
Predigt über 2. Korinther 3,6b am 20. So nach Trinitatis, 13. Oktober 2024
Liebe Gemeinde,
vor einigen Wochen habe ich bei feinschwarz.net einen theologischen Aufsatz gelesen, der mich bis heute beschäftigt. Ich will versuchen die Kernaussage des Artikels auf den Punkt zu bringen. Vorab erinnern wir uns.
Die drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und der Islam sind Buchreligionen. Die Heiligen Schriften sind die Urkunden ihres Glaubens. Wir Evangelischen haben durch die Reformation ein besonderes enges Verhältnis zur Bibel. Es ist das Wort Gottes.
Wie ist das Wort Gottes zu verstehen?
Wie aber ist das Wort Gottes zu verstehen? Buchstäblich? Ist Wort für Wort, das in der Bibel steht heilig und daher unbedingt zu befolgen?
Wir können hier – und da habe ich nicht schlecht gestaunt – vom rabbinischen Judentum lernen.
Neben der offenbarten Tora gibt es eine mündliche Tora, die sich im Laufe der Jahrhunderte in der rabbinischen Tradition herausgebildet hat und auch weiterhin lebendig ist. Die mündliche Tora legt fest, „ob ein Satz der Bibel im übertragenen Sinne, wortgetreu oder sogar wortwörtlich verstanden werden musste. Juden beschneiden Penisse aufgrund von Gen 17,12, nicht aber Herzen, obwohl Jer. 4,3 das vorsieht.“
Das mag uns direkt einleuchten. Wie aber – und damit wird es höchst aktuell –geht die rabbinische Tradition mit der vielfältigen alttestamentlichen Aufforderung um, die Feinde zu vernichten? Steht doch in der Tora, dass JHWH Israel hilft den Erzfeind Amalek durch Genozid auszurotten? Überhaupt streitet in der hebräischen Bibel, die wir Altes Testament nennen, Gott auf der Seite Israels und tötet Israels Feinde bis auf den letzten Mann. Erinnert uns das nicht an gegenwärtige israelische Kriegsrhetorik? Ja, die Vernichtung der Feinde hat eine lange biblische Tradition.
gelesen und gedeutet vom Leben her
Jetzt aber kommt die rabbinische Tradition ins Spiel. Sie stellt kompromisslos den Wert jeden menschlichen Lebens über die schriftliche Tora. Die heilige Tora wird gelesen und gedeutet vom Leben her, nicht vom Buchstaben oder Wortsinn. Auch wenn die mündliche Tradition darüber nachdenkt, welcher Krieg gerechtfertigt ist und welcher nicht, ähnlich unserer Lehre vom gerechten Krieg, dann in der Absicht Kriege einzudämmen. Für die rabbinische Lehre – nicht eines Rabbiners! – sondern eines breiten Stroms der Überlieferung steht fest: Es gibt „keinen zwingenden Krieg in der jeweiligen Gegenwart.“
Liebe Gemeinde,
Die Praxis der rabbinischen Tradition hat mich überrascht und war mir in dieser Dimension nicht bewusst. Das schenkt mir einen erhellenden Blick auf die jüdische Auslegungstradition und hilft mir selbst beim Lesen alttestamentlicher Texte.
Der jüdische Umgang mit der Bibel kann uns helfen, die Spannung zwischen geschriebenen Wort Gottes und dem Ringen um eine rechte, gute Auslegung im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes und dem Geist Gottes auszuhalten und für das miteinander Leben und Glauben fruchtbar zu machen.
Es war ja Luther selbst, der nach einer Gewichtung der Aussagen innerhalb der Bibel suchte und erst dadurch zu seiner befreienden Rechtfertigungslehre kam. Luther empfahl alles als Gottes Wort in der Bibel zu hören: „was Christum treibet.“
Dem Fundamentalismus und auch der Beliebigkeit ist nur zu wehren, wenn das eigene Lesen, Hören und Tun in einem lebendigen Austausch vieler geschieht.
Den Geist Gottes unter uns lebendig halten
Paulus formuliert im 2. Korintherbrief, dass das Leben der Christen ein Brief Christi ist, nicht mit Tinte geschrieben, „sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes.“ (2.Kor. 3,3b)
Vielleicht rechnen wir immer noch zu wenig mit dem Geist und halten uns lieber an toten Buchstaben fest. Wenn der Geist Gottes unter uns lebendig ist, werden wir Gottes Wort vernehmen und es wird ausrichten, wozu es gesandt ist: Leben zu fördern, wie es der Wochenspruch zusammenfasst:
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist. Nichts als Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Micha 6,8
Joachim Leberecht
https://www.feinschwarz.net/der-verschwundene-erzfeind-amalek/
Zitate aus dem Artikel vom 13. September 2024 auf feinschwarz