zu: Das Weltgebäude muss errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen von Angela Krauss,
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, Gebunden, 110 Seiten, ISBN: 978-3-518-43118-4, 20,00€ (Print)
Worte als Wohnung
Eine sehr unaufgeregte, komprimierte, treffsichere, durchdachte und dennoch schöne, nahezu lyrische Sprache begegnet mir in dem schmalen Bändchen von Angela Krauss. Die Autorin ist eine echte Neuentdeckung für mich und dass zu errichtende Weltgebäude klopft an meinen Bücherhimmel an.
Auch geschriebene Worte sind eine Wohnung. Aber selbst Worte entziehen sich wie Erinnerungen: „Sobald ich ein Wort finde, trifft es schon nicht mehr das, was ich erlebt habe.“(32). Der Ich-Erzählerin entwischen Worte, sie verändern sich, fliegen auf und davon. Das geschieht der Erzählerin nicht nur mit Worten, sondern mit allen Dingen, die ihr begegnen. Die Wahrnehmung von Personen und Dingen in Raum und Zeit wird dadurch erweitert. Es gibt immer die Dimension des Möglichen und der Daseinsverwandlung: Träume und Tagträume, Engel und Feen mit denen die Ich-Erzählerin spricht – besonders gern auch mit einer Tänzerin – sind Zwischenräume in Raum und Zeit. Diese Zwischenräume interessieren die Erzählerin und ich vermute stark auch die Schriftstellerin besonders. In den Zwischenräumen geschieht Anrede, dieser Anrede will als reale Möglichkeit in der Welt zu sein, wahrgenommen werden. Das ist raumgreifend und transzendiert das gewöhnliche Verständnis von Raum und Zeit als Messeinheit. „Die Unschärfe des großen Zusammenhangs“(33) schafft Freiheit und ist ein produktiver Zustand. Daraus entwickelt sich immer wieder neue Lebensformen.
Sehnsucht nach Verbindung
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ (Hermann Hesse) Es geht um immer wieder neues Anfangen und sich auf das Leben, gleich ob es Glück oder Unglück bringt, einzulassen. „Anfangen erzwingt ein Hochgefühl“(82).
Der Alltag ist offen für Begegnungen und im Innersten sehnt sich der Mensch nach Verbindung: „Denn immer, wenn ein Mensch da ist, wollen wir ihm begegnen, sonst müsste er nicht da sein“(62). Wir müssen zu unserer Sehnsucht durchdringen, die noch unterhalb der Angstschicht verborgen liegt (63). Die Sehnsucht verbindet die Menschen miteinander, es widerfährt ein Gefühl der Einheit und der Liebe. Im Alltag, z.B.: beim Busfahren, kann es sein, dass eine kurze Begegnung stattfindet und dass zwei Menschen „zehn Minuten lang Freundinnen“ (66) sind.
Heimat
Die Vergangenheit ist vergangen und ragt doch in das JETZT hinein. Im zweiten Teil des Bändchens kreisen die Gedanken der Ich-Erzählerin um Herkunftsorte, um Wohnen und Miteinander leben im Erzgebirge. Da ist der geheimnisvolle Stumpf des verlorenen Fingers der Großmutter (71), die lebendige Erinnerung an den ersten erhaltenen Brief (79), gemeinsames Aufwachsen mit dem jüngeren, wesensverschiedenen Bruder unter einem Dach mit der Mutter. „Im Laufe der Jahre, …, „verlieren diese Erlebnisse nichts an Präsenz, jedoch unmerklich ihre Grenze“(92).
Abschied von der Mutter
Die Autorin nennt das Kapitel, wo die Tochter (Ich-Erzählerin) und Bruder die Mutter beim Weniger-Werden bis zum Sterben begleiten: Heilige Umkleideräume. Wer sich umkleidet steht an einer Schwelle, bereitet sich vor, „um in den weißen Raum zu treten“(105). Selten habe ich ein Kapitel über das Sterben einer vieles bestimmenden Mutter mit so viel gelebter Empathie, Geschwisternâhe und Offenheit für das, was auch jenseits des Sichtbaren geschieht gelesen, wie bei Angela Krauss. Kein Wunder, dass in Sternwarte, dem Ausblick des Bändchens, der Ich-Erzählerin von der Fee zugeflüstert wird: „Wir sterben nicht“(110).
Das Weltgebäude muss errichtet werden
Mit dem Titel nimmt Angela Krauss unzweifelhaft Bezug zu Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab (1). Bei Jean Paul (1763-1825) droht das Weltgebäude einzustürzen, da der Tote Christus sagt: Es gibt keinen Vater-Gott. Bei Angela Krauss soll das Weltgebäude erst errichtet werden. „Man will ja irgendwo wohnen.“
Die Daseinsverwandlung errichtet das Weltgebäude durch eine Punktmutation. „Es handelt sich dabei um eine weltweit gleichzeitig einsetzende Kalibrierung des Frontalkortex durch eine neue Frequenz“(109). Das hat zur Folge, dass der Menschheit neue Fähigkeiten zuwachsen, die zur Errichtung des Weltgebäudes hilfreich sind. Auch wenn Jean Paul und Angela Krauss eine Menge Bauzeit, Zerstörung und Wiederaufbau trennen, sind sie sich einig, dass die Zwischenräume wichtig sind, beide wollen die Welt in der Schwebe halten, beide sehen die Welt voller Geheimnisse: „Die Geheimnisse brauchen keine Anstrengungen zu ihrem Schutz, weil alles Geheimnis ist“(96).
Fazit
Ein ungeheuer lesenswertes Buch, das sich wegen der Fülle von Assoziationen
eignet mehrmals zu lesen. Vielleicht sind Form und Inhalt nicht allen zugänglich. Das macht aber nichts, versuchen kann man es einmal. Beim Lesen musste ich an das unter Theologie in Tübingen Studierende Bonmot über die Philosophie Ernst Blochs des Theologen Jürgen Moltmanns denken. Moltmann war von Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung begeistert, kritisierte aber Bloch dahingehend, seine die Welt transzendierende Philosophie der Hoffnung komme ohne Gott aus, dass sei wie Fahrrad fahren ohne Pedale.
Auch wenn Angela Krauss ohne das Wort Gott auskommt, was ich in der literarischen Gattung überhaupt nicht vermisse, spricht sie von Daseinsverwandlung. Ein großes Geschehen. Wie ereignet es sich? Es widerfährt der Welt und dem Einzelnen. Vielleicht ist die Nähe zu dem, was Religion für Möglichkeiten bereithält, von ihr selbst nicht intendiert, aber es scheint mir an diesem Punkt ein Gespräch von Literatur und Religion fruchtbar.
1 Vgl. Link zur Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab
https://www.projekt-gutenberg.org/jeanpaul/siebenks/siebn141.html