Predigt Estomihi Lukas 18, 31-45, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2020

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Liebe Gemeinde,

die beiden Abschnitte bei Lukas wollen so gar nicht zueinander passen. Sie sind aber oft passend gemacht worden und meistens fällt dann eine Geschichte hinten runter. Entweder wird die Geschichte der Blindenheilung in den Focus gerückt und die dritte Leidensankündigung Jesu nur gestreift oder der Weg in die Nachfolge wird betont und die Heilung des „Herr, Jesus, du Sohn Davids-Rufenden-Blinden“ wird metaphorisch gedeutet, dass Gott auch unsere Blindheit von uns nehmen möge, damit wir seine Worte verstehen und nicht wie die Jüngerinnen und Jünger unverständig bleiben.

Ich möchte das Konträre beider Geschichten entfalten, weil ich glaube, dass beide Erzählungen eine kleine Anthropologie des Leidens enthalten. In diesem Spannungsraum finden wir uns mit unseren Leben schon je vor. Es geht um die Ausrichtung unseres Lebens, um den rechten Weg des Glaubens, wonach immer wieder zu Fragen ist.

Wenn wir die Leiblichkeit der Heilungserzählung ernst nehmen, stehen hier zwei leidende Körper gegenüber.

Einmal der Körper Jesu, der in Kürze verspottet, misshandelt und angespien wird, und der Körper des Blinden, der als ökonomisch unbrauchbar aussortiert ist. Jeweils liegen körperliches Leid und soziale Verachtung ineinander.

Am Ende ist das Leiden des Blinden körperlich und sozial überwunden, während das Leiden Jesu körperlich und sozial noch bis zum bitteren Ende durchlitten werden wird.

Es sind zwei Passionen mit unterschiedlichem Ausgang und mit eigenem Anhalt an der Lebenswirklichkeit. Sie bilden die Extrempunkte menschlicher Leidenserfahrungen zwischen Heilung und Tod. Am Sonntag vor der Passionszeit ist somit das Feld der Leidensgeschichten denkbar weit abgesteckt.

Im Zentrum beider Erzählungen steht die Frage nach dem verborgenen Sinn des Leidens. Die Jüngerinnen und Jünger verstehen es nicht, dass Jesus den Weg des Leidens und Sterbens auf sich nimmt. Jesus versucht den Sinn seines Leidensweges mit alten prophetischen Weissagungen zu deuten. Das leuchtet aber den Umstehenden nicht ein. Unbewusst wehren sie sich gegen Jesu Deutung seines Weges. Es wäre nicht nur sein, sondern auch ihr Ende. Die Zukunft wird ungewiss.

Im zweiten Anlauf das Kontrastprogramm. Der namenlose Blinde wird erhört. Sein Rufen: Herr, erbarme dich wird als Kyrie eleison in die Gottesdienstliturgie der christlichen Kirchen eingehen. In jedem Kyrie hallt der Ruf nach Heilung nach und wird aktuell.

Jesus gibt dem Blinden Würde, wenn er ihn fragt: „Was willst du?“ Die Nachfrage nimmt den Menschen ernst. Darauf kommt es an im Reich Gottes.

„Herr, dass ich sehen kann.“ „Sei sehend!“ spricht Jesus und der Mensch ist von seiner Blindheit geheilt und folgt Jesus nach. Das Leiden ist überwunden. Heilung geschehen.

Spüren Sie die Spannung beider Geschichten?

Und ist es nicht eine Beschreibung unserer Lebenswirklichkeit?

Was hätte der Hinweis auf einem verborgenen Lebenssinn denjenigen zu sagen, die inständig auf die Überwindung ihres Leidens hoffen? Ist die Rede von einem verborgenen Lebenssinn im Leiden nicht eine billige Vertröstung und nimmt das Streben nach Überwindung des Leidens als Heilungsressource gerade nicht ernst?

Und was hätte umgekehrt die Auskunft, der Sinn des Leidens bestehe darin, überwunden zu werden, denjenigen zu sagen, die sich gezwungen sehen mit ihrem Leiden zu leben?

Wie die Linie und wo sie in unserem Leben verläuft, ist nicht von außen zu verstehen, sondern wird ausschließlich selbst gelebt. Oft schwanken wir auch, einmal ergeben in das eigene Leiden oder das Leiden anderer, das andere Mal aktiv an der Überwindung des Leidens arbeitend.

Ziel sollte es doch für uns sein hinter jedem Leidenden einen Menschen zu sehen, sein Ringen nach Annahme und Heilung, nach einem Leben in Gemeinschaft mit anderen. Es gibt soviel Rückzug. So viel Scham unter uns, weil wir nicht so sind wie alle sind, weil wir nicht gesund sind. Wir zeigen es nicht. Wir sprechen nicht darüber. Wir ziehen uns zurück. Das braucht nicht sein. Das darf nicht sein. Die vielen stillen Passionen machen mir Angst. Wann endlich können wir frei reden, frei uns zeigen?

Bei Jesus, dem Christus, scheint es mir stimmig. Jesus hat frei eingestimmt in seinen Leidensweg bis in seinen Tod hinein. Er hat sich von dem internen Widerspruch seiner Jüngerinnen und Jünger nicht beirren lassen. Er hat sich gegen seine Widersacher nicht gewehrt.  Noch auf seinem Leidensweg hat Jesus Menschen geheilt, Zeichen des anbrechenden Reiches Gottes gewirkt, aktiv an der Überwindung des Leidens mitgeholfen.

In Christus finde ich eine Brücke zu unseren beiden Erzählungen. Aber diese Brücke sehe ich im Glauben. Tod und Auferstehung sind für unseren Glauben untrennbar miteinander verbunden. Das Leiden und der Tod werden überwunden, nicht durch uns selbst, sondern durch den Weg den Gott mit Jesus für uns gegangen ist.

Wir sind gefragt: Was willst du? Was ist unsere Antwort? Wie sieht unsere Nachfolge aus?

Das eine Mal ist es gut, die eigenen Beschränkungen und Grenzen anzunehmen. Wir können oft gar nicht anders. Wir würden uns hoffnungslos überfordern. Dennoch dürfen wir allezeit zu Gott beten: Herr, erbarme dich.

Das andere Mal ist es gut gegen Beschränkungen und Grenzen anzukämpfen und nicht locker zu lassen, bis sie überwunden sind.

Beides sollten wir jedem zugestehen. Es ist sein Weg. Es ist ihr Weg.

Wenn aber Heilung geschieht – und sei es nur einen Tag voller Leben –, dann lasst uns jubeln und fröhlich sein.

Amen

 

Predigtidee und einzelne Passagen gehen zurück auf: Thomas Moos, Denkskizzen, Band 2, S. 87+88, Radius Verlag, Stuttgart 2019

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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