„Genuss, Empfindung, Aufbegehren“ – zur Expressionismus-Ausstellung in Hamm, Christoph Fleischer, Werl 2012

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Das im Jahr 1992 erweiterte Gustav Lübke Museum in Hamm hat den Mut, einen großen Teil seines Expressionismus Bestands in einer thematischen Ordnung  zu zeigen, um wenige Leihgaben ergänzt, eine Ausstellung, die durch ihre Ruhe und Unaufgeregtheit besticht. In einer Zeit, in der Expressionismus derart in Mode ist, dass man schon fast um den Erfolg dieser Schau fürchten muss. Barlach in Münster, der expressionistische Farbenrausch in Essen und die Rekonstruktion der Sonderbundausstellung 1912 in Köln. Dort befinden sich überall wichtige Werke des Expressionismus. Doch diese Ausstellung zeigt eine thematische Auswahl von Werken um und für das Bild des Menschen und offenbart damit das Grundthema des Expressionismus. Wilhelm Morgner (1891-1917) mit seiner farbmächtigen und großformatigen Malweise wird zum Star. Die Impulse van Goghs vermag keiner so einfühlsam aufzunehmen und weiterzuentwickeln wie er, mit Tempera auf Pappe!

Schon im Eingang der Ausstellung, im Bereich der Portraits, begrüßt der bettelnde Jude (1912). Der armseligen Gestalt des bettelnden Alten widerspricht der linienbetonte und leuchtende, in rot-gelb Tönen gehaltene Farbauftrag, der nur um der Kontur willen von Blau und Grün , ebenfalls in langgezogenen Linien unterbrochen wird. Da sich diese Linien auch im Hintergrund der menschlichen Gestalt fortsetzen und so eine Szenerie andeuten, fällt doch eine gewisse Ähnlichkeit zu dem Bild auf, das „Einzug in Jerusalem“ genannt wird und vom Stilelement der Hohnekirche in Soest entlehnt ist. Auch dort ist es ein Bettler, der den Vordergrund bestimmt, allerdings vom hoch zu Ross sitzenden Reiter kontrastiert. Schon Ernst Barlach hatte bei einer Russlandreise die Gestalten der Bettler für sich entdeckt. Will Morgner hier schon wie 1907 Barlach damit eine Existenzaussage über den Menschen unterstreichen, und zeigt er nicht vielmehr hier im Stolz und im der Kraft der Gestalt des Bettlers, dass der Sinn des menschlichen Lebens nicht vom materiellen Reichtum abhängt?

Im Ausstellungsbereich der religiösen Motive ist es das Bild der Verkündigung des Engels auf dem Hirtenfeld zu Bethlehem, dass die Ausdrucksstärke des Expressionismus zum Tragen bringt. Der Engel befindet sich direkt unter dem hier als Sonne gemaltem Stern und stürzt wie ein Flieger vom Himmel herab, aufrüttelnd und eindringlich die am Boden verängstigt wirkenden Menschen auf die Wirkmacht einer im Menschen zu findenden Gewalt hinzuweisen, von der es hier heißt, dass nur der Frieden den Menschen das Heil bringen wird. Ernst Barlachs Engel wird erst ein paar Jahre später die Trauer über die Opfer des Krieges zum Ausdruck bringen. Dennoch: Der Himmel reißt auf und wird zu einer menschlich greifbaren, ja vermenschlichten Botschaft. Die Religion hört in dem Moment auf, wo sie zu ihrer eigenen Mitte findet, denn sie offenbart im Expressionismus den wahren Kern der menschlichen Existenz.

In einem Bereich, der von Kindern gestaltet wurde und nun der museumspädagogischen Arbeit dient, ist es ebenfalls ein Motiv Wilhelm Morgners, eines seiner Selbstbildnisse, die einen starken Eindruck hinterlassen. Diese Museumsecke ist den Soester Künstlern Wilhelm Morgner und Eberhard Viegener gewidmet, hier kurz Wilhelm und Eberhard genannt. Die Bilder hängen so tief, dass sogar Kinder sie auf Augenhöhe betrachten können. Fotos aus der Biografie ergänzen die Gemäldesammlung.

Das nächste Bild Wilhelm Morgners, das sich hier in Szene setzt, ist der „Mann auf dem Hügel“ (1911). Die Wolkenlandschaft der Soester Börde lässt hier eigentlich eher den Haarstrang erahnen als einen Hügel, von dem man einen wirklich sehr weiten Blick hat. Der Mann auf dem Hügel besticht durch seine Kleidung, die einem Einteiler gleicht. Gleichwohl ist er nicht nackt. Die wieder ganz in durchgezogenen Linien gemalte Gestalt enthält die gleichen Farben wie der Untergrund, der Hügel, auf dem er sich befindet. Zwischen ihm und den Wolken des Soester Himmels, die sich bis unter den Horizont erstrecken, erstreckt sich ein Band mit rot-grün gemalten Feldern und ein Bauernhaus aus Fachwerk. Die Weite des Himmel wird durch menschliche Kultur gestaltet und begrenzt. Der Mensch vermag das, was ihm seine Natur ermöglicht, nicht mehr, aber auch nicht weniger. In dieser Landschaft, wie in diesem Menschen steckt das Potenzial, die Gegenwart Gottes, die sich in der Natur und in den  Menschen erschließt zu gestalten. Die Wahrnehmung ist nicht rational greifbar, sondern sie  ist „Wille und Vorstellung“.

So ist die Ausstellung in Hamm eine wirklich gute Expressionismus-Ausstellung im Jahr 2012, da sie das eigentliche Thema vorsichtig und deutlich pädagogisch aufgearbeitet präsentiert: Die Erlebnisweisen der menschlichen Existenz, die dem Leben Sinn geben, es aber auch beeinträchtigen können. Bilder und Skulpturen von Emil Nolde, Ernst Barlach, Käthe Kollwitz, Johannes Grosz und vielen mehr zeigen eine repräsentative Auswahl in Ausgestaltung und thematischer Perspektive. Der Katalog ist solide gestaltet. Die Bilder meist großformatig auf einer Seite mit einer Textseite gegenüber.

Genuss, Empfindung, Aufbegehren, Menschenbilder im Expressionismus, hrsg. von Diana Lenz-Weber und Maria Perrefort im Auftrag des Museumsvereins Hamm e. V., Verlag Kettler, Bönen 2012, ISBN 978-386206-190-7, Preis im Museum: 19 Euro.

http://www.hamm.de/kultur/kultureinrichtungen/gustav-luebcke-museum/detailseiten-gustav-luebcke-museum/bilderdetail/newsgalerie/menschenbilder-im-expressionismus.html

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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