Predigt Matthäus 9,9 – 13, Kirche und Resonanz, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Septuagesimae 2023

9Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

10Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?12Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.

13Geht aber hin und lernt, was das heißt (Zitat Hosea 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.«

Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Luther 2017, Predigttext s.o.)

 

Liebe Gemeinde,

Jesus antwortet denen, die an einer reinen Lehre und Praxis festhalten: „Nichtdie Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ (V.12).

Zwei Entwürfe von Soziologen, die sich auch mit der Frage nach der Kirche in unserer Gesellschaft beschäftigen, drängen sich mir angesichts der Berufungsgeschichte des Matthäus auf: Der eine ist Hartmut Rosa, er setzt der zunehmenden Beschleunigung aller Lebensbereiche in der heutigen Gesellschaft Resonanzerfahrungen (1) entgegen und stellt in einem gut lesbaren Buch die These auf: Demokratie braucht Religion.(2) Der andere heißt Franz-XaverKaufmann und legt eine Kirchenkritik vor mit den interessanten von Karl Marx geliehenen Worten: „…man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.“ (3)

Die „eigene Melodie“, die die Kirchen zum Tanzen bringt, ist im Evangelium zu finden. Genauer gesagt: In den Worten und den Berichten von Jesus. Was ist eine Berufungsgeschichte anderes als die Erzählung einer starkenResonanzerfahrung? Jesus ruft den Zöllner Matthäus vom Zoll weg in seine Nachfolge. Der Zöllner steht auf und verlässt seine Arbeit, lässt alles stehen und liegen und folgt Jesus. Vorher noch lädt er Jesus in sein Haus ein, teilt mit ihm Brot und Wein. Hier geschieht eine Konversion und den Frommen ist es nicht fromm genug. 

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Hartmut Rosa sieht – vereinfacht gesagt – wie die Zentrifugalkräfte der Spätmoderne den Menschen entwurzeln. Auch die Demokratie selbst ist gefährdet, da die Beschleunigung – verstärkt durch die Krisenanhäufung(!) – Prozesse des Nachdenkens, des Innehaltens und des Abwägens, der fruchtbaren Auseinandersetzung, nicht mehr zulassen. Die politische Klasse ist selbst eine Getriebene, möglichst schnell Probleme zu lösen. Dabei kann selbst schon einmal schnell das Grundgesetz außer Kraft gesetzt werden (siehe Coronamaßnahmen) oder die Entspannungspolitik von einem zum anderen Tag gekippt werden (Zeitenwende: 100 Milliarden Sondervermögen verankert im Grundgesetz). Es muss halt schnell gehen. Der Zwang zur Beschleunigung führt zu einer weiteren These Rosas: Wenn dem Einzelnen und insgesamt der Gesellschaft der „Burnout“ drohe, steigt die Aggression gegenüber allen und jedem, der politisch andersdenkende Mensch wird zum Feind. Demokratie aber funktioniert im „Aggressionsmodus“ nicht.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

In seinem Buch: Demokratie braucht Religion, weist Rosa darauf hin, wie wichtig Räume und Resonanzerfahrungen für das soziale Miteinander sind. Gerade eine Gemeinschaft (Institution), wie sie die Kirchen mit ihren Gottesdiensten, Ritualen, Räumen der Stille und der Begegnung bieten – jenseits von Funktionalität oder einem reinen Wellnessbetrieb – sind ein guter Boden für Resonanzerfahrungen. Kirchliches Leben könnte ein notwendiges Gegengewicht zur Beschleunigungs- und Aggressionsspirale sein und den Menschen Halt und Sinn geben. Die Kirchen geben mit ihrer Botschaft ein „Resonanzversprechen“: „Am Grund meiner Existenz liegt…eine Antwortbeziehung.“ Der Staat kann dieses Resonanzversprechen nicht geben, vielleicht bedingt die Kultur, aber von ihrem Wesen her die Religion, einfacher gesagt: der Glaube an Gott.

Hartmut Rosa schmeichelt den Kirchen und der Kraft der Religionen, letztlich funktionalisiert er soziologisch Religion als Stabilitätsfaktor – hier der Demokratie. Das ist mir zu kurz gesprungen.

Wenn ich mir die Berufungsgeschichte des Matthäus anschaue, dann führt ja die Resonanzerfahrung – Ich, Ich, Matthäus – werde von Jesus herausgerufen gerade nicht zu Stabilität in seinem Leben, sondern zu Abbruch, Aufbruch und jede Menge Widerspruch. Auch die gesamte Geschichte Jesu ist davon geprägt: Resonanz mit dem göttlichen Vater – Widerspruch zur Welt und den herrschenden (religiösen) Verhältnissen.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Außerdem gilt es nüchtern festzustellen, dass die Kirchen (in Deutschland) selbst in einer großen Krise oder positiv gesagt in einem Transformationsprozess stecken, von dem noch nicht abzusehen ist, wohin die Reise geht.

Der Soziologe und katholische Christ Franz-Xaver Kaufmann konstatierte schon vor vielen Jahren, dass die Kirchen „den Kontakt zur Seele“ der Menschen verloren hätten. Sie stoßen zunehmend auf „taube Ohren.“

In seinem neuen Buch über die Zukunft des Christentums – wohlgemerkt mit einem Fragezeichen versehen! – beklagt er die Unfähigkeit zur Veränderung der (katholischen) Kirche (ich ergänze: der Kirchen!) und benennt unter anderem die „Struktur- und die Glaubenskrise“. Gerade die Glaubenskrise gilt es wahrzunehmen und ihr etwas entgegenzusetzen. Vereinfacht gesagt: Der Blick ins Evangelium und die Ausrichtung des Glaubens an die Botschaft Jesu hilft, wieder die „eigene Melodie zu finden“ und die versteinerten Verhältnisse aufzubrechen.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Was heißt das für uns, die wir in einer „überdrehten“ Gesellschaft leben? Selbst nicht gefeit vor Burnout und Resignation? Was heißt das für uns als Lydia-Gemeinde?

Jesusgeschichten sind Hoffnungsgeschichten.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Wie Jesus auf Matthäus zugegangen ist, sollten wir neu den Mut haben auf die Menschen zugehen, wo sie sind und sie herausrufen, einladen mit uns Gottesdienst zu feiern und gemeinsam Erfahrungen des Glaubens zu machen. Denn nur wer Erfahrungen des Glaubens macht, z.B das Singen von geistlichen Liedern Freude macht, wird einen eigenen Zugang zum Glauben finden.Jesusgeschichten sind Hoffnungsgeschichten. Es gilt die Kraft der Worte wieder zu entdecken, aber auch die befreiende und heilende Dimension des Lebens Jesuund der Liturgie. Die Frage nach der Berührung spielt da eine Rolle. Wie können wir Formen entwickeln, einander heilend zu berühren? Ab und an salben wir Menschen im Gottesdienst. Da ist beides gegeben. Rituelle Distanz und Berührung, auch die Feier des Mahls mit Brot und Wein ist sinnlich erfahrbar. Wir machen uns auf den Weg zu einer neuen gemeinsamen Liturgie, einer Liturgie ohne große Schwellen.

Etwas Neues wagen oder etwas Altes neu entdecken, Altes aufgeben, Raum schaffen und gewähren von neuen Formen gemeindlichen Lebens ist eine gemeinsame Suchbewegung. Es gibt auch Herausforderungen in der Nachfolge Jesu, die nicht verschwiegen werden dürfen. Die Hilfe und das Dasein für andere – wie für die Flüchtlinge in unserer Stadt – und aktuell ein besonderer Stachel: Jesu Gewaltlosigkeit und sein Gebot der Feindesliebe. Wie sind wir Gemeinde auf dem Weg zu einem gerechten Frieden? Wie lösen wir untereinander Konflikte?

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Die Berufung von Matthäus in die Nachfolge Jesu ist nicht nur eine alte Geschichte, sie ist offen für uns – heute, hier und jetzt – sie lädt ein, Jesus nachzufolgen. Wer Jesus nachfolgt, der lebt in Resonanz mit Gott, dem Geheimnis des Lebens, hofft und arbeitet wider aller Resignation auf ein besseres Leben bis Gott wird sein Alles in allem (vgl. Römer 11,36).

Relecture Hermann Hesse, Rezensionen von Joachim Leberecht.

Warum wir Hermann Hesse lesen

Unterm Rad (1906), Vergewaltigung einer Kinderseele

Im Jahr 2022 jährte sich die Veröffentlichung von Hermann HessesSiddhartha (1922) zum 100. Mal, ebenso Hesses Todestag zum 60. Mal. Das war Anlass genug, mich erneut mit fünf Werken Hermann Hesses zu beschäftigen.

Mit Unterm Rad liegt uns eine typische Hesseerzählung vor, die HermannHesse 1906 als junger Schriftsteller veröffentlicht hat. Sie wirft ein Licht auf heutige Bildungserlebnisse. Es bleiben Fragen, wie sich ein Kind dem Erwartungsdruck der Eltern, der Lehrkräfte und anderer Autoritäten entziehen kann und dabei gesund bleibt. Hesse deutet in der Figur Heilners an, dass die Kunst einen Freiheitsraum eröffnen kann jenseits von Tradition und Dogmatismus. Heilner rebelliert gegen das Internat und dessen rigide Lehrerschaft, der es nicht um die Formung und Stärkung der Individualität geht, sondern gnadenlos um Leistung und Unterordnung in ein System. Gerade die zurückliegenden Coronamaßnahmen, besonders die Art der Durchsetzung an vielen Schulen, legen ein beredtes Zeugnis ab, dass die Schule noch immer von Repressivität geprägt ist. Der sensible Hans, dessen Geschichte Hesse in Unterm Rad erzählt, lässt sich nach anfänglichem Zögern auf den Widerspruch gegen den Rektor und die Ordnung im Maulbronner Seminar ein. Jedoch scheitert er auf ganzer Linie, da er mit Wucht in den Abgrund seines Unbewussten – den Verlust seiner Kindheit – gezogen wird. Auf sich selbst geworfen brennt seine Seele aus, Körper und Geist sind total erschöpft. Nur in der Stille des Waldes kann er atmen und leben. Als er sich das erste Mal scheu verliebt, beginnt er sich wieder zu spüren, jedoch währt die Freude nicht lange. An einer handfesten Schlosserlehre findet er Gefallen, auch eine Freundschaft aus seiner Kindheit beginnt wieder aufzuleben. Gerade als er zaghaft seine ersten Schritte in ein neues Leben macht, endet ein Vergnügen mit seinen Kameraden tragisch mit seinem Tod. 

 

Die biografisch geprägte Erzählung Unterm Rad stellt auch heute noch gültige Fragen. Da ist zum einen die Frage nach der Individualität. Wie gelingt individuelles Leben und Stärkung der Persönlichkeit in Bildungsprozessen? Wie viel ist uns die Freiheit des Individuums gegenüber dem Kollektiv wirklich wert? Ist Hesses Unterm Rad in einem gesellschaftlichen Kontext, wo wir globales Handeln auf Herausforderung brauchen, nicht ein nötiges Korrektiv?

Siddhartha (1922), Der Zeit enthoben

 

Siddhartha, der Brahmanensohn, hatte viele Lehrer, aber die Lehre der Tradition (Vater), das Leben als Asket und die neue Lehre des Buddha überzeugen ihn nicht. Nachdem er aufrichtig versucht hat, sein Ich zu töten, geht er in die Welt und lernt die Freuden der Sinne (Eros) und später des Glücksspiels und des Rausches (Alkohol) kennen. Dabei verliert er sich selbst. Noch einmal lässt er alles hinter sich und wird Schüler eines Fährmanns. Dieser überzeugt ihn nicht durch seine Lehre, sondern durch seine Weisheit und meditative Existenz, nicht durch geistliche Übungen, sondern durch sein Sein, seine Güte, sein Schweigen, sein Hören auf den Fluss. Der Fährmann lebt in der Welt, hat aber die Welt überwunden. Von ihm geht Frieden und Versöhnung aller Gegensätze aus. Er gestaltet seinen Fähralltag, begegnet allen Menschen mit aufrichtiger Freundlichkeit, ruht in sich und ist mit seiner Mitwelt verbunden. Bei ihm werden Siddharthas schmerzende Wunden heilen, Jahr für Jahr. Die letzte Wunde heilt, als Siddhartha erlebt, dass der Schmerz gleichzeitig die Heilung schon in sich trägt, die Sünde schon die Gnade, die Endlichkeit die Ewigkeit. Es ist alles eins. Die Erfahrung, dass er selbst mit einem Stein eins ist, dass er selbst göttlich ist, lässt ihn nach langer und entbehrender Sinnsuche in eine Existenz vordringen, die die Vergänglichkeit überwindet. Er ist jetzt schon ewig, damit existiert er ähnlich einem Mystiker in der Einheit allen Lebens. Siddharthas Weg führte über Entselbstung zur Selbstverwirklichung und letztendlich zu seinem wahren Selbst, der Einheit mit allen Geschöpfen und Dingen.

Es ist spannend und passt in unsere Zeit, dass Hesse in seiner indischen Dichtung nicht nach der Identität Siddhartha´s fragt, sondern nach der Einheit und einem spirituellen Weltbezug. Siddhartha als Parabel enthält spirituelle Impulse für eine globalisierte Welt. Der Gedanke der Einheit und die Einsicht, dass alles Leben miteinander vernetzt ist, prägt immer mehr unser Bewusstsein und unser Handeln. Wie kann christliche Theologie und Spiritualität diesen sich formenden Paradigmenwechsel kritisch begleiten, ganz neu sich interdisziplinär aufstellen und den eigenen Schatz (Schöpfungslehre) ins Gespräch bringen und weiter entfalten?

Der Steppenwolf (1927) Der moderne Mensch

Der Steppenwolf alias Harry Haller ist ein moderner Einsiedler, der zurückgezogen von den Menschen lebt, sich vor sich selbst und vor der Welt ekelt. In seinem kleinen Dachzimmer belebt ihn in guten Stunden der Geist von Goethe, Novalis und erhabener Musik. Da er seinen hohen Idealen nicht entsprechen kann, in der Religion keinen Trost empfindet, ist er zu einem sinnentleerten Leben verdammt. Je mehr Harry Haller sich vom Leben enttäuscht abwendet, voll Hochmut auf die einfachen und normalen Bürgerinnen und Bürger schaut, desto mehr füttert er den Steppenwolf in sich, desto aggressiver wird er gegenüber anderen und sich selbst. In sich selbst zerrissen streunt er durch die Straßen der Stadt und findet nirgends Halt. Der Alkohol lässt ihn vergessen, betäubt aber nur kurzfristig sein Gemüt. Sein Leben wird ihm zur Höllenqual, zwanghaft denkt er daran, seinem Leben ein Ende zu setzen – doch er verbietet es sich selbst als eine Art Buße. Als Harry Haller am Ende ist, begegnet ihm in einer Gastwirtschaft mit Tanzsaal eine junge Frau, die ihn vor sich selbst rettet. Ihrer Macht über ihn kann er nicht widerstehen, er muss – ob er will oder nicht – gehorchen. Die androgyne Hermine, eine Prostituierte, führt den Steppenwolf in die sinnliche Welt ein, jedoch erkennt sie im Steppenwolf ihre eigene Verlorenheit. Das Leiden am Leben verbindet das ungleiche Paar. Der Roman kulminiert in einer rauschhaft durchtanzten Ballnacht. Am frühen Morgen werden beide vom geheimnisvollen Musiker Pablo in ein Spiegelkabinett geführt. Harry Haller erlebt in diesem magischen Kabinett einen wilden Ritt seines Unbewussten, ähnlich einem Drogenrausch. Für Harry Haller bleibt angesichts seines Steppenwolf-Daseins und des magischen Welttheaters einzig und allein das Lachen über die Welt und sich selbst.

 

Daraus stellt sich für mich die Frage: Kann der moderne Mensch die entzauberte Welt nur mit einer gehörigen Portion Humor ertragen? Humor schafft Distanz, aber was ist mit Verzauberung und Rausch? Gibt es sie noch die Verzauberung der Welt im christlichen Kontext? Von gemeinschaftlichen Rauscherfahrungen und „Gottesbesessenheit“ mag ich erst gar nicht reden.

 

Narziß und Goldmund (1930), Ein Lob der Freiheit

In Narziß und Goldmund (1930) wendet sich Hesse wieder einer zeitlosen Erzählung zu, ähnlich seiner indischen Dichtung Siddhartha. In der im Mittelalter angesiedelten Geschichte geht es um die ungleiche Freundschaft von Narziß und Goldmund. Ordnung (Klosterleben) und Freiheit (Wanderleben) stehen sich gegenüber. Der junge mutterlose Goldmund wird in das Kloster Maulbronn gebracht. Auf Wunsch seines Vaters soll er Priester und Mönch werden. Im Kloster wird Goldmund der Lieblingsschüler des vergeistigten und aufstrebenden Narziß. Narziß erkennt, dass Goldmund unbewusst leidet. Als er Goldmund mit dem Fehlen jeglicher Erinnerung an seine Mutter konfrontiert, kommt es zu einem Zusammenbruch Goldmunds und nach und nach zu einem lebendigen Bild der Mutter in seiner Seele. Das, was Goldmund vor und für den Vater abgespalten hatte, wird nun zur Leitenergie seines Lebens.

Narziß und Goldmund ist Hesses psychologischster Roman. Nachdem sich Goldmund von Narziß gelöst hat, erzählt Hesse von seinem Wanderleben, bis dieser nach nach Jahrzehnten wieder ins Kloster zurückkehrt. Es ist die Geschichte einer Heldenreise, eine Geschichte zu sich selbst und noch im Sterben zurück zur Mutter. Mit dem Symbol der Urmutter (Eva) spielt Hesse weiter, etwa indem er den Grund für das Gute und das Böse in ihr ausmacht. Aus derselben Quelle kommen Leben und Tod, Lust und Schmerz, Licht und Finsternis. Goldmund wird Künstler und Bildkunst ist für Hesse das Aufhalten der Vergänglichkeit. Für Narziß ist die Erkenntnis wichtig, dass Goldmund mit allen Sinnen voll des guten Geistes ist – jenseits des Reichs der Ideen (Philosophie, Theologie). 

Die Kunst ist eine andere Art von Andacht und Zugang zum Göttlichen. Der Mensch kann nur über die Freiheit zu sich selbst kommen. Kunst und Freiheit gehören zusammen. Es ist auffällig, dass Hesses Kunstbegriff mit seiner Idee von Erlösung (Siddhartha) zusammenfällt. Beides geschieht in der Zeit, hebt aber die Zeit auf. Umgekehrt lässt mich das Fragen: Wie erleben wir heute in der Religion Ewigkeit?

 

Das Glasperlenspiel (1943) Der Geist ist kein Selbstzweck

Am Schluss wird im Roman der institutionelle Dogmatismus hinter sich gelassen. Hesse betont die personale Beziehung zwischen zwei Individuen. Bildung ist Seelenbildung und geschieht auf der Grundlage von Vertrauen. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, erzählt Hermann Hesse die Lebensgeschichte von Joseph Knecht. Hesse verlegt die utopische Erzählung in das Jahr 2200. Hesse erzählt von einer idealen Trotzburg des Geistes im fiktiven Landstrich Kastalien, wo die elitäre Kunst des Glasperlenspiels in einem Männerorden gepflegt wird Der Mensch als geistiges Wesen wird im Orden gegen die Niederungen des weltlichen Lebens verteidigt. Als Joseph Knecht auf der Stufenleiter der inneren Hierarchie des Ordens bis zum Magister Ludi aufsteigt, wähnt er sich am Ziel seiner Berufung. Durch Selbstdisziplin, Askese und Meditation, ja auch Freude und Erkenntnisdurst ist er zum allseits verehrten Großspielmeister im Orden aufgestiegen. Seine Selbstzweifel und seine geistige Unruhe aber lassen sich durch seinen Status nicht beruhigen. Immer tiefer lässt er sich auf die Geschichtswissenschaft ein, die in Kastalien als zeitloses Ideal nicht gepflegt wird. Die Dimension der Zeit macht die Vergänglichkeit, Werden und Vergehen deutlich. Der Geist wird auf das leiblich-soziale Leben bezogen. Aufgrund seiner Erkenntnisse will Knecht die scharfe Trennung in Kastalien zwischen Geist und Welt, Geist und Natur, Geist und Gesetz aufheben. Mit anderen Worten, er will den Orden reformieren und stärker auf die Welt beziehen. Mit seinen Reformbemühungen scheitert Joseph Knecht. Daraus zieht er überraschend die Konsequenz und verlässt den Orden, um als privater Mentor den missratenen Sohn seines weltlichen Freundes zu erziehen.

In Hesses Alterswerk fließen die Hauptthemen seiner Romane ein. Es ist, als müsste Hesse, der in den Geist und in die Schönheit verliebt ist, sagen: Der Geist ist kein Selbstzweck. Der Geist will sich in die Welt inkarnieren. Wahre Kunst ist die Transformation des Geistes in die Welt. Kunst ist widerständig und freiheitsstiftend für Individuen und die Gesellschaft. Für mich als Theologen ist es interessant, wie Hesse im Glasperlenspiel, das, was wir als Inkarnation Gottes in die Welt bezeichnen, für den Geist und die Kunst einfordert.

Angesichts des Todes von Benedikt XVI. im Januar 2023 und beim Nachdenken über Das Glasperlenspiel drängte sich mir die Frage auf: Spiegelt sich nicht im Pontifikat Joseph Ratzingers der erste Teil von Joseph Knechts Biographie und in seiner Kehrtwende von einem reinen Dogmatismus nicht die Haltung von Papst Franziskus? Allerdings ist noch nicht ausgemacht, wessen Geist sich in der katholischen Weltkirche durchsetzen wird.