Zu: Donatella Di Cesare: Heidegger, die Juden, die Shoah, Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 2016, 406 Seiten, ISBN 978-3-465-04253-2, Preis: 29,95 Euro.
Die Erstausgabe dieses Buches ist 2014 in italienischer Sprache erschienen. Die Autorin Donatella Di Cesare, Professorin für Sprachphilosophie und jüdische Philosophie in Rom, die auch in Deutschland studiert und gelehrt hat, hat die deutsche Übersetzung selbst erstellt. Dabei wurde der Text der ersten Auflage um einige Abschnitte erweitert, da inzwischen noch weitere Ausgaben der „Schwarzen Hefte“ Heideggers der Öffentlichkeit vorlagen. Donatella Di Cesare hat sich bereits in der Diskussion um Martin Heideggers Antisemitismus geäußert, wie z. B. bei der Tagung des Martin-Heidegger-Instituts an der Bergischen Universität Wuppertal 2014 (Peter Trawny, Andrew J. Mitchell, Heidegger, die Juden, noch einmal, Frankfurt/Main 2015) oder im Philosophiemagazin Hohe Luft (siehe hier: http://www.hoheluft-magazin.de/heidegger/).
Das vorliegende Buch wurde von Peter Trawny lektoriert, was die Autorin ausdrücklich erwähnt, womit wohl seine Mitarbeit honoriert wird, die aufgrund der o. g. Zusammenarbeit auch naheliegend ist.
Im Vorwort regt Donatella Di Cesare an, das Buch vollständig zu lesen, um die Komplexität des Themas zu erfassen. Es ist tatsächlich so informativ, thematisch umfassend und im sachlichen Sinn auch spannend, so dass es kaum anders geht, als es ganz zu lesen. Die Rezension kann sich dieser Empfehlung nur anschließen, wird sich daher auf einen allgemeinen Überblick beschränken, ohne sich in Detailfragen wie etwa Heideggers Auffassungen zur Gottesfrage und zur Religion zu verlieren.
Wenn trotz der Gewichtigkeit der Vorwürfe gegen Martin Heidegger und der Fakten zum Einfluss des Antisemitismus auf seine Philosophie nicht dazu geraten wird, Heideggers Lektüre mit der Kenntnisnahme der Schwarzen Hefte zu beenden und somit auch nicht als „Grabstein für Heideggers Philosophie“ (S. 7) anzusehen, dann liegt die Bedeutung der Hermeneutik seiner Schriften in seinem Bezug zum Kontext und zur philosophischen Tradition. Die Stärke dieses Buches liegt gerade darin, den Kontext des philosophischen Denkens herauszuarbeiten, so dass die Autorin fast wie in einer Art Spiegeltechnik die Entwicklung des Antisemitismus vor und nach Auschwitz darstellt und Positionen Heideggers darin reflektiert.
Dabei werden nicht alle Fragen beantwortet, sondern manchmal gerade präzisiert und neu gestellt. Und ist die Erneuerung der (hermeneutischen) Fragetechnik nicht gerade methodisch eine Anknüpfung an Heideggers Philosophie aus dem Umfeld von „Sein und Zeit“?
Hier sind also einige Fragen im Anschluss an die Lektüre zu formulieren: Wie konnte Martin Heidegger auf so eine plumpe Verschwörungstheorie wie die der „Protokolle der Weisen vom Zion“ hereinfallen? Was faszinierte ihn am Nationalsozialismus und was verband ihn auch inhaltlich damit? War es die schillernde Bedeutung Nietzsches, dem er in der Zeit zwischen 1933 – 1945 einige Vorlesungen widmete? Wie deutlich sprach sich Heidegger als Hochschullehrer im Nationalsozialismus öffentlich für den Antisemitismus aus? Wie zeigte sich andererseits seine Distanz zu den Nationalsozialisten im Laufe der Regierungszeit Hitlers, von der später immer die Rede war? Warum sprach er aber philosophisch noch von Vernichtung als die Gaskammern in Auschwitz längst in Betrieb waren? Was hat so ein Begriff wie „Judenfrage“ überhaupt in der Philosophie zu suchen? Was bedeutete sein Schweigen nach Auschwitz bzw. hat er wirklich geschwiegen?
Eine Frage an die Autorin bzw. diejenigen, die sich an der Diskussion beteiligen wäre aber auch: Warum geschieht dies alles in der Inszenierung des „Falles Heidegger“ (kein Zitat, d. Rez.), wenn es nicht darum gehen soll einen in den NS-Staat verwickelten Hochschullehrer posthum die Unterstützung des Antisemitismus vorzuwerfen, der jetzt nach dem Erscheinen der „Schwarzen Hefte“ noch deutlicher zu Tage tritt als vorher?
Doch wenn man diese Frage auf den Lippen hat, dann müsste es den Leserinnen und Lesern auch darum gehen, sich zu fragen, in welche Kontexte sie heute involviert sind und welche Traditionen und Weltbilder sie mit sich herumtragen, etwa im Sinne einer systemischen Familientherapie (d. Rez.).
Besonders wichtig ist dafür das zweite Kapitel „Die Philosophie und der Hass gegen die Juden“ (S. 47 – 110), das wie ein Exkurs aufzeigt, wie die Größen der abendländischen Philosophie in den Antisemitismus verstrickt sind. Das scheint sogar von Martin Luther ausgehend eher die protestantische Seite der Philosophie zu betreffen, vor allem Kant und Hegel. Auch Nietzsche kann trotz gegenlautender Äußerungen hier nicht ausgenommen werden, auch wenn sein Antisemitismus im Windschatten der Kritik des Christentums segelt und darum nicht so antisemitisch klingt.
Das dritte Kapitel „Die Seinsfrage und die Judenfrage“ (S. 111 – 270) zeigt auf, mit welchen philosophischen Begriffen Heideggers sich antisemitische Inhalte verbinden lassen, auch wenn es manchmal zunächst nicht danach aussieht. Martin Heidegger offenbart nicht, warum er denn zu einer Form der Metaphysik zurückkehrte, obwohl er die Abwendung davon gerade vorher erklärt hatte. Sollte die Einbindung in den Kontext wirklich stärker sein als die philosophische Reflexion, dann muss man wohl die Zeitgebundenheit jeder Äußerung, unabhängig von einer anderen konstatieren, nicht nur derjenigen Heideggers. Wann ist man also davor gefeit, auf die einfachen metaphysischen Dualismen der politischen Rhetorik von gut und böse oder gar von Freund und Feind (vgl. Carl Schmitt) hereinzufallen, oder anders gesagt: Welcher Einflüsterung geht man auf den Leim, wenn man eine andere abwehrt? Hier ist auch die Frage zu stellen, ob Heidegger bei aller Beeinflussung durch nationalsozialistische Ideologie nicht doch auch Marx etwas abgewinnen kann, wenn er denn dazu auffordert, den „Kommunismus … philosophisch“ zu denken (vgl. S. 249).
Für heute auch sehr wichtig ist der vierte Abschnitt „Nach Auschwitz“ (S. 271 – 375). Die Frage, die hier behandelt wird, ist, welche Wege der Antisemitismus nach Auschwitz gegangen ist. Es ist so z. B. erklärlich, wieso es in der Nachkriegszeit zu einer übertriebenen Fremdenfeindlichkeit gekommen ist, die in der heutigen Zeit erneut die Massen anfeuert. Diejenigen Deutschen, für die hier Heidegger auch stehen mag, gefielen sich nach 1945 in einer Opferhaltung, die Verbrechen allein Hitler anlastend. „Auschwitz“ wird sogar zum Symbol einer Art von Rache, einer Verflochtenheit in die Unheilsgeschichte. Es gibt Äußerungen Heideggers, die in eine ähnliche Richtung gehen, aber auch solche, die Zeichen der Aussöhnung senden wie gegenüber Paul Celan, Hannah Arendt und Martin Buber, jüdische Menschen die Heidegger auf eigenen Wunsch persönlich (wieder-) getroffen haben. Die Zeichen der Versöhnung, wie sie die deutsche Nachkriegspolitik prägen, finden sich hingegen seltener in seiner Philosophie. Donatella Di Cesare führt das auf den Gottesbegriff Heideggers zurück, der die hebräisch-biblische Tradition ignoriert und vom griechischen Polytheismus zum Pantheismus kommt. Heidegger greift allerdings besonders nach 1945 immer wieder auf die Erkundung der Mystik zurück, die er in damals unveröffentlichten Vorlesungen 1918 betrieben hat (posthum veröffentlicht). Was Donatella Di Cesare im Schlussabschnitt mit dem Bild meint, Heidegger verschwinde wie ein „Engel in den Nebeln des Schwarzwalds“, ist kaum nachzuvollziehen.
Als Resümee der Rezension möchte ich einen Text aus dem Buch zitieren, der sich im Einleitungskapitel „Zwischen Politik und Philosophie“ (S. 17 – 46) findet:
„Aber sich von Heidegger zu befreien hieße nicht nur, von den schwierigen Fragen loszukommen, die er gestellt hat, sondern auch zu jener Moderne zurückzukehren, in der die aufklärende Vernunft, der Glaube an den Fortschritt, das unbeschränkte Vertrauen in die Wissenschaft dominiert haben. Als ob nichts geschehen wäre. Und als ob es möglich wäre, jene späte Moderne mit der heutigen globalisierten Welt zu harmonisieren.“ (S. 35)
Ich gebe zu, dass diese Rezension an einigen Stellen pointiert und subjektiv ausgefallen ist. Es ist nicht einfach, in den vielen verschiedenen Aspekten eine eindeutige Wertung eines Menschen zu vollziehen, wenn sie eben diese Tendenz nicht gerade abwenden möchte. Ich würde zunächst einfach den Schluss daraus ziehen festzustellen, dass es keine Philosophie ohne Kontext geben kann.
Sicherlich ließe sich Heidegger als einer der vielen Zeitgenossen sehen, die sich mehr oder weniger angepasst haben, sich aber innerlich in einen Rückzug begeben haben, wenn nicht andererseits der Vorwurf im Raum stehen würde, er hätte schon bei der nachträglichen Veröffentlichung seiner Schriften aus der Zeit der Nationalsozialisten bestimmte Anspielungen schlicht gelöscht. Doch wie wir bei Donatella Di Cesare sehen, steht damit immer auch die jeweilige Zeitgenossenschaft der Leserinnen und Leser auf dem Spiel. Ich lese die Arbeit auch als Anleitung zur Selbstüberprüfung und zur Bewusstmachung des eigenen Schattens.