Relecture Hermann Hesse, Rezensionen von Joachim Leberecht.

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Warum wir Hermann Hesse lesen

Unterm Rad (1906), Vergewaltigung einer Kinderseele

Im Jahr 2022 jährte sich die Veröffentlichung von Hermann HessesSiddhartha (1922) zum 100. Mal, ebenso Hesses Todestag zum 60. Mal. Das war Anlass genug, mich erneut mit fünf Werken Hermann Hesses zu beschäftigen.

Mit Unterm Rad liegt uns eine typische Hesseerzählung vor, die HermannHesse 1906 als junger Schriftsteller veröffentlicht hat. Sie wirft ein Licht auf heutige Bildungserlebnisse. Es bleiben Fragen, wie sich ein Kind dem Erwartungsdruck der Eltern, der Lehrkräfte und anderer Autoritäten entziehen kann und dabei gesund bleibt. Hesse deutet in der Figur Heilners an, dass die Kunst einen Freiheitsraum eröffnen kann jenseits von Tradition und Dogmatismus. Heilner rebelliert gegen das Internat und dessen rigide Lehrerschaft, der es nicht um die Formung und Stärkung der Individualität geht, sondern gnadenlos um Leistung und Unterordnung in ein System. Gerade die zurückliegenden Coronamaßnahmen, besonders die Art der Durchsetzung an vielen Schulen, legen ein beredtes Zeugnis ab, dass die Schule noch immer von Repressivität geprägt ist. Der sensible Hans, dessen Geschichte Hesse in Unterm Rad erzählt, lässt sich nach anfänglichem Zögern auf den Widerspruch gegen den Rektor und die Ordnung im Maulbronner Seminar ein. Jedoch scheitert er auf ganzer Linie, da er mit Wucht in den Abgrund seines Unbewussten – den Verlust seiner Kindheit – gezogen wird. Auf sich selbst geworfen brennt seine Seele aus, Körper und Geist sind total erschöpft. Nur in der Stille des Waldes kann er atmen und leben. Als er sich das erste Mal scheu verliebt, beginnt er sich wieder zu spüren, jedoch währt die Freude nicht lange. An einer handfesten Schlosserlehre findet er Gefallen, auch eine Freundschaft aus seiner Kindheit beginnt wieder aufzuleben. Gerade als er zaghaft seine ersten Schritte in ein neues Leben macht, endet ein Vergnügen mit seinen Kameraden tragisch mit seinem Tod. 

 

Die biografisch geprägte Erzählung Unterm Rad stellt auch heute noch gültige Fragen. Da ist zum einen die Frage nach der Individualität. Wie gelingt individuelles Leben und Stärkung der Persönlichkeit in Bildungsprozessen? Wie viel ist uns die Freiheit des Individuums gegenüber dem Kollektiv wirklich wert? Ist Hesses Unterm Rad in einem gesellschaftlichen Kontext, wo wir globales Handeln auf Herausforderung brauchen, nicht ein nötiges Korrektiv?

Siddhartha (1922), Der Zeit enthoben

 

Siddhartha, der Brahmanensohn, hatte viele Lehrer, aber die Lehre der Tradition (Vater), das Leben als Asket und die neue Lehre des Buddha überzeugen ihn nicht. Nachdem er aufrichtig versucht hat, sein Ich zu töten, geht er in die Welt und lernt die Freuden der Sinne (Eros) und später des Glücksspiels und des Rausches (Alkohol) kennen. Dabei verliert er sich selbst. Noch einmal lässt er alles hinter sich und wird Schüler eines Fährmanns. Dieser überzeugt ihn nicht durch seine Lehre, sondern durch seine Weisheit und meditative Existenz, nicht durch geistliche Übungen, sondern durch sein Sein, seine Güte, sein Schweigen, sein Hören auf den Fluss. Der Fährmann lebt in der Welt, hat aber die Welt überwunden. Von ihm geht Frieden und Versöhnung aller Gegensätze aus. Er gestaltet seinen Fähralltag, begegnet allen Menschen mit aufrichtiger Freundlichkeit, ruht in sich und ist mit seiner Mitwelt verbunden. Bei ihm werden Siddharthas schmerzende Wunden heilen, Jahr für Jahr. Die letzte Wunde heilt, als Siddhartha erlebt, dass der Schmerz gleichzeitig die Heilung schon in sich trägt, die Sünde schon die Gnade, die Endlichkeit die Ewigkeit. Es ist alles eins. Die Erfahrung, dass er selbst mit einem Stein eins ist, dass er selbst göttlich ist, lässt ihn nach langer und entbehrender Sinnsuche in eine Existenz vordringen, die die Vergänglichkeit überwindet. Er ist jetzt schon ewig, damit existiert er ähnlich einem Mystiker in der Einheit allen Lebens. Siddharthas Weg führte über Entselbstung zur Selbstverwirklichung und letztendlich zu seinem wahren Selbst, der Einheit mit allen Geschöpfen und Dingen.

Es ist spannend und passt in unsere Zeit, dass Hesse in seiner indischen Dichtung nicht nach der Identität Siddhartha´s fragt, sondern nach der Einheit und einem spirituellen Weltbezug. Siddhartha als Parabel enthält spirituelle Impulse für eine globalisierte Welt. Der Gedanke der Einheit und die Einsicht, dass alles Leben miteinander vernetzt ist, prägt immer mehr unser Bewusstsein und unser Handeln. Wie kann christliche Theologie und Spiritualität diesen sich formenden Paradigmenwechsel kritisch begleiten, ganz neu sich interdisziplinär aufstellen und den eigenen Schatz (Schöpfungslehre) ins Gespräch bringen und weiter entfalten?

Der Steppenwolf (1927) Der moderne Mensch

Der Steppenwolf alias Harry Haller ist ein moderner Einsiedler, der zurückgezogen von den Menschen lebt, sich vor sich selbst und vor der Welt ekelt. In seinem kleinen Dachzimmer belebt ihn in guten Stunden der Geist von Goethe, Novalis und erhabener Musik. Da er seinen hohen Idealen nicht entsprechen kann, in der Religion keinen Trost empfindet, ist er zu einem sinnentleerten Leben verdammt. Je mehr Harry Haller sich vom Leben enttäuscht abwendet, voll Hochmut auf die einfachen und normalen Bürgerinnen und Bürger schaut, desto mehr füttert er den Steppenwolf in sich, desto aggressiver wird er gegenüber anderen und sich selbst. In sich selbst zerrissen streunt er durch die Straßen der Stadt und findet nirgends Halt. Der Alkohol lässt ihn vergessen, betäubt aber nur kurzfristig sein Gemüt. Sein Leben wird ihm zur Höllenqual, zwanghaft denkt er daran, seinem Leben ein Ende zu setzen – doch er verbietet es sich selbst als eine Art Buße. Als Harry Haller am Ende ist, begegnet ihm in einer Gastwirtschaft mit Tanzsaal eine junge Frau, die ihn vor sich selbst rettet. Ihrer Macht über ihn kann er nicht widerstehen, er muss – ob er will oder nicht – gehorchen. Die androgyne Hermine, eine Prostituierte, führt den Steppenwolf in die sinnliche Welt ein, jedoch erkennt sie im Steppenwolf ihre eigene Verlorenheit. Das Leiden am Leben verbindet das ungleiche Paar. Der Roman kulminiert in einer rauschhaft durchtanzten Ballnacht. Am frühen Morgen werden beide vom geheimnisvollen Musiker Pablo in ein Spiegelkabinett geführt. Harry Haller erlebt in diesem magischen Kabinett einen wilden Ritt seines Unbewussten, ähnlich einem Drogenrausch. Für Harry Haller bleibt angesichts seines Steppenwolf-Daseins und des magischen Welttheaters einzig und allein das Lachen über die Welt und sich selbst.

 

Daraus stellt sich für mich die Frage: Kann der moderne Mensch die entzauberte Welt nur mit einer gehörigen Portion Humor ertragen? Humor schafft Distanz, aber was ist mit Verzauberung und Rausch? Gibt es sie noch die Verzauberung der Welt im christlichen Kontext? Von gemeinschaftlichen Rauscherfahrungen und „Gottesbesessenheit“ mag ich erst gar nicht reden.

 

Narziß und Goldmund (1930), Ein Lob der Freiheit

In Narziß und Goldmund (1930) wendet sich Hesse wieder einer zeitlosen Erzählung zu, ähnlich seiner indischen Dichtung Siddhartha. In der im Mittelalter angesiedelten Geschichte geht es um die ungleiche Freundschaft von Narziß und Goldmund. Ordnung (Klosterleben) und Freiheit (Wanderleben) stehen sich gegenüber. Der junge mutterlose Goldmund wird in das Kloster Maulbronn gebracht. Auf Wunsch seines Vaters soll er Priester und Mönch werden. Im Kloster wird Goldmund der Lieblingsschüler des vergeistigten und aufstrebenden Narziß. Narziß erkennt, dass Goldmund unbewusst leidet. Als er Goldmund mit dem Fehlen jeglicher Erinnerung an seine Mutter konfrontiert, kommt es zu einem Zusammenbruch Goldmunds und nach und nach zu einem lebendigen Bild der Mutter in seiner Seele. Das, was Goldmund vor und für den Vater abgespalten hatte, wird nun zur Leitenergie seines Lebens.

Narziß und Goldmund ist Hesses psychologischster Roman. Nachdem sich Goldmund von Narziß gelöst hat, erzählt Hesse von seinem Wanderleben, bis dieser nach nach Jahrzehnten wieder ins Kloster zurückkehrt. Es ist die Geschichte einer Heldenreise, eine Geschichte zu sich selbst und noch im Sterben zurück zur Mutter. Mit dem Symbol der Urmutter (Eva) spielt Hesse weiter, etwa indem er den Grund für das Gute und das Böse in ihr ausmacht. Aus derselben Quelle kommen Leben und Tod, Lust und Schmerz, Licht und Finsternis. Goldmund wird Künstler und Bildkunst ist für Hesse das Aufhalten der Vergänglichkeit. Für Narziß ist die Erkenntnis wichtig, dass Goldmund mit allen Sinnen voll des guten Geistes ist – jenseits des Reichs der Ideen (Philosophie, Theologie). 

Die Kunst ist eine andere Art von Andacht und Zugang zum Göttlichen. Der Mensch kann nur über die Freiheit zu sich selbst kommen. Kunst und Freiheit gehören zusammen. Es ist auffällig, dass Hesses Kunstbegriff mit seiner Idee von Erlösung (Siddhartha) zusammenfällt. Beides geschieht in der Zeit, hebt aber die Zeit auf. Umgekehrt lässt mich das Fragen: Wie erleben wir heute in der Religion Ewigkeit?

 

Das Glasperlenspiel (1943) Der Geist ist kein Selbstzweck

Am Schluss wird im Roman der institutionelle Dogmatismus hinter sich gelassen. Hesse betont die personale Beziehung zwischen zwei Individuen. Bildung ist Seelenbildung und geschieht auf der Grundlage von Vertrauen. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, erzählt Hermann Hesse die Lebensgeschichte von Joseph Knecht. Hesse verlegt die utopische Erzählung in das Jahr 2200. Hesse erzählt von einer idealen Trotzburg des Geistes im fiktiven Landstrich Kastalien, wo die elitäre Kunst des Glasperlenspiels in einem Männerorden gepflegt wird Der Mensch als geistiges Wesen wird im Orden gegen die Niederungen des weltlichen Lebens verteidigt. Als Joseph Knecht auf der Stufenleiter der inneren Hierarchie des Ordens bis zum Magister Ludi aufsteigt, wähnt er sich am Ziel seiner Berufung. Durch Selbstdisziplin, Askese und Meditation, ja auch Freude und Erkenntnisdurst ist er zum allseits verehrten Großspielmeister im Orden aufgestiegen. Seine Selbstzweifel und seine geistige Unruhe aber lassen sich durch seinen Status nicht beruhigen. Immer tiefer lässt er sich auf die Geschichtswissenschaft ein, die in Kastalien als zeitloses Ideal nicht gepflegt wird. Die Dimension der Zeit macht die Vergänglichkeit, Werden und Vergehen deutlich. Der Geist wird auf das leiblich-soziale Leben bezogen. Aufgrund seiner Erkenntnisse will Knecht die scharfe Trennung in Kastalien zwischen Geist und Welt, Geist und Natur, Geist und Gesetz aufheben. Mit anderen Worten, er will den Orden reformieren und stärker auf die Welt beziehen. Mit seinen Reformbemühungen scheitert Joseph Knecht. Daraus zieht er überraschend die Konsequenz und verlässt den Orden, um als privater Mentor den missratenen Sohn seines weltlichen Freundes zu erziehen.

In Hesses Alterswerk fließen die Hauptthemen seiner Romane ein. Es ist, als müsste Hesse, der in den Geist und in die Schönheit verliebt ist, sagen: Der Geist ist kein Selbstzweck. Der Geist will sich in die Welt inkarnieren. Wahre Kunst ist die Transformation des Geistes in die Welt. Kunst ist widerständig und freiheitsstiftend für Individuen und die Gesellschaft. Für mich als Theologen ist es interessant, wie Hesse im Glasperlenspiel, das, was wir als Inkarnation Gottes in die Welt bezeichnen, für den Geist und die Kunst einfordert.

Angesichts des Todes von Benedikt XVI. im Januar 2023 und beim Nachdenken über Das Glasperlenspiel drängte sich mir die Frage auf: Spiegelt sich nicht im Pontifikat Joseph Ratzingers der erste Teil von Joseph Knechts Biographie und in seiner Kehrtwende von einem reinen Dogmatismus nicht die Haltung von Papst Franziskus? Allerdings ist noch nicht ausgemacht, wessen Geist sich in der katholischen Weltkirche durchsetzen wird.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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