Septuagesimae 2023
9Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
10Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?12Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.
13Geht aber hin und lernt, was das heißt (Zitat Hosea 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.«
Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Luther 2017, Predigttext s.o.)
Liebe Gemeinde,
Jesus antwortet denen, die an einer reinen Lehre und Praxis festhalten: „Nichtdie Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ (V.12).
Zwei Entwürfe von Soziologen, die sich auch mit der Frage nach der Kirche in unserer Gesellschaft beschäftigen, drängen sich mir angesichts der Berufungsgeschichte des Matthäus auf: Der eine ist Hartmut Rosa, er setzt der zunehmenden Beschleunigung aller Lebensbereiche in der heutigen Gesellschaft Resonanzerfahrungen (1) entgegen und stellt in einem gut lesbaren Buch die These auf: Demokratie braucht Religion.(2) Der andere heißt Franz-XaverKaufmann und legt eine Kirchenkritik vor mit den interessanten von Karl Marx geliehenen Worten: „…man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.“ (3)
Die „eigene Melodie“, die die Kirchen zum Tanzen bringt, ist im Evangelium zu finden. Genauer gesagt: In den Worten und den Berichten von Jesus. Was ist eine Berufungsgeschichte anderes als die Erzählung einer starkenResonanzerfahrung? Jesus ruft den Zöllner Matthäus vom Zoll weg in seine Nachfolge. Der Zöllner steht auf und verlässt seine Arbeit, lässt alles stehen und liegen und folgt Jesus. Vorher noch lädt er Jesus in sein Haus ein, teilt mit ihm Brot und Wein. Hier geschieht eine Konversion und den Frommen ist es nicht fromm genug.
„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“
Hartmut Rosa sieht – vereinfacht gesagt – wie die Zentrifugalkräfte der Spätmoderne den Menschen entwurzeln. Auch die Demokratie selbst ist gefährdet, da die Beschleunigung – verstärkt durch die Krisenanhäufung(!) – Prozesse des Nachdenkens, des Innehaltens und des Abwägens, der fruchtbaren Auseinandersetzung, nicht mehr zulassen. Die politische Klasse ist selbst eine Getriebene, möglichst schnell Probleme zu lösen. Dabei kann selbst schon einmal schnell das Grundgesetz außer Kraft gesetzt werden (siehe Coronamaßnahmen) oder die Entspannungspolitik von einem zum anderen Tag gekippt werden (Zeitenwende: 100 Milliarden Sondervermögen verankert im Grundgesetz). Es muss halt schnell gehen. Der Zwang zur Beschleunigung führt zu einer weiteren These Rosas: Wenn dem Einzelnen und insgesamt der Gesellschaft der „Burnout“ drohe, steigt die Aggression gegenüber allen und jedem, der politisch andersdenkende Mensch wird zum Feind. Demokratie aber funktioniert im „Aggressionsmodus“ nicht.
„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“
In seinem Buch: Demokratie braucht Religion, weist Rosa darauf hin, wie wichtig Räume und Resonanzerfahrungen für das soziale Miteinander sind. Gerade eine Gemeinschaft (Institution), wie sie die Kirchen mit ihren Gottesdiensten, Ritualen, Räumen der Stille und der Begegnung bieten – jenseits von Funktionalität oder einem reinen Wellnessbetrieb – sind ein guter Boden für Resonanzerfahrungen. Kirchliches Leben könnte ein notwendiges Gegengewicht zur Beschleunigungs- und Aggressionsspirale sein und den Menschen Halt und Sinn geben. Die Kirchen geben mit ihrer Botschaft ein „Resonanzversprechen“: „Am Grund meiner Existenz liegt…eine Antwortbeziehung.“ Der Staat kann dieses Resonanzversprechen nicht geben, vielleicht bedingt die Kultur, aber von ihrem Wesen her die Religion, einfacher gesagt: der Glaube an Gott.
Hartmut Rosa schmeichelt den Kirchen und der Kraft der Religionen, letztlich funktionalisiert er soziologisch Religion als Stabilitätsfaktor – hier der Demokratie. Das ist mir zu kurz gesprungen.
Wenn ich mir die Berufungsgeschichte des Matthäus anschaue, dann führt ja die Resonanzerfahrung – Ich, Ich, Matthäus – werde von Jesus herausgerufen gerade nicht zu Stabilität in seinem Leben, sondern zu Abbruch, Aufbruch und jede Menge Widerspruch. Auch die gesamte Geschichte Jesu ist davon geprägt: Resonanz mit dem göttlichen Vater – Widerspruch zur Welt und den herrschenden (religiösen) Verhältnissen.
„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“
Außerdem gilt es nüchtern festzustellen, dass die Kirchen (in Deutschland) selbst in einer großen Krise oder positiv gesagt in einem Transformationsprozess stecken, von dem noch nicht abzusehen ist, wohin die Reise geht.
Der Soziologe und katholische Christ Franz-Xaver Kaufmann konstatierte schon vor vielen Jahren, dass die Kirchen „den Kontakt zur Seele“ der Menschen verloren hätten. Sie stoßen zunehmend auf „taube Ohren.“
In seinem neuen Buch über die Zukunft des Christentums – wohlgemerkt mit einem Fragezeichen versehen! – beklagt er die Unfähigkeit zur Veränderung der (katholischen) Kirche (ich ergänze: der Kirchen!) und benennt unter anderem die „Struktur- und die Glaubenskrise“. Gerade die Glaubenskrise gilt es wahrzunehmen und ihr etwas entgegenzusetzen. Vereinfacht gesagt: Der Blick ins Evangelium und die Ausrichtung des Glaubens an die Botschaft Jesu hilft, wieder die „eigene Melodie zu finden“ und die versteinerten Verhältnisse aufzubrechen.
„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“
Was heißt das für uns, die wir in einer „überdrehten“ Gesellschaft leben? Selbst nicht gefeit vor Burnout und Resignation? Was heißt das für uns als Lydia-Gemeinde?
Jesusgeschichten sind Hoffnungsgeschichten.
„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“
Wie Jesus auf Matthäus zugegangen ist, sollten wir neu den Mut haben auf die Menschen zugehen, wo sie sind und sie herausrufen, einladen mit uns Gottesdienst zu feiern und gemeinsam Erfahrungen des Glaubens zu machen. Denn nur wer Erfahrungen des Glaubens macht, z.B das Singen von geistlichen Liedern Freude macht, wird einen eigenen Zugang zum Glauben finden.Jesusgeschichten sind Hoffnungsgeschichten. Es gilt die Kraft der Worte wieder zu entdecken, aber auch die befreiende und heilende Dimension des Lebens Jesuund der Liturgie. Die Frage nach der Berührung spielt da eine Rolle. Wie können wir Formen entwickeln, einander heilend zu berühren? Ab und an salben wir Menschen im Gottesdienst. Da ist beides gegeben. Rituelle Distanz und Berührung, auch die Feier des Mahls mit Brot und Wein ist sinnlich erfahrbar. Wir machen uns auf den Weg zu einer neuen gemeinsamen Liturgie, einer Liturgie ohne große Schwellen.
Etwas Neues wagen oder etwas Altes neu entdecken, Altes aufgeben, Raum schaffen und gewähren von neuen Formen gemeindlichen Lebens ist eine gemeinsame Suchbewegung. Es gibt auch Herausforderungen in der Nachfolge Jesu, die nicht verschwiegen werden dürfen. Die Hilfe und das Dasein für andere – wie für die Flüchtlinge in unserer Stadt – und aktuell ein besonderer Stachel: Jesu Gewaltlosigkeit und sein Gebot der Feindesliebe. Wie sind wir Gemeinde auf dem Weg zu einem gerechten Frieden? Wie lösen wir untereinander Konflikte?
„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“
Die Berufung von Matthäus in die Nachfolge Jesu ist nicht nur eine alte Geschichte, sie ist offen für uns – heute, hier und jetzt – sie lädt ein, Jesus nachzufolgen. Wer Jesus nachfolgt, der lebt in Resonanz mit Gott, dem Geheimnis des Lebens, hofft und arbeitet wider aller Resignation auf ein besseres Leben bis Gott wird sein Alles in allem (vgl. Römer 11,36).