden. Am Ende bleibt auch die Frage nach Abgrenzung und Zugehörigkeit offen: Mit welchem Anspruch denn begegnen diejenigen, die vor dem Hintergrund des ursprünglich in das Management zielenden Ansatzes von „Spiral Dynamics Integral“, auf den sich die Autoren_innen berufen, auf einer höheren Stufe stehen, denjenigen, auf die sie ihrer Logik nach von oben herabschauen müssen?