Die Heilung eines Kindes – eine Vater-Sohn Geschichte, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

Predigt über Markus 9,17-27 

„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ (1. Joh 5,4)

Liebe Gemeinde,

„Wenn es noch eine Chance gibt für meinen Sohn, dann jetzt“, denke ich spontan und schleife meinen widerwilligen Sohn vom Streitgespräch weg hin zu Jesus: „Lehrer, mein Sohn ist von einem bösen Geist besessen. Er hat ihn stumm gemacht und manchmal wirft er ihn zu Boden, dann hat er Schaum vor´m Mund und krampft.“

Meine eigene Stimme hört sich blechern an, zu oft schon habe ich diese Sätze gesagt, musste mich erklären vor anderen, schämte mich in Grund und Boden für meinen Sohn. Wie ohnmächtig bin ich, wie ich gar nichts ändern kann, wenn eine fremde Macht meinen Sohn hin- und herwirft; das Tuscheln der Nachbarn, die mich voller Mitleid ansehen, klingt mir noch in den Ohren, wie habe ich das alles satt. Wie um alles in der Welt bin ich gestraft mit diesem Sohn, gestraft mit meinem Leben. Wie anders habe ich mir alles vorgestellt. Auf den ersten Blick ist alles normal mit meinem Sohn, manchmal ist er etwas abwesend und in sich versunken, aber „normal“. –  Doch von Normalität – was ist das schon: von „normal sein“ – kann keine Rede sein.

Mein Sohn kann nicht sprechen, er kann nicht hören…und ich kann es nicht mehr hören wie er zum Gerede wird!

Jetzt schon wieder. Die Schüler von Jesus konnten ihn nicht heilen und streiten heftig mit den jüdischen Gesetzeslehrern. Jeder ist „besessen“ von seiner Ansicht. Überall dieser Streit, wo ich mit ihm auftauche, ich kann´s nicht mehr ertragen. Ich mag mein Leben nicht mehr, da ist so viel Unruhe und tiefer Groll in mir…Ich hasse meinen Sohn – o nein, das darf ich nicht denken…

Die Tränen meiner Frau versiegen nicht und ich komme mir bloßgestellt vor, habe meine Ehre, habe meinen Glauben verloren an das Gute im Menschen. Ausgesondert sind wir durch ihn. Er darf nicht mit in die Synagoge, weil er „besessen“ ist, sagen sie. Ja, eine Macht ergreift ihn, vor der wir machtlos sind – aber er ist unser Kind, mein Sohn. Nur noch aus Sorge besteht unser Leben. Ich bin auch wie gelähmt, funktioniere nur noch.

Hey, und dieser Rabbi, warum schimpft er jetzt? Meint er mich? Meint er seine Schüler? Meint er uns alle? Was sagt er: Wir hätten keinen Glauben? Wie meint er das? Ja, mein Glaube ist am Boden, das stimmt, ich habe keinen Glauben mehr. Soll ich mich jetzt auch noch schuldig fühlen, dass mein Glaube mir abhandengekommen ist? Nein, nein, nein. Das muss erst mal einer durchgemacht haben, was ich durchgemacht habe.

Was denke ich da?

Kann ich das nicht auch anders hören, was Jesus sagt? Hat dieser Rabbi nicht recht, dass wir uns alle schwer tun mit Glauben und Vertrauen? Heißt das nicht, dass wir uns selbst nicht mehr vertrauen, nicht den anderen, nicht dem Gott unserer Väter und Mütter?

Ja, mein Vertrauen hat ganz schön gelitten. Mein Selbstvertrauen ist weg, Argwohn hat sich in mir eingenistet. Hinter allem vermute ich eine böse Absicht. Ich bin genau wie die Pharisäer, die hinter allem nur das Böse am Werk sehen und ich bin auch wie die Jünger, die es nicht hinkriegen, deren Glauben, wenn ihr Meister nicht in der Nähe ist, schmählich versagt.

Ich sehe meine Frau kritisch: hinter allem, was sie tut und sagt, sehe ich, dass sie sich von mir distanziert, mehr noch, dass sie mir die Schuld gibt an unserem missratenen Sohn. Anstelle von Liebe nur noch Angst.

In ihrer Familie sei so etwas noch nicht vorgekommen… Verdammte Schuld, verdammtes Misstrauen…

Ganz schön einsam bin ich geworden und traurig, fühle mich nicht mehr mit meiner Frau verbunden, auch nicht mit meinem Sohn. Ich lehne ihn unbewusst ab. Ich traue ihm nichts zu, ich vertraue ihm nicht. Ständig kontrolliere ich ihn, ständig mache ich mir Sorgen und bringe Unruhe in die Familie.

„Was ist das jetzt?“ Da nimmt mir jemand meinen Sohn weg und stellt ihn näher zu Jesus.

O, und jetzt kriegt er wieder einen Anfall. Vor allen Leuten. Warum nur jetzt?

 „Von klein auf“, höre ich mich sagen. Die Frage holt mich wieder in die Gegenwart zurück, ich spüre wie sich meine Zunge löst, ich einen festen Stand bekomme, mich innerlich mit einem Atemzug aufrichte und klar und deutlich sage: „Es ist als wenn meinen Sohn eine fremde Macht ergreift, er ist dann fremd gesteuert, wird ins Feuer geworfen oder ins Wasser getrieben, dann geht es um Leben und Tod…“, und leise mit gesenkter Stimme:

„Wenn du kannst, dann hilf uns doch! Hab Erbarmen mit uns!“

„Was heißt hier, wenn du kannst“, sagt Jesus. „Wer glaubt, kann alles!“

Stille – Wie, was meint der Rabbi? Was meint er mit: „Wer glaubt, kann alles.“ Warum dreht er das Ganze um? Liegt es etwa an meinem Glauben, das kann doch nicht sein! Ich dachte immer, ich müsste den anderen zutrauen, dass sie die Macht haben zu helfen. Daran habe ich geglaubt und bin so oft enttäuscht worden. Kann es denn wirklich sein, dass auch mein mangelndes Vertrauen meinen Sohn hin- und herwirft, dass mein Misstrauen mich von allen abschneidet? Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Das kann ich nicht zulassen. Alle meine Mühen, alle meine Sorgen haben ihm nicht geholfen?

Wie schön wäre es, mein Leben mit meinem Sohn wieder anders zu sehen, wie schön wäre es zu glauben, dass alles einen Sinn hat, wie schön wäre es, das Gefühl zu haben, ich muss mich nicht ständig mühen und überfordern, ich darf einfach glauben… und doch, ich kann es nicht. Die Realität sieht doch anders aus. Das ist doch meine leidvolle Erfahrung. Von diesem Glauben wird doch mein Sohn nicht gesund – oder?

Was ist das, es kommt aus mir von ganz unten, plötzlich schreie ich es aus mir heraus:

„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“

Stille

Das ist die Wahrheit. Nie war ich ehrlicher als jetzt – es fühlt sich gut an, ganz richtig. Vielleicht ist das mein Glaube wie ich ihn ausdrücke für mich und meinem Sohn. Ja, ich will vertrauen. Ich will ihn ganz Gott überlassen und ich merke wie gut es tut, loszulassen, Gott zu vertrauen – wie der Rabbi Jesus das in mir bewirkt hat ist schon allein ein Wunder und etwas ganz Besonderes: Wie Jesus das verschüttete Vertrauen in mir freigelegt hat, wie ich nicht länger Opfer von fremden Mächten bin, wie ich selbst ohnmächtig immer noch glauben darf – und auch menschlich zweifeln darf.

„Ja, Herr, hilf meinem Unglauben auf, dass der Glaube überhandnimmt, dass ich vertraue trotz allem.“

Dann stehe ich da wie in Trance, es ist so als hätte Gott mich berührt und hätte eine Art Blockade in mir gelöst. Was dann geschieht, nehme ich nur noch schemenhaft wahr.

Jesus treibt die fremde Macht aus meinem Sohn aus. Danach liegt er wie tot auf dem Boden, mich aber erschreckt das nicht, es ist, als würde ich in diesem Moment alles wissen, und egal wie es ausgeht, es ist gut. Ich fühle mich von der Welt empfangen und Gott sehr nah.

Dann sehe ich, wie Jesus meinen Sohn bei der Hand nimmt und ihn aufrichtet.

Mein Sohn darf leben und ich auch. Ich habe mein Vertrauen wieder gefunden – wie wunderbar.

Amen

Predigt Römer 6,3+4, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

 über Römer 6,3+4, Die kostbare Perle,  6. Sonntag nach Trinitatis

3 Ihr wisst doch: Bei unserer Taufe wurden wir förmlich in Christus Jesus hineingetaucht. So wurden wir bei der Taufe in seinen Tod mit hineingenommen. 4 Und weil wir bei der Taufe mit ihm gestorben sind, wurden wir auch mit ihm begraben. Aber Christus ist durch die Herrlichkeit des Vaters vom Tod auferweckt worden. Und genauso sollen auch wir jetzt ein neues Leben führen. (Basis Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2010, Römer 6,3+4)

 

Liebe Gemeinde,

heute möchte ich Sie mitnehmen zu einem Besuch der documenta fifeteen in Kassel. Wir besuchen gemeinsam die katholische Kirche St. Elisabeth. Die Gemeinde hat die Künstlerin Birthe Blauth aus München beauftragt, die Kirche zu gestalten. Es geht mir nicht um das Konzept der Künstlerin, sondern ich lade Sie ein zu einer Art Phantasiereise in den von der Künstlerin gestalteten Kirchraum. Später wird das Geschaute mit den Paulusworten zur Taufe in Beziehung gesetzt. Wenn Sie mögen und es Ihnen hilft, schließen Sie bei unserer Reise die Augen und stellen Sie sich vor, Sie sind mit dabei.

Sie stehen mit einer überschaubaren Gruppe auf dem großen Vorplatz, einer der weiten öffentlichen Plätze der documenta mitten in Kassel. Der große Platz ist leer, es scheint die Sonne und es weht ein leichter Wind. Sie gehen mit der kleinen Gruppe in Richtung Elisabethkirche. Von weitem sehen sie den Kirchturm. Er ist nicht geschlossen, sondern offen. Auf dem Kirchturm ist ein Kreuz zu sehen.

Wir kommen näher und überqueren eine Straße, die nicht viel befahren ist. Rechts von der Kirche liegt eine Straße auf der der Verkehr nur so braust. Autos fahren an und fahren weiter in die Stadt hinein. Menschen gehen über die Fußgängerampel. Von rechts drängt der Lärm der Stadt in die Ohren.

Vor uns baut sich die schlichte, moderne Kirche auf. Wir gehen drei Stufen hoch, um auf den Vorplatz der Kirche zu gelangen. Unsere Augen suchen die Eingangstür. Sie bewegen sich auf die dunkle Tür zu. Sie gehen den anderen hinterher durch die Tür. Hinter der Tür ist es dunkel. Ihre Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Vor einem Tisch stehen drei Menschen. Einer flüstert, bitte ziehen sie ihre Schuhe aus, bevor sie in den Kirchraum gehen. An der Rückseite des dunklen Raums erkennen Sie ein Schuhregal. Sie ziehen ihre Schuhe aus, verstauen sie in einem Fach des Regals. Bevor sie in den Kirchraum eintreten, bekommen sie von einer weiteren Person einen kleinen Zettel. Der schwere schwarze Vorhang wird für Sie bei Seite geschoben. Sie gehen in den Kirchraum und während sie den ersten Schritt auf ein weiches Grün machen, lesen Sie auf dem kleinen Zettel. Bitte schweigen Sie an diesem Ort. Sie dürfen sich, bevor sie die Kirche verlassen, eine Perle aus der Schale mitnehmen.

Sie gehen tiefer in den Kirchraum hinein. Der ganze Kirchraum ist vollkommen leer, nur mit Rasen ausgelegt. Sie spüren das Gras unter ihren Füßen. Von den beiden Außenseiten mit großen Glasflächen fällt Licht in die Kirche. Sie sehen Menschen. Manche gehen langsam über die Wiese, anderen haben sich hingesetzt oder hingelegt. Sie schauen nach einem Platz, wo sie sich hinsetzen können. Sie setzen sich aufs Grün und lassen den Kirchraum auf sich wirken. Es ist still. Der Lärm der Straße ist nicht mehr zu hören. Sie atmen ein und aus und fühlen sich geborgen. Die Ruhe tut gut. Sie schließen die Augen und sind eine Zeit lang ganz für sich. Dann nehmen Sie wieder den Raum und die Menschen um sich herum wahr. In der Mitte des Kirchraums steht eine große Schale. Aus der Schale leuchtet es weiß. Ein Mensch kniet vor der Schale und fährt mit seinen Händen durch das Weiß. Dass werden Perlen sein, denken sie. Wie kommt es, dass sie so leuchten? Sie nähern sich langsam der Schale. Die Perlen leuchten wunderschön. Es sind tausende von weißen Perlen. Sie knien sich nieder und fahren mit der Hand durch die weiße Pracht. Dann tauchen Sie mit der Hand noch einmal in das Weiß ein, lassen die Perlen langsam in die Schale rieseln und von den letzten vier, fünf Perlen auf ihrer Handfläche suchen Sie eine für sich aus. Sie halten sie zwischen Daumen und Zeigefinger und freuen sich. Mit der Perle verlassen Sie langsam den Kirchraum – und öffnen jetzt wieder die Augen und kommen hier in unseren Kirchraum/Gottesdienstraum wieder an.

 

Du bist getauft. Du bist mit Christus durch das Dunkel hindurchgegangen. Du hast die Dunkelheit hinter dich gelassen und in dir ist ein Raum der Stille und Begegnung mit Gott. Zu diesem Schatz hast du jederzeit Zugang. Mit der Taufe grünt ein unvergängliches Leben in dir. Du bist geschützt, geborgen, gerettet. Christus hat dich mit seinem Tod teuer erkauft. Das Leben leuchtet weiß. Christus ist deine Perle. Dieser Schatz lebt und leuchtet in dir. Vor diesem Licht kann nichts bestehen, was dieses Licht verdunkelt. Kein Leid, kein Schmerz und kein Tod. Wie ein Sandkorn in einer Muschel mit Schichten ummantelt wird und zu einer kostbaren Perle heranreift, so hat Christus für dich das schlechthin Fremde – den Tod – umschlossen und in Leben verwandelt. Seine Auferstehung lebt seit deiner Taufe als kostbares Gut in dir. Du bist mit Christus in der Taufe den Weg vom Tod ins Leben gegangen.

Wir verlieren den Zugang zu der Perle in uns immer wieder. Aber wir können uns immer wieder, zu jeder Zeit und an jedem Ort, diesem Schatz in uns zuwenden. Diese Reise zu Christus in uns nennen wir glauben: Ein großes Vertrauen in den Gott unseres Lebens. Daraus wächst die Kraft das Leben und die Welt zu gestalten.

Hinabsteigen, Zeiten der Dunkelheit durchschreiten, um ins Licht zu kommen, um beschenkt zu werden: das ist Glauben. Das Neue, das Kostbare, das Schöne lebt in uns, daher lasst uns das Falsche, das Niederträchtige, das Unechte ablegen.

Amen

Joachim Leberecht

Link:

www.bblauth.de

www.st-elisabeth-kassel.de

Ist der Weg der Gewaltlosigkeit Jesu ein Weg für die Kirche? Karfreitagspredigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

 

Predigt über den Albtraum der Frau des Pilatus (Mt 27,19)

 

Und als er (Pilatus) auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen.“ (Matthäus 27,19)

 

Liebe Gemeinde,

die schwedische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf hat Christuslegenden gesammelt, aufgeschrieben und erstmals 1904 veröffentlicht. In der Legende über das Schweißtuch der heiligen Veronika erzählt sie – bis heute spannend – von einem Albtraum, den Claudia Procula, Pilatus’ Frau, geträumt hat. Ich zitiere ein Bild des Warntraums:

Der römische Landpfleger zu Jerusalem hatte eine junge Frau und diese träumte in der Nacht … einen langen Traum. Ihr träumte, sie stehe auf dem Dach ihres Hauses und sehe auf den großen schönen Hofplatz herunter, der nach morgenländlicher Sitte mit edlen Gewächsen bepflanzt war. …

Und es standen dort alle Menschen der Erde, die in Kriegen verwundet worden waren. Sie kamen mit verstümmelten Leibern und mit tiefen, offenen Wunden, aus denen Blut rann, so daß der ganze Hof davon überflutet war. Und neben ihnen drängten sich dort all jene Menschen der Erde zusammen, die ihre Lieben auf den Schlachtfeldern verloren hatten. Es waren die Vaterlosen, die ihre Beschützer betrauerten, und die jungen Frauen, die nach ihren Herzliebsten riefen, und die Mütter, die nach ihren Söhnen seufzten.

Die Vordersten drängten sich nach der Tür hin, und wie zuvor kam der Türhüter und öffnete.

Er fragte all diese im Kampf und Streit Verwundeten: „Was sucht ihr in diesem Hause?“

Und sie antworteten: „Wir suchen den großen Propheten von Nazareth, der Krieg und Feindschaft abschaffen und den Frieden auf Erden bringen wird. Wir suchen ihn, der die Schwerter zu Sensen umschmieden wird und die Speere zu Winzermessern.“

Da antwortete der Sklave ein wenig ungeduldig: „Kommt nun nicht mehr wieder, mich zu plagen! Ich habe es Euch schon oft genug gesagt: Der große Prophet ist nicht hier. Pilatus hat ihn getötet.“

Dann schloss er das Tor. Doch sie, die träumte, dachte an all den Jammer, der nun laut werden würde. „Ich mag ihn nicht hören“, rief sie und stürzte von der Balustrade fort. In demselben Augenblick erwachte sie. Und nun merkte sie, daß sie vor Angst aus ihrem Bett gesprungen war und auf dem kalten Steinboden stand. (S.91/92)

 

So weit ein Ausschnitt aus der Christuslegende. Claudia Procula schreckt aus ihrem Albtraum auf und will gar nicht mehr einschlafen, weil sie vom Wehklagen der Kriegsverletzten und den Klagen um ihre Angehörigen erschüttert ist. Es hallt in ihr nach, wie sie nach dem Erlöser Jesus rufen. Aber Jesus ist tot. Ihr Mann Pilatus hat ihn getötet.

Sie kann den Albdruck auf ihrer Brust nicht aushalten, sie weint bitterlich über die Schuld ihres Mannes, über die zerplatzte Hoffnung der Geplagten.

Jesus, der Mensch Gottes, ein Prophet, ein Heiler, ein Gerechter ist tot: Güte, Wahrheit und Vertrauen haben verloren.

Das ist die Zeitenwende. Jetzt gilt es wieder und ganz entschieden nach Stärke zu streben, auf Angst zu setzen, sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen und einzusehen, dass der Feind mit allen Mitteln zu bekämpfen ist und gerade nicht wie Jesus gelehrt hat, den Frieden zu suchen, zu versöhnen und zu heilen. Sein kurzes öffentliches Auftreten und Wirken waren umsonst.

War das alles nur ein kurzes Aufflackern eines Lichtes, nicht mehr als eine Fata Morgana? Folgten nicht viele diesem Menschen Jesus von Nazareth? Gab er ihnen nicht Hoffnung? Verkündigte er nicht, dass Gott verliebt ist in gelingendes Leben? Nahm er ihnen nicht die Grundangst, zu kurz zu kommen, ständig bedroht zu sein, Gott nicht zu genügen? Hob er nicht immer wieder den Blick gen Himmel, war er nicht voller Gottvertrauen, zog er nicht den Himmel auf die Erde, versicherte er nicht glaubhaft, dass sein Vater im Himmel für seine Kinder eine Wohnung im Himmel bereitete, wo sie ewige Heimat finden würden (Johannes 14,2)? Ist mit seinem Tod jetzt nicht auch alle Hoffnung gestorben?

Sein Tod ist unser Tod. Viele dachten, eine neue Zeit sei angebrochen, was für eine Illusion! Niemandem hat Jesus Gewalt angetan, mit Wahrheit hat Jesus die Menschen konfrontiert, die politisch Herrschenden wie die religiös Mächtigen, seine Anhängerinnen und Anhänger hat er Frieden gelehrt. Aber es hat ihm nichts genutzt. Verlacht und verspottet haben sie Jesus, er sei ein Verrückter, der von einer neuen Zeit und einem radikalen Glauben faselte, dessen Aura Spontanheilungen bewirkte, der die Menschen in die Irre führte, der in Wahrheit Gott lästerte und dessen Lehre bestehende Gesetze und die Ordnung auflöste. Jesus, in Wirklichkeit ein Anarchist? Schlimmer noch, ein Vorgaukler von religiösen Hoffnungen, die an der Realität platzen wie Seifenblasen?

Von einem Tag auf den anderen scheint friedensbewegtes Denken und Handeln von gestern. Deutsche Waffen werden in die Ukraine geliefert, damit diese sich verteidigen kann. Die Ukraine, ein Kriegsgebiet, das die Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzt hatten. Im Zweiten Weltkrieg tötete die Wehrmacht über 20 Millionen russischstämmige Menschen, vor allem Zivilisten. Jetzt werden mit Hilfe deutscher Waffen wieder Russen getötet. Nach den sogenannten leichten wird jetzt ungeniert gefordert, dass schweres Kriegsgerät in die Ukraine geliefert werden soll. Wo soll die Spirale der Eskalation hinführen? Es wird nicht auf Deeskalation, es wird auf Krieg gesetzt. Der Traum von einem friedlichen Europa ist jäh geplatzt. Reflexartig wird zu den Waffen gegriffen. Rhetorik und Berichterstattung heizen den Krieg an. Es gilt nicht mehr politisch Sicherheit abzuwägen, sondern sich einzig und allein zu vergewissern, dass moralisch jetzt die Waffen sprechen müssen! Alternativen werden erst gar nicht mehr bedacht. Ein Armutszeugnis. Die deutsche Waffenindustrie reibt sich die Hände – 100 Milliarden Euro Sondervermögen stehen bereit. Wirtschaftsaufschwung einmal anders. Dabei ist die verhängnisvolle Liaison von Geld und Krieg bekannt. Die gesamte Konfliktforschung und Aufarbeitung der letzten beiden Weltkriege werden machtpolitisch ad acta gelegt. Wir sind nicht verantwortlich, wir waschen uns in Unschuld die Hände. Wir tun nur das, was die Sicherheitslage erfordert und die Mehrheit der Bevölkerung will.

Von all den zerplatzten Hoffnungen der einfachen Menschen in Galiläa und Judäa hatte die Nichte des Kaisers Tiberius, Claudia Procula, nicht viel gewusst. Sie diente und verehrte die römischen Götter, glaubte an die friedensstiftende Pax Romana. Sie sah sich zurecht oft bedroht durch die vielen Unruhen in Jerusalem, schätzte das verantwortliche Handeln ihres Mannes und Präfekten Pilatus, der besonders vor dem Passahfest unter Anspannung stand, weil die Gefahr bestand, dass Eiferer das Volk aufwiegelten, es zum Umsturz, zu blutigen Kämpfen kommen könnte.

Vor Pilatus Richterspruch über Jesus träumt Claudia Procula ihren irritierenden Traum. Natürlich glaubt sie, dass die Götter in Träumen zu den Menschen sprechen. Aber noch nie hatte sie einen derart aufwühlenden Traum gehabt. Sie hatte auch kein besonderes Herz für die einfachen, armen und ungebildeten Menschen. Es gibt Privilegierte und Unprivilegierte. So war es und so würde es immer sein. Das Schicksal der Götter meinte es gut mit ihr. Sie stammte aus kaiserlichem Haus. Diesem Stand entsprechend und ihn schützend richtete sie ihr Leben ein. Es war schon viel von ihr verlangt, ihrem Mann Pilatus nach Jerusalem zu folgen, in dieses heiße, staubige und dreckige Nest am Ende der Welt.

Umso mehr erschreckt sie vor den ihr fremden, übermächtigen Gefühlen des Mitleids für die durch Kriege aller Zeiten Verletzten, Trauernden, Heimatlosen, die im Schatten der Sieger versklavten und entrechteten Menschen. Sie hatte doch immer mit rauschenden Festen in Rom die glorreichen Siege des römischen Heeres gefeiert. Das Elend des Krieges hatte sie nie an sich herangelassen, nie wahrnehmen wollen, einfach ausgeblendet und verdrängt. Jetzt aber hatte sie es im Traum gesehen, mit einer solchen Wucht, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie wusste es, niemand konnte es ihr ausreden: Es war kein Traum, es war wahr. Die von Leid an Leib, Geist und Seele Gezeichneten gibt es nicht nur vereinzelt, es sind Massen. Sie alle kommen, um das Tor zum Hof des Palastes zu überwinden. Wer wird ihnen helfen können?

Im Traum ist sie gezwungen zuzuhören und das Leid zu sehen. Die Formulierung „ihr träumte“ macht sprachlich deutlich, dass der Albtraum ihr widerfährt. Die Verletzten und Trauernden sprechen von einem Menschen, der ihnen helfen kann, der ihnen Hoffnung gibt, der sie heilt, den sie in ihrer religiösen Tradition als Prophet, als Seher, als Heiler und Messias verehren. Und dieser Mensch – begreift sie augenblicklich – ist in der Macht ihres Mannes. Deshalb kam der schreckliche, bedrängende Traum über sie. Sie wird überschwemmt von Scham, Mitleid und Wut. Woher kommen diese starken Gefühle? Sie nimmt schmerzlich wahr, was für ein großes Unrecht Jesus von Nazareth durch ihren Mann geschehen wird. Der von vielen ersehnte Erlöser ist ein Gerechter, ein vom Himmel gesegneter Mensch. Wieso sollten sich auch sonst alle Geplagten nach ihm sehnen, ihn aufsuchen und sich von ihm berühren lassen?

Sie weiß, wenn ihr Mann Pilatus Jesus zum Tode verurteilt, dann ist er nicht nur verantwortlich für den Tod eines Unschuldigen, sondern seine Schuld reicht bis in den Himmel, ist zweifellos eine Beleidigung der Götter. Der Zorn der Götter wird erregt – zum ersten Mal in ihrem noch jungen Leben nimmt Claudia den Ernst des Lebens wahr, schreckt sie auf vor der Heiligkeit des Lebens. Sie ahnt, dass Pilatus durch die Verurteilung des Gerechten zum Tode am Kreuz eine Tragödie auslöst, die die Welt ins Wanken bringen wird, auch die kleine Welt ihrer Ehe. Noch hat ihr Mann Jesus von Nazareth nicht zum Tode verurteilt. Noch kann sie ihrem Mann eine Warnung zukommen lassen. Das tut sie, wie es im Evangelium nach Matthäus heißt, mit den Worten: „Ich habe heute Nacht viel erlitten im Traum um seinetwillen.“ (Matthäus 27,19b)

Wir wissen, wie es ausgeht. Pilatus findet keine Schuld an Jesus von Nazareth, fragt die aufgehetzte Menge nach ihrem Urteil, verkündigt das rechtskräftige Todesurteil für Jesus „und wäscht sich die Hände in Unschuld“ (Matthäus 27, 24).

Claudia Procula aber lässt dieser Traum ihr ganzes Leben nicht mehr los. Später – so erzählt Gertrud von le Fort in ihrer lesenswerten Novelle „Die Frau des Pilatus“ – lebt sie mit ihrem Mann in Rom. Dort besucht sie nach einer langen durch den Traum ausgelösten religiösen Sinnsuche die Versammlungen der Christen. Sie verehren Jesus von Nazareth als den Christus, der von Gott gesandt wurde, der den Fluch des Kreuzes in Heil verkehrte, der noch für seine Peiniger betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23,34); der sich im Tode Gott überließ, der am dritten Tag von den Toten auferstand. Claudia Procula, so die Legende, wurde selbst Christin, ließ sich von Güte, Liebe und Gewaltlosigkeit ihres HERRN einholen und erfüllen und empfing die Bluttaufe als Märtyrerin. In Gertrud le Forts Novelle ist es Pilatus selbst, der mitansehen muss, wie die Löwen seine geliebte Frau zerfleischen. Wieder nur hatte er den Befehl von Kaiser Nero blind ausgeführt und die kleine Gruppe der unschuldigen Nazarener für einen verheerenden Brand in Rom geopfert.

Es müssen halt Menschen geopfert werden. Daran führt kein Weg vorbei – oder?

Heute gedenken wir des Opfers Jesu am Kreuz. Auch Jesus wurde geopfert durch die Mächtigen. Im Unterschied aber zu den vielen Opfern, die die Herrschenden opfern, hat Jesus dieses Opfer selbst angenommen, ist aus freien Stücken diesen Weg für uns in den Tod gegangen. Daraus folgt für mich: Wir sollen keine Menschen mehr opfern. Es ist ein für alle Mal genug.

 

Wo bleibt das eindeutige Zeugnis der Kirchen von der Gewaltlosigkeit Jesu?

Das ist das Evangelium. Ich schäme mich für den orthodoxen Patriarchen Kyrill, der in seinen Predigten den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gutheißt und die Raketen segnet. Ich schäme mich für die Priester in der Ukraine, die ebenfalls Menschen und Waffen segnen. Ich schäme mich für die Kirchen in der westlichen Welt, die ihre Lehre von einem gerechten Krieg aus der Mottenkiste holen und Waffenlieferungen ethisch absegnen. Wo bleibt das eindeutige Zeugnis der Kirchen von der Gewaltlosigkeit Jesu? Gewaltlosigkeit ist nicht Schwäche, sondern fordert große Stärke und volles Vertrauen auf Gott. Gleichzeitig weiß ich, dass wir nicht vorschnell oder voreilig uns einbilden sollten, wir könnten konsequent gewaltlos leben. Ich erinnere mich an Jesu Warnung an seine Jüngerinnen und Jünger: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke? Oder könnt ihr die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde?“ (Mk 10,38) Vielleicht bleibt uns ein vorschnelles Ja im Hals stecken, wenn wir auf die Erfahrungen der Jünger in der Passionsgeschichte schauen — und uns selbst eingestehen, was wir über uns selbst wissen.

Das Glaubenszeugnis von Pilatus’ Frau steht nicht allein. Zum ersten, sie hat ihren Mann Pilatus gewarnt, hat auf Gottes Botschaft im Albtraum gehört. Auch wir alle, du und ich, können unsere warnende Stimme erheben – selbst da, wo die Kirche als Institution auffällig still bleibt. Selbst da, wo wir nicht Gehör finden, wo wir als Minderheit in einer Gesellschaft verlacht und nicht ernst genommen werden. Zum zweiten ist Claudia Procula mit der Taufe ihres HERRN getauft worden. Auch wenn das eine Legende ist, steht sie doch für das Glaubenszeugnis vieler Christinnen und Christen, die um ihres Glaubens willen getötet wurden. Darunter sind viele, die nicht die Waffe in die Hand nehmen wollten, die den Dienst an der Waffe um ihres Glaubens willen verweigerten. Das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit hat in den ersten Jahrhunderten nach Jesu Tod viel zur Ausbreitung des christlichen Glaubens beigetragen. Auf diese jesuanische Wurzel sollten wir uns neu besinnen. Wer wenn nicht wir Christinnen und Christen sollte sonst in unserer Gesellschaft für Gewaltlosigkeit eintreten?

Ich träume davon, dass der Albtraum Krieg überwunden wird

 

Ich träume davon, dass der Albtraum Krieg überwunden wird und das sinnlose Töten ein Ende findet. Was träumen Sie und wofür setzen Sie sich ein? Wie würden Sie sich verhalten, wenn es hart auf hart kommt?

Durch Jesu Tod sind wir befreit und berufen zu gewaltlosem Widerstand. Gott der HERR ist es, der die Macht hat, nicht die Mächtigen dieser Erde, nicht die Waffen. Das ist unser Glaube.

Amen

Literatur:

Die Bibel. Martin Lutzer (2017)

Selma Lagerlöf: Christuslegenden, (Hg.) Karl-Maria Guth, Verlag Hoffenberg, Berlin 2016, S. 61-102

Gertrud von le Fort: Die Frau des Pilatus, Friedrich Bahn Verlag, Konstanz, 2. Auflage 1987

Ansporn für müde Gläubige, Predigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

Sonntag Sexagesimae 2022, Predigt über Hebräer 4,12+13 (Luther 2017)                                                                         

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

 

Liebe Gemeinde,

Das ist doch auch mal ein Wort und ein Ruf an diejenigen, die jetzt so zahlreich aus ihren Kirchen austreten. Doch sie sitzen nicht hier. Sie hören es nicht und wollen es auch nicht mehr hören, von oben herab.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Austrittswelle und wird am Arbeitsplatz, im Verein und in den Familien diskutiert. Überall höre ich die Rede, dass es Monate braucht bis am Amtsgericht der Kirchenaustritt erfolgen kann. Das Personal dafür wird in vielen Kommunen aufgestockt. Auch der ehemalige Papst Benedikt der XVI. ist der Lüge überführt. Wem kann man eigentlich noch Vertrauen in der Institution Kirche? Die heute austreten ziehen meiner Ansicht nach eine Konsequenz aus einer langen Entfremdungsgeschichte mit ihrer Kirche und vielleicht sogar auch mit der Kernbotschaft, der Rede und dem Glauben an Gott, mit dem sie nichts mehr anfangen können.

Sie sind müde geworden

Auch der Schreiber des Hebräerbriefs sieht, wie viele Menschen sich in den christlichen Gemeinden der zweiten und dritten Generation gar nicht mehr so recht dazu gehörig fühlen. Sie sind müde geworden, der Lebenskampf fordert viel Kraft und die Gemeinschaft der Gläubigen ist nicht ein erhoffter konfliktfreier Ort. Die Orientierung auf das Ziel des Glaubens ist aus den Augen geraten. Der Sinn scheint verloren gegangen, die Antwort auf die Frage: Weshalb sind wir eigentlich gemeinsam unterwegs? Eindringlich bittet der Schreiber des Briefes: „Werft euer Vertrauen nicht weg!“ (Hebräer 10,35)

Hier macht sich jemand ziemlich viel Mühe den Leserinnen und Lesern aufzuzeigen, warum es sich lohnt zusammen zu bleiben und gemeinsam wieder das Ziel des Glaubens in den Blick zu nehmen. Zugegeben: Der Schreiber benutzt viele Vorstellungen und auch Bilder, die uns fremd geworden sind, aber dennoch sind seine Gedanken klar und erstaunlich aktuell.

Das Ziel ist ein tiefer Friede

Ausgehend von Gottes Ewigkeit, von der Ruhe die vorhanden ist und nach der die Menschen damals und wir heute uns sehnen, sagt er: Wir müssen uns nach Gottes Wort richten, damit keiner zurückbleibt oder am Ziel vorbeilebt. Das Ziel ist ein tiefer Friede: Es ist das Zur-Ruhe-Kommen in Gottes Nähe.

Damit diese Ruhe in Gott schon jetzt erlebbar wird – mitten in aller Unruhe – und das Sehnen nach dieser Ruhe uns antreibt und anstachelt zu einem guten Leben, ist es wichtig immer wieder zu hören, was Gott in unser Leben hineinspricht.

Das Wort Gottes ist so etwas wie die Muttersprache des Glaubens. Sie entsteht aus dem Hören und aus dem Tun des Gehörten. Gott spricht zu uns wie er von Anfang an gesprochen hat als er durch sein Wort die Welt erschuf. Wir geben mit unserem Leben Antwort auf das Schöpferwort Gottes.

lebendig, kräftig und messerscharf

Das Wort Gottes – das ist für den Schreiber gewiss – ist lebendig, kräftig und messerscharf. Es kann zwar ungehört bleiben, aber wenn es gehört wird, dann geht es nicht spurlos an uns vorbei, dann fährt es uns dazwischen, wenn wir uns zu sehr eingerichtet haben in unsere Sicht der Dinge, wenn wir immer schon meinen zu wissen, was richtig oder falsch ist, wenn unser Mitgefühl erstickt ist, wenn alles zugeschüttet und verborgen ist, der Zugang zu uns selbst und zu anderen, wenn unsere Liebe kalt ist.

Aber wer lässt sich heute schon gerne ein Wort gefallen, das beunruhigt, das einschneidend und durchdringend ist, gefährlich sogar, jedenfalls nicht ohne Folgen bei Berührung?
Ein scharfes Wort kann tief treffen. Scharf wie eine Waffe. Wie ein zweischneidiges Schwert. Oder wie ein Filetiermesser, das Fleisch problemlos vom Knochen trennt. Oder wie ein Skalpell, mit dem der Arzt gezielte Schnitte macht, um krankes Gewebe von gesundem zu trennen. Das kann wehtun.
Vielleicht ist das Skalpell, ein scharfes medizinisches Messer, für uns heute das alltagstauglichere Bild im Vergleich zum Schwert. Dann ist Gottes Wort so riskant, aber auch so heilsam wie eine Operation am offenen Herzen. Zur Zeit des Hebräerbriefs noch undenkbar -, aber heute so selbstverständlich wie der Einsatz des zweischneidigen Schwertes damals.

Der Gedanke daran jedenfalls dürfte Menschen damals wie heute nicht kalt lassen. Was damit gemacht wird, ist wohl ganz und gar nicht egal. Weil es Folgen hat. Oft geht es um Leben und Tod, wenn ein Schwert oder ein Skalpell zum Einsatz kommt – natürlich auf sehr unterschiedliche Weise. Der Vergleich will uns klarmachen – genauso ist Gottes Wort: Ganz und gar nicht egal. Darauf kommt es an. Wenn Gott durch seinen Sohn Jesus Christus redet, dann geht es um uns, um unsere Existenz, um unser gemeinsames Leben in der Gemeinde und in dieser verletzlichen und liebesbedürftigen Welt.

Deshalb bleibt Gott für uns nicht an der Oberfläche

Darauf können wir uns einlassen oder eben auch nicht. Einer wichtigen Operation können wir zustimmen oder sie ablehnen. Aber mal ehrlich, wer würde so etwas ablehnen? Wenn man ablehnt, hat man zwar kein Risiko, zusätzlich verletzt zu werden -, aber eben auch kaum eine Chance auf Heilung.
Deshalb bleibt Gott für uns nicht an der Oberfläche. Was er sagt und von uns will, greift tief in unser Leben ein, durchdringt jeden einzelnen Gedanken, seziert jedes einzelne Vorhaben und Tun. Er blickt uns mitten ins Herz und prüft, wie wir`s meinen (vgl. Ps 139,23). Gott ist derjenige, der „uns unbedingt angeht.“ (Paul Tillich)
Dabei ist vor allem zu bedenken: Gottes Wort richtet sich nicht gegen uns, um uns zu verletzen. Gott richtet sein Wort vielmehr an uns, damit es hilft und heilt, uns auf den ewigen Weg führt, in seine Ruhe und in seinen Frieden. Mit aller Macht setzt sich das Wort Gottes für das Leben ein.
Das ist ein Kriterium zur Unterscheidung. Daran muss sich auch die Kirche messen lassen.

Amen

 

Joachim Leberecht, Predigt über Matthäus 14, 22-33, Herzogenrath 2022

 

Wider Chaosmächten (4.Sonntag vor der Passionszeit 2/2022)

 

Matthäus 14, 22-33 (Basis-Bibel)

 

Liebe Gemeinde,

Jesus brauchte Ruhe und Abstand von den vielen Menschen, die ihn bedrängten. Alle wollten etwas von ihm und überall wo er hinging, liefen sie ihm hinterher. Gab es denn keinen Ort, wo er allein sein konnte? Wo ihn Stille umgab?

Nach der Speisung der 5000 schickte er seine Jüngerinnen und Jünger mit unwirschen Worten fort. Sie sollten schon einmal über den See fahren. Und nachdem er das Volk entlassen hatte, stieg er allein auf einen Berg, um Gott nah zu sein.

Die Angst infizierte alle.

Die Jünger aber waren auf dem See unterwegs. Es wurde dunkel. Eine starke Brise kam auf. Die See wurde unruhig. Die Jünger mühten sich mit dem Rudern ab. Der Wind stand ihnen hart entgegen. Das Boot wurde wie eine Nussschale auf den Wellen hin und hergeworfen. Sie bekamen es mit der Angst zu tun. Die Angst infizierte alle.

Das kennen wir doch auch alle zu Genüge aus den letzten zwei Jahren. Wir saßen und sitzen alle in einem Boot, fürchteten und fürchten uns vor den über uns schwappenden Wellen der Pandemie. Infiziert sind wir von Angst, ganz durchdrungen. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Auch die Panikmache der Regierung und besonders in den Medien hat die Angst wie ein Krebsgeschwür in Gesellschaft und Kirche wüten lassen. Die Kirche hat sich landauf, landab wie die Jüngerinnen und Jünger in der Geschichte verhalten: ängstlich! Der frühere Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Heribert Prantl, resümiert: Die „Kirche wirkte in der Pandemie kleinmütig und angepasst.“ (Katharina Geiger, Interview mit Heribert Prantl für katholisch.de vom 6.1.2021 unter dem Titel: „Kirche wirkte in der Pandemie kleinmütig und angepasst.“)

Und zurzeit blicken viele Länder Europas auf Deutschland und die Rede von der „German Angst“ macht wieder die Runde. Wir werden die tiefsitzende Angst in unserer auf Sicherheit ausgerichteten Gesellschaft einfach nicht los. Und niemand von uns kann da einfach aussteigen. Wir alles sitzen im selben Boot.

Die Stille vor Gott hatte ihn gestärkt.

Aber zurück zur biblischen Erzählung. Der Evangelist Matthäus berichtet weiter: Jesus beendet sein Gebet. Mehrere Stunden hatte er sich von allen zurückgezogen. Die Stille vor Gott hatte ihn gestärkt. Inzwischen war es Nacht geworden. Und mitten in der Nacht kommt er seinen in Not geratenen Jüngern entgegen.

In ihrer Not sehen die Jünger Gespenster. „War da nicht etwas auf dem Wasser?“ „Das ist unheimlich.“ „Ich hab´s auch gesehen!“ „Hier geht was nicht mit rechten Dingen zu!“ „Das ist der Tod in der Gestalt eines Gespenstes!“ „Ein Wassergeist, der unseren Untergang ankündigt!“ Einer schreit: „Ich kann nicht mehr, ich geh ins Wasser.“ Im letzten Moment wird er zurückgehalten. Ein Klagen und Wehschreien in schwarzer Nacht, ein Tohuwabohu wie bei der Erschaffung der Erde. In das Chaos hinein spricht Christus: „Seid getrost. Ich bin´s. Fürchtet euch nicht!“

Da erkennen die Jüngerinnen und Jünger, wer ihnen in ihrer Not am nächsten ist. Es ist Christus, der HERR. Es gibt viele Schein- und Trugbilder, wenn uns auf dem Lebensweg der Wind hart entgegensteht. Da ist es gut, wenn wir uns an die Stimme Christi gewöhnt haben, dass wir sie hören und heraushören, wenn unsere innere oder äußere Not am größten ist. Es ist das Evangelium, das wir hören dürfen: „Fürchtet euch nicht!“ – „Fürchte dich nicht!“

 

Dann aber bricht Petrus ein.

Petrus, der schnelle und mutigste unter ihnen, findet zuerst seine Sprache wieder: „Jesus, rufe mich und ich komme zu dir.“ Jesus ruft ihn und Petrus geht über das Wasser. Nichts hält ihn mehr, selbst da, wo kein fester Boden unter den Füßen ist. Ganz nah möchte er seinem HERRN sein. Wie ein Kind, das voller Vertrauen in die Arme seiner Mutter springt, geht Petrus los, ganz selbstvergessen, ein höchster Akt des Vertrauens. Dann aber bricht Petrus ein. Die Wasser stürzen über ihn zusammen!

Auch wir, Liebe Gemeinde, haben in unserer Region im vergangenen Sommer die Dämonen des Wassers erlebt, die Chaosmächte, die wir  bedingt durch den Klimawandel theoretisch voraussahen, denen wir praktisch aber nicht gewachsen waren. Schon von alters her wurden Wasserfluten und todbringende Überschwemmungen gefürchtet. Jetzt sind sie so nah an uns herangekommen, haben uns heimgesucht. Wir sind erschreckt und die Betroffenen ihr ganzes Leben davon gezeichnet.

In vielen Religionen gehören Geschichten der Rettung aus dem Wasser zum Kernbestand. „In der buddhistischen Tradition findet sich eine interessante Parallele [zu unserer Geschichte]: Im Zweifel an Buddha sinkt ein Laienbruder im Fluss ein und rettet sich schließlich durch die Kraft seiner eigenen Gedanken.“ (Dorothee Wüst, Gottesdienst Praxis, 2021, S. 145)

Wie anders stellt Matthäus die Rettung dar. Es sind nicht die spirituellen Gedanken und Eigenkräfte, die Petrus retten. Petrus kann sich sprichwörtlich nicht mehr am eigenen Schopfe aus den Fluten ziehen. Petrus kann nur noch rufen: „HERR, rette mich!“ Und Jesus greift Petrus bei der Hand und rettet ihn.

Wie tröstlich, dass die Geschichte erzählt, dass Petrus seinen Glauben nicht durchhalten konnte, dass er eingebrochen ist, dass Christus ihm außer Blick gerät und er die Furcht ins Herz lässt, die reale Furcht vor dem starken Wind und den mächtigen Wellen.

Hier kann ich mich gut mit Petrus identifizieren. Ich möchte glauben und Vertrauen und dann schleicht sich doch immer wieder der Zweifel ein: „HERR, ich glaube. Hilf meinem Unglauben!“

Jesus lässt den zweifelnden Petrus nicht untergehen, stößt ihn nicht von sich weg, zieht ihn hoch auf Augenhöhe und sagt: „Du hast zu wenig Vertrauen. Warum hast du gezweifelt?“

Liebe Gemeinde,

sicherlich wurde diese Geschichte in den christlichen Gemeinden erzählt, dass wir Christus in jeder Not vertrauen können. Christinnen und Christen haben zu jeder Zeit und an allen Orten die Erfahrung gemacht, wie schwankend ihr Glaube sein kann. Es gibt Starke und Mutige, und in der Regel Kleingläubige. Diese Einsicht soll nicht in die Resignation führen nach dem Motto: Wir Menschen sind halt so, nein, diese Einsicht und Erfahrung soll zum Mitgefühl führen, zu Geduld mit denen, die ängstlich sind. Mut aber soll auch denen gemacht werden, die voll Gottvertrauen Ängste überwinden, die ihre Komfortzone verlassen, die sich nicht von der Angst gefangen nehmen lassen, die unbeirrt groß Denken und Handeln – allen Chaosmächten zum Trotz. Sie dürfen neu hören und immer wieder erfahren, wenn sie auf gefährlichem Terrain einbrechen, werden sie errettet und wieder aufgerichtet.

Entscheidend ist doch, dass Jesus hier Petrus rettet, wo ihm der Glaube wegbricht.

Die Not kann so groß werden, dass wir untergehen, dass wir unseren Glauben zu verlieren drohen, dass er uns weggeschwemmt wird, aber ein Hilferuf genügt, ein Seufzer und Gott überlässt uns nicht den tosenden Fluten, selbst wenn wir untergehen. Amen

 

 

 

 

 

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