Theologische Kritik der Religion bei Karl Barth, Christoph Fleischer, Welver 2019

Referat zu Hans- Joachim Kraus: Theologische Religionskritik, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1982, ISBN: 3-7887-0672-4, 278 Seiten, broschiert.

Bei Aufräumen meines Bücherregals entdecke ich einen doppelseitig mit Schreibmaschinenschrift beschriebenen Zettel, ein Kurzreferat zum oben angedeuteten Thema. Die Zitate beziehen sich auf das oben genannte Buch.

 

  • „Religion“ ist für Barth ein Problem, keine vorgegebene Selbstverständlichkeit, auf die sich kirchliche Dogmatik gründen könnte. Schon in den beiden Auflagen des ‚Römerbriefs‘ geht es für Barth nicht ohne Religionskritik ab: „Was ist die Religion? Nicht! Ein psychologisches Faktum unter andern. Aber dieses Faktum muss schreien: Der Mensch ist Gottes durch das, was Gott an ihm getan…“ (Römerbrief 88)
  • Religion als menschliches Faktum unterliegt der Kritik, und zwar nicht zuerst einer philosophischen, gedanklichen Kritik, sondern der Kritik durch Christus: „Christus als das ‚Ende des Gesetzes‘ ist auch das Ende der Religion.“ (Kraus) Glaube oder Religion, das ist die Alternative. Religionskritik ist auch zugleich Kirchenkritik, denn schon in der Bibel richtet sich die Kritik der Religion nicht gegen die gottlose, sondern gegen die religiöse Welt.
  • „Religionskritik ist Bereitschaft zu ständiger Umkehr“ (Kraus). Diese Forderung der Umkehr ist auf den Neuprotestantismus mit seiner Zentralstellung der Frömmigkeit und gegen den Katholizismus als vollendetem Ausdruck christlicher Religion gerichtet.
  • Barths Alternative ist – als Ausgangspunkt: Hoffen und Warten, dass Gott sich wieder zuwendet (Psalm 22). Dann ist aber das Kreuz das Zeichen der ‚Wende zu neuem Leben und Tun des Menschen‘. Das Ende jeder religiösen Ethik ist bestimmt durch die Forderung der Teilnahme an der „Bewegung Gottes“ (Römerbrief 392). Nicht Leben nach religiösen Regeln, sondern Tun und Erkennen in der Entsprechung zu Gottes wirksamem Tun ist die einzige christliche Möglichkeit (hier aber noch nicht mit Religion bezeichnet, wie später in der Kirchlichen Dogmatik).
  • Barth greift implizit auf die radikale Religionskritik Feuerbachs zurück (explizit in der Vorlesung 1926), indem er „Religion als illusionäres Produkt des Menschen bezeichnet“ und „eine durch Individualismus, Subjektivismus und Spiritualismus gekennzeichnete religiöse Anthropologie … zu überwinden sucht“ (M. Krämer). Barth geht aber einen Schritt über Feuerbach hinaus, der in der Struktur dem Schritt von Karl Marx ähnlich ist. Während Marx sagt ‚Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.‘ betont Barth gegen jede Anthropologie, ob religiös oder atheistisch die Veränderung, die die Welt durch die Bewegung Gottes erfährt.
  • Auf diesem Umgang mit der Religion greift Karl Barth in der Kirchlichen Dogmatik zurück: KD 1,2 „Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion“, was im Folgenden in drei Abschnitten dargestellt wird:
  • (1) „Religion ist noch von anderswo als von der Offenbarung her … ins Auge zu fassen (KD I,2, S. 321). Gott wirkt in der Religion, aber nur in Verborgenheit, so wie Gott in Christus zunächst nur verborgen gegenwärtig ist. Barth benutzt zur Würdigung der Religion als Ausgangspunkt und als Strukturprinzip die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Doch während in Christus die Einheit von Gott und Mensch vollendet ist, so ist „die Einheit von göttlicher Offenbarung und menschlicher Religion die eines … erst zu vollendenden Geschehens.“
  • (2) Mit ‚analogia fidei‘ beschreibt Barth das Christusgeschehen so, dass darin zuerst von der Sünde die Rede ist, die durch Christus vergeben ist. Das heißt zu einem, dass angesichts der Selbstdarbietung Gottes alle Versuche des Menschen, Gott von sich aus zu erkennen, umsonst (vergeblich) sind. Das heißt: Religion ist Wiederstand gegen Gott. Zum anderen ist angesichts der Rechtfertigung und Heiligung durch Christus jeder menschliche Versuch, sich zu rechtfertigen und zu heiligen nichts als „Götzendienst und Werkgerechtigkeit“. Die Religionskritik der Mystik und des Atheismus decken hier die „Schwäche“ (Projektion menschlicher Bedürfnisse) und die „bloß relative Notwendigkeit“ auf (Mystik), können aber von ihrer Position aus nicht zum Urteil des ‚Glaubens, ‚Götzendienst‘ und ‚Werkgerechtigkeit‘ vorstoßen; für ihn ist Religion schlicht Unglaube.
  • (3) Während das Urteil, Religion sei ‚Unglaube‘ auf der Linie des Römerbriefs liegt, geht der zweite Teil der Analogie über die Kritik hinaus. Erbeschreibt, wieder an strenge Anlehnung an die Christologie, inwiefern die Einheit von Offenbarung und Religion wirklich geschieht. In diesem Kontext bringt es Barth auf den schillernden Satz: „Die christliche Religion ist die wahre Religion“. Dieser Satz ist nur richtig, wenn man die Wahrheit der Religion nicht in einem christlichen Selbstbewusstsein, sondern im Ereignis des Handelns Gottes, in seiner Gnade, sieht, das ausgehend vom Sündenbekenntnis des Glaubenden, in ‚iustificatio impii‘ Wirklichkeit wird.
  • In Analogie zum Christusgeschehen formuliert ist diese wahre Religion
  • Ein Akt göttlicher Schöpfung, einer durch den Namen Jesus Christus zu schaffender und geschaffener Wirklichkeit;
  • Ein Akt göttlicher Erwählung, durch den die christliche Kirche, die den Namen Christi ausspricht, zum Leib Christi und nicht zu einer beliebigen Religionsgemeinschaft erwählt ist;
  • Ein Akt göttlicher Rechtfertigung und Sündenvergebung, die das Eins Werden des göttlichen Wortes mit der menschlichen Natur und so deren Zurechtbringung ist, und sich vollzieht in der Wirklichkeit des Lebens, der Kirche und der Kinder Gottes;
  • Ein Akt göttlicher Heiligung, bei der der einen objektiven Offenbarung eine doppelte subjektive Wirklichkeit entspricht: die christliche Religion als die durch den Heiligen Geist geschaffenen Raum und die durch den Heiligen Geist geschaffene Existenz des Menschen.

Geschrieben 1982.

 

Der Gedankengang, der hier skizziert ist, zeigt, dass Barth keinesfalls den Religionsbegriff verwirft, sondern eine differenzierte, am Umgang mit der Botschaft von Christus orientierte Begrifflichkeit enthält. Es wäre heute einmal zu fragen, inwieweit dieser Gedankengang von der reformierten Theologie her geprägt ist, die man nicht kritisieren sollte, sondern einfach nur auf ihre Prämissen hin befragen. Obwohl Barth damit schlüssig zu argumentieren scheint, präsentiert er ein Gedankenkonstrukt, das die Wirklichkeit der Offenbarung und die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes auf den Umgang mit religiösen Begriffen festlegt, z. B. sehr stark im Sinn der reformatorischen Begriffe Rechtfertigung und Heiligung. Ausgehend von dem Satz in einer reformierten Kirche  (Borkum) „Heiligkeit ist die Zierde deines Hauses“ (Psalm 93) habe ich mir das immer so erklärt, dass die „Zierde der Kirche“ eigentlich außerhalb ihrer Mauern liegt, im Leben der Menschen, wo Heiligkeit sich vollzieht.

Geschrieben 2019.

So attraktiv dieser Gedanke sein mag, unterliegt er doch dem Trugschluss, dass auch diese Gemeinde Jesu immer wieder in der gottesdienstlichen Gemeinschaft z. B. im Abendmahl konstituiert. Die Botschaft Jesu zielt auf Ethik, die einen bestimmten Umgang mit den Fragen des Lebens und auch der Politik nicht vorschreibt, sondern eröffnet.

Konrad Schrieder, um Korrektur und eventuellen Kommentar dazu gebeten schrieb dazu in einer Email:

Als Polemik gegen Schleiermacher ist Barths Kritik am Religionsbegriff verständlich, allerdings nur, wenn man das religiöse Gefühl in einer bestimmten Weise versteht, die Schleiermacher wohl nicht gemeint haben dürfte.

Deine Schlussfolgerungen finde ich interessant. An der Altarwand der reformierten Kirche in Borkum steht genau der Vers aus Ps. 93: „Heiligkeit ist die Zierde deines Hauses“. Aber geht es bei der Kritik des Religionsbegriffs um Heiligkeit? Es ist gut, auf die Prämissen zu sehen. Man darf aber auch die Schwächen nicht übersehen. Karl Rahner stimmt mit Karl Barth darin überein, dass Gott der „ganz andere“ ist. Aber er ist erkennbar, und zwar nicht nur durch die Christusoffenbarnung, sondern auch durch das Wesen des Menschen. Gerade das ist kein Subjektivismus – ein Vorwurf, der Rahner immer wieder gemacht wurde – denn Gott steht als unbegrenztes, absolutes (Erkenntnis-)objekt dem Menschen gegenüber und geht nicht pantheistisch in ihm auf. Woher kommt also der Gottesbegriff des Menschen? Diese Antwort bleibt uns, wie ich finde, Karl Barth schuldig, weil er eben nur im Kategorialen bleibt und die transzendental-kategoriale Einheit aufgibt. Die transzendental-dynamistisch verstandene Metaphysik Rahners gibt genau darauf eine Antwort. Der Gottesbegriff fällt eben nicht vom Himmel.

Das führt allerdings zu der recht problematischen Begrifflichkeit des „anonymen Christentums“ bei Rahner. Gemeint ist, dass durch den Vorgriff, den jeder Mensch ständig vollzieht, der Gottesbegriff immer schon implizit vorausgesetzt ist, dass er aber nicht immer durch Reflexion bewusst gemacht wird. Dieser Gottesbegriff ist ungegenständlich-unthematisch und wird erst dadurch thematisch, dass Gott sich geschichtlich-kategorial in unsere Geschichte hinein offenbart. Hier bleibt eine merkwürdige Diastase, die bei Barth gar nicht erst aufkommt. Folgt man der Argumentaion Rahners stringent, dann müsste eigentlich jeder Mensch irgendwann dahin kommen, Christ zu werden – es sei denn, dass er sich in seiner Freiheit bewusst davor verschließt. Das setzt aber in jedem Fall einen Willensakt voraus.

Es wäre interessant, diese Thematik einmal auf den Sachverhalt des interreligiösen Dialogs zu denken. Rahner vertritt durch seinen Dynamismus ganz bewusst einen (Erkenntnis-)pluralismus, der ja auch das II. Vaticanum beeinflusst hat. Wie weit wäre Rahner bereit zu gehen und was ist bei Karl Barth überhaupt möglich, wenn es nicht zu einer schroffen Alternative oder sogar Konfrontation kommen sollte? Ein Problem, in dem sich die unterschiedlichen evangelisch-katholischen Standpunkte zeigen.

LG Konrad