Zu: Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel, Glaube in Deutschland nach 1945, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2013, ISBN 9783647300405, Preis 29,99 Euro, Link zum Buch mit Infos: http://www.v-r.de/de/title-1-1/der_verlorene_himmel-1008292/
Wer aktiv Gottesdienste gestaltet, Menschen bei und vor Amtshandlungen oder bei volkskirchlich geprägten Gottesdiensten wie Einschulung, Konfirmation und Heiligabend persönlich begegnet, dem muss eine eigenartige Form der unbeteiligten Beteiligung auffallen. Es sieht fast so aus, als würde man mehrheitlich an kirchlichen Anlässen unter Protest teilnehmen. Entsprechend ist die Reaktion der Kleriker, die diese Klientel mehrheitlich als „Distanzierte“ abwerten. Dabei tragen diese Menschen durch ihre Kirchensteuer nicht unbeträchtlich zur Fortführung der kirchlichen Arbeit bei. Sicherlich ist die Zahl der Austritte bemerkenswert, aber gemessen an solch zur Schau gestellter Uninteressiertheit eigentlich fast zu niedrig.
Vor diesem Hintergrund kann man Thomas Großbölting nur zustimmen, wenn er in der Einleitung dieses Buches schreibt: „Die Kirchen werden leerer, die Zahl der Getauften nimmt kontinuierlich ab, immer weniger Männer und Frauen wollen noch Priester oder Pfarrer werden oder sich einer geistlichen Gemeinschaft anschließen. Für diesen Niedergang fällt eine Erklärung von vornherein aus: Es ist nicht die »Konkurrenz«, die diese Entwicklung angestoßen und befördert hat. Von wenigen Ausnahmen in jüngster Zeit abgesehen ist der Islam in Deutschland nie missionierend aufgetreten. Keine neue Kirche, kein neuer Glaube, nicht einmal ein staatlich geförderter Säkularismus waren im Westen Deutschlands vorhanden, um das Christentum zurückzudrängen oder gar zu ersetzen. Der bisherige Verlauf dieser Verfallskurve wie auch die demografische Entwicklung deuten darauf hin, dass dieser Prozess sich weiter radikalisieren wird, so dass die Selbst- und Fremdbezeichnung der christlichen Konfessionen als Volkskirchen zunehmend obsolet werden wird.“ (S. 12)
Dass diese Situation einer speziell deutschen Entwicklung geschuldet ist, zeigt der Blick auf andere Länder, die zweifelsohne jeweils andere Kirchensysteme haben. Ebenso ist die Analyse, so drastisch dies auch im vorangestellten Zitat klingen mag, keine Prognose für die Zukunft. Dennoch wird man in den Kirchen diese historische Analyse zur Kenntnis zu nehmen haben. In verschiedenen Schritten durchschreitet der Autor die Nachkriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts und beobachtet dabei die Auswirkungen auf das kirchlich religiöse Empfinden.
In der Nachkriegszeit schien der christliche Glaube und das kirchliche Engagement aus den Ruinen des zerstörten Landes neu zu entstehen. Doch in der darauf folgenden emanzipatorischen Phase nach Studentenbewegung und zweitem Vaticanum wurde deutlich, dass die Kirche des ausgehenden 20. Jahrhunderts sich der verändernden säkularen Struktur der Gesellschaft zu stellen hatte, was aber weitgehend misslang. Doch war es nicht auch schon neben der Diskussion von Schuld und Vergebung nach der historischen Katastrophe die wesentliche Erkenntnis, dass nur durch Mündigkeit und Selbstverantwortung ein solches Desaster hätte verhindert werden können? War die Kirche nicht doch noch zu sehr in autoritären Denkstrukturen verhaftet, die die Demokratisierung und Verselbständigung der Menschen im Nachkriegsdeutschland zunehmend in eigene, so zwangsläufig distanziertere Wege führte? Die dritte Phase, die auf die kritisch bewegte folgte, war und ist bis heute geprägt von stärker werdenden nicht christlichen Religionen, dem neuen Interesse für spirituelle Wege und den Auswirkungen kirchlicher Orientierungslosigkeit durch fortschreitende Traditionsbrüche. Noch heute tut man im kirchlichen Denken oft so, als müsse man geschlossenen Auges durch die Krise hindurch marschieren, so als sei es sozusagen erst am Ende des Kampfes an der Zeit, die Zahl der Verluste zur Kenntnis zu nehmen.
Wichtig ist am Buch von Größbölting, dass er nach einer Neufindung des religiösen Denkens fragt. Der Ausdruck vom „verlorenen Himmel“ ist mehr als eine Metapher, geht es doch um das kirchlich religiöse Denken. Wer sich hier also auf die noch als fest zu fühlende Eisscholle des Theismus rettet, stellt sich der Radikalität der Herausforderung nicht. Anders ausgedrückt: „Der Himmel als Sinnbild für den Bezug auf eine Transzendenz hat sich nicht aufgelöst, er ist nicht verschwunden. Wohl aber hat sich seine Bedeutung nicht nur für immer mehr Menschen in Deutschland verändert, in der Tendenz ist der Himmel auch für immer größere gesellschaftliche Zusammenhänge verloren gegangen. Eine kurz- oder auch mittelfristige Rückkehr zu den früheren Formen oder ein »Wiederfinden« des »alten Himmels« ist nicht zu erwarten.“ (S. 257)
Da die christliche Religion in anderen Ländern durchaus lebendig ist, führt der Autor diese Konsequenz auf die spezielle kirchliche Organisation in Deutschland zurück, die als aus den ehemaligen Staatskirchen entstandenen gesellschaftlichen Institutionen ihre Bindungskräfte weitgehend verlieren.
Doch stärker noch als diese Beobachtung von außen ist, dass die innere Zerrissenheit zwischen dem traditionell frommen und dem lebensbegleitenden Denken nicht nur in der katholischen Kirche ein Konfliktfeld ist, was am Beispiel der in zweiter Ehe lebenden Christen beschrieben wird. In den protestantischen Kirchen dominiert zusätzlich ein betriebswirtschaftlich binnenorientiertes Denken, was von einer anderen Seite her den Zugang zu den oft weniger berechenbaren Kirchenmitgliedern verbaut.
Die durch den vorherigen Papst Benedikt XVI. ins Gespräch gebrachte Entweltlichung ist zu Unrecht als Rückzug gedeutet worden. Es gehe dabei viel eher um Entflechtung zwischen gesellschaftlichen und kirchlichen Strukturen, um quasi an der Basis zu mehr Freiwilligkeitskirche zu verhelfen. Die Kirche bleibt auf die Gesellschaft bezogen und signalisiert „Offenheit und Dialogfähigkeit“ (S. 271).
Zugegebenermaßen sind in diese Rezension eigene Erfahrungen des Rezensenten eingeflossen, da bei der Lektüre dieses Buches von der Zeitgenossenschaft nicht abgesehen werden kann. Der Begriff „Himmel“, der vom Titel her auf die Erscheinungen des Religiösen hinweist, gibt zugleich den Blick auf mehr als nur pragmatische Lösungsversuche frei, die an den Wurzeln der christlichen Religionserfahrung ansetzt.