Angelika Christiane Krakau, Joachim Leberecht: Predigt Tut mir auf die schöne Pforte, Herzogenrath 2023

Anlass:Festakt – 125 Jahre Markuskirche, Angelika Christiane Krakau war 12 Jahre Pfarrerin an der Kirche in Herzogenrath (der kursiv gesetzte Text ist von Pfarrerin Krakau, der andere von Pfarrer Leberecht).

 

Foto von Georg Schwering, links Pfarrer Leberecht, rechts Pfarrerin Krakau.

Liebe Festgemeinde,

also ich kann euch sagen, wenn man erst einmal die 100 überschritten hat, dann wird man immer jünger und frischer. Na, ganz so übertreiben will ich nicht, aber ich bin gegenüber früher schon deutlich ruhiger geworden. Mich haut nicht jeder Sturm um. Ihr müsst wissen, ich bekomme hier nicht nur jeden Gottesdienst mit, in meinen Mauern lagern sich nicht nur Gebete ab, sondern auch so manches Gerede. Früher hat mich das ziemlich irritiert, aber ich bin im Laufe der Zeit gelassener geworden. Heute wird mein 125. Geburtstag gefeiert. Da ist es gut innezuhalten und einiges Revue passieren zu lassen. Alles fängt ja mit der Geburt an oder soll ich besser sagen mit der Zeugung?

Das war nämlich so: Die Evangelischen in Herzogenrath gehörten zur Evangelischen Kirchengemeinde Aachen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Gemeindeglieder in Herzogenrath. Einige von ihnen waren recht betucht. Sie gaben den Anstoß zum Bau einer evangelischen Kirche. Doch bis es soweit war, vergingen noch einige Jahre. Ein Bauplatz wurde gesucht. Für den Bau der Kirche in Herzogenrath schenkte der damalige evangelische Bergbaupionier und Bergwerksdirektor der Grube Nordstern in Merkstein, Carl Honigmann, der Aachener Gemeinde das Grundstück in der Geilenkirchener Straße. Ohne das geschenkte Grundstück stünde ich jetzt nicht hier an diesem Ort. Auch das für die Rheinprovinz zuständige königliche Konsistorium in Koblenz – ihr müsst wissen damals gab es für die Evangelischen Kirchen in der Leitung noch keine Trennung von Staat und Kirche – musste dem Kirchenbau zustimmen. Außerdem musste die Finanzierung geklärt werden. Und dann kam endlich das langersehnte Ja. Nach der Planung kam es zur Grundsteinlegung im August, im Jahr des HERRN 1897. Ein Reporter der Neuen Preußischen Zeitung schrieb damals: „Im langen Zuge, voran etwa 10 (evangelische) Pfarrer in Amtstracht, ein für die hiesige Gegend völlig fremder Anblick, zog die feiernde Gemeinde hinaus zum festlich geschmückten Bauplatz.“ (Festschrift S.29)

Wenn ich an meinen Anfang zurückdenke, wird mir bewusst, wie viele Menschen sich beharrlich engagiert haben, damit ich zustande kam. Und letztlich war es ein Geschenk, wie alles Leben ein Geschenk ist. Ich erblickte das Licht der Welt 1898 und wurde mit einem Gottesdienst im Oktober 1898 in den Dienst genommen. Ich war so stolz, und stellt euch vor auf dem Altar lag eine Altarbibel, ein handsigniertes Geschenk der Kaiserin Augusta Viktoria.  Diese Geburt war ein großes Ereignis für die Rodastadt an der Wurm, war ich doch das erste evangelische Gotteshaus unter vielen katholischen Gotteshäusern in Herzogenrath. Im Laufe der Jahrzehnte ist die Ökumene mit mir gewachsen.

Alles in allem, ein guter Anfang. Dafür bin ich dankbar.

Und dann kam die Zeit, in der ich gefüllt wurde mit vielen Menschen, die in mir ihre Gottesdienste gefeiert haben, ganz normale, aber auch die zu besonderen Festen wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit und auch Beerdigungen. „Kirche am Berg“ wurde ich genannt – und das bin ich für viele immer noch – bis heute, obwohl ich ja schon seit 20 Jahren „Evangelische Markuskirche“ heiße.

Aber zurück zu meinen Jahren als Jugendliche, sozusagen meine Sturm- und Drangzeit. Ich war schon ein schmuckes Kirchlein damals, wenn ich an die alten Fotos von mir denke. Und erst als ich fünf Jahre alt war, wurde die Kirchengemeinde Herzogenrath geboren. Immer mehr Evangelische zogen rings um mich herum und kamen gerne zu mir. Und dann kam der Boom als ich ungefähr im Konfirmandinnenalter war. Von etwa 300 Evangelischen war die Rede, aber schon 1914 wurden 1500 gezählt. Die hatten gar keinen Platz mehr in mir. Schließlich war ich ja klein. Und dann bekam ich im Mai 1931 meine kleine große Schwester in Streiffeld dazu. Jetzt waren wir schon zu zweit in Herzogenrath. Aber ich bin und bleibe die ältere. In Kohlscheid wurde schließlich 1933 meine kleine Schwester geboren. Allerdings war sie nicht so gut in Schuss und wurde in den 1960er Jahren durch das Lukas-Gemeindezentrum ersetzt.

Aber zurück zu mir. Im Dritten Reich wurde es schwer für mich. Aber Pfarrer Steinfartz hat auf mich und unsere Gemeinde aufgepasst. Er kam im Herbst 1934 und blieb 26 Jahre lang. Er hat sich durch die Deutschen Christen nicht unterkriegen lassen. Ja, ich weiß, er war Parteimitglied, aber seine Zugehörigkeit zur NSDAP hat sich in der Zahlung der Mitgliedschaftsbeiträge erschöpft. Darum durfte er auch nach dem Krieg bei mir bleiben.

Finanziell war es in den dreißiger Jahren auch nicht so dolle, denn meine beiden kleinen Schwestern kosteten ganz schön viel Geld, bis sie endlich geboren waren. Und es kamen immer mehr Menschen zu mir. Das war richtig schön in den Gottesdiensten und den Kindergottesdiensten jeden Sonntag. Ja, das Leben tobte so richtig. Aber dann kam ja der Zweite Weltkrieg. Aber auch da hatte ich Glück. Gottesdienst und kirchlicher Unterricht konnten trotz Fliegeralarm stattfinden, denn gleich neben mir war ein Bunker, in den alle laufen konnten, wenn Fliegeralarm war.

Aber dann im Herbst 1944 habe ich große Verletzungen erlitten. Der Dachreiter musste sogar ganz entfernt werden, Fenster und Kirchenbänke waren stark beschädigt und das Gemeindehaus im Hof war komplett zerstört. Aber unterkriegen lassen habe ich mich nicht. Und viele haben geholfen, dass ich wieder eine schmucke Kirche wurde, wenn ich nun auch vor allem von außen, aber auch von innen anders aussehe. Aber Leute, Ihr habt euch ja auch verändert im Laufe der Jahre. Und das ist gut so.

Ich jedenfalls bin froh, dass ich noch so fit bin, und dass mir dabei so viele geholfen haben, damit ich weiterhin ein Wahrzeichen hier am Berg bin.

Ihr wisst das ja, nach der Jugend, der Familiengründung und Konsolidierung im Berufsleben folgt die Midlife-Crisis. Eigentlich hört sie nie mehr auf, ständig müssen sich Mann und Frau neu erfinden, erste Verluste verschmerzen, einander aushalten und sehen wie ein Ideal nach dem anderen in den Niederungen des Alltags dahinschmilzt. Ähnlich ist das auch bei mir gewesen. Ihr müsst euch das mal vorstellen. Nach den umfangreichen Umbauarbeiten 1964/1965 mit der Erweiterung des Kircheninnenraums, der neuen Orgelempore und der Errichtung des Glockenturms, überlegte doch das Presbyterium Anfang der 1970er ernsthaft, mich abzureißen und an anderer Stelle eine neue Kirche mit Gemeindezentrum zu bauen. Ich war am Boden zerstört. Ich schwitzte Blut und Wasser und verstand die Presbyter nicht – damals wirklich alles nur ältere Männer(!) bis auf wenige Ausnahmen – aber: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Es wurde anders entschieden. Ich wurde nicht abgerissen – und neben mir entstand ein evangelisches Gemeindehaus – mmh… heute an K.I.D.S. , einem privaten Kitaträger vermietet – immer diese Veränderungen! Hört das denn nie auf?

Das Positive: Der Geist des Neuaufbruchs der 1968er wehte auch in der Kirche. Nach der Krise – was aus mir werden würde – kam es zur Neugestaltung des Innenraums mit Schwerpunkt neue Altargestaltung, neue Kirchenbänke und Kunst. Das war eine kontroverse Diskussion, kann ich euch sagen – und auch ich musste mich erst einmal mit der neuen Gestaltung anfreunden. Ich war ja eine überaus schlichte Kirche und – wie es sich reformiert gehört – aufs Wort ausgerichtet. Und auf einmal ein schwerer großer Granitaltar statt Abendmahlstisch, Fenster mit Passionsmotiven – bin ich katholisch oder was?! – und ein wuchtiges Hängekreuz – das geht doch gar nicht. Doch es wehte wie gesagt ein neuer Wind, gesellschaftlich und kirchlich. Und ich habe mich dran gewöhnt und im Laufe der Jahre habe ich mein neues Innenleben lieben gelernt: das Schöpfungsrelief und die Passionsglasfenster von Peter Paul Hodiamont, das Kreuz des Kölner Künstlers Kurt Wolf von Bories – das mich mit dem bronzenen Mose und der Bockreiterstatue in Herzogenrath-Mitte verband. Stammten diese beiden Exponate – der Mose ist ja leider geklaut worden – doch auch aus der Werkstatt von Bories.

Aber Kunst rettet auch nicht, gab es doch – es fällt mir gerade wieder ein – 2013 oder 2014 einen Beschluss des Presbyteriums, alle evangelischen Gebäude in Mitte und Kohlscheid aufzugeben, zu veräußern und an einem neuen Ort in ökumenischer Zusammenarbeit ein neues Kirchenzentrum aufzubauen. Aber: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Jetzt wird schon wieder überlegt, ob ich eine Zukunft habe und wie die aussehen könnte. Was soll ich machen? Wie gesagt, ich bin gelassener geworden und für mein Alter noch gut in Schuss…, zugegeben, wenn geheizt wird, bin ich nicht klimaneutral – Mensch, Mensch, Mensch, was man/frau/kirche heute nicht alles sein muss!

Wisst ihr, was ich mache? Ich mache das, was ich gelernt habe. Ich vertraue mich und meine Zukunft ganz der Fürsorge Gottes an. Gern öffne ich meine Pforten für Menschen, die in mir beten, singen, hören und tanzen wollen, und lass meine Glocken weiterhin kräftig läuten. Gern noch für mindestens weitere 125 Jahre – so Gott will.

Amen

Predigt Himmelfahrt 2023, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Foto aus der ehemaligen Abteikirche Essen-Werden, Christoph Fleischer 2023

„Nach diesen Worten wurde er vor ihren Augen emporgehoben.“  Apostelgeschichte 1,9a

Liebe Himmelfahrtsgemeinde,

heute feiern wir, dass Jesus Christus in den Himmel gefahren ist. Seine Sendung auf Erden hatte ein definitives Ende, mit seiner Auferstehung beginnt sein himmlisches Leben im Reich des Vaters. Dort im Himmel ist Gottes Herrschaft schon errichtet, auf Erden aber noch nicht. Daher fragen ihn seine Jüngerinnen und Jünger, wenn du zum Vater gehst, wird dann Gottes Herrschaft in Israel errichtet werden? Jesus antwortet ihnen: Dafür braucht ihr weder Zeiten noch Fristen zu kennen (V.7). Den Zeitpunkt hat allein der Vater festgelegt. Ihr aber wartet auf den Heiligen Geist, dieser wird euch mit Kraft erfüllen und euch den Weg weisen.

Das Fest der Himmelfahrt Jesu

Aus dieser Erzählung, die die Apostelgeschichte überliefert, ist das Fest Christi Himmelfahrt geworden. Mit der Himmelfahrt Jesu ist der Glaube verbunden, dass Jesus mit seinem Vater im Himmel regiert, das Reich Gottes schon aufgerichtet ist, und dass der Geist Gottes uns beten lehrt: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“

Reich Gottes, Es ist bereits da und wird doch noch erwartet

In dieser Spannung leben wir heute. Wir wissen, was Gottes Wille ist und wie wir leben sollten, aber wir tun es nicht. Wir können das Reich Gottes nicht aus eigener Kraft auf dieser Erde errichten, aber ernstlich anstreben und darum bitten, das ist unsere Aufgabe. Richtschnur unseres Handelns sind dabei die Gebote Gottes und das Leben Jesu. Das Reich Gottes ist schon mitten unter uns, und doch muss es immer wieder kommen, bis es sich an Jesu Wiederkunft vollends durchsetzt. Nicht mit Macht und Gewalt, sondern mit Liebe und einer neuen Sicht auf den Menschen und Gottes Schöpfung.

Heute beginnt das Himmelfahrtswochenende. Für viele eine Auszeit von Beruf und Verpflichtungen. Der Freitag wird als Brückentag genommen und viele fahren ins Blaue, genießen das frische Grün und den malzigen Maibock.

„Himmelfahrtskommando“ – Warum dieses Wort wieder aktuell ist.

Für Soldaten und Söldner am Dnipro setzt sich aber am Himmelsfahrtwochenende das Himmelfahrtskommando fort. Sie werden in den Krieg geschickt, Rückkehr mehr als ungewiss. Viele Tausende sind schon im Russland-Ukrainekrieg gestorben, viele Familien bangen um ihre Söhne und Töchter. Für die einen sind es Heldinnen und Helden für das Vaterland, für die anderen bloßes Kanonenfutter.

Liebe Gemeinde,

leider kann ich Ihnen heute am christlichen Himmelsfahrttag, der doch unsere Hoffnung und Freude ausdrückt – dass Gott das Regiment hat – nicht verhehlen, dass statt eines weiten blauen Himmels, sich der Himmel verengt hat, statt der zwitschernden und paarungsbereiten Vögel an Kriegsorten die Drohnen ausschwärmen.

Immer noch nicht wurden unsere Gebete erhört, dass die Waffen niedergelegt werden und ernsthaft Friedensverhandlungen angestrebt werden, ja überhaupt gewollt werden. Es ist kein Wille zum Frieden da. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Das ist ein Skandal!

Wir haben uns an den Krieg gewöhnt. Im Reich Gottes aber gibt es keine Gewöhnung an Gewalt und Unrecht.

Warum wir an den Frieden glauben.

An Christi Himmelfahrt glauben heißt, sich nicht an den Krieg und die Waffenlieferungen zu gewöhnen, sondern sich an den Auftrag zu erinnern, dass es auf Erden sein soll wie im Himmel. Wir aber glauben an den Krieg. Wir glauben an die Macht des Stärkeren. Wir glauben – so falsch es klingen mag – dass der Friede allein durch Waffen hergestellt werden kann. Wer etwas anderes glaubt, liegt falsch, ist naiv und wird kurzerhand aus dem Diskurs ausgegrenzt und mundtot gemacht.

Liebe Gemeinde,

Christi Himmelfahrt ist kein verstaubtes Fest. Der Glaube an die Herrschaft der Liebe ist nichts für bürgerliche und romantische Gemüter, er ist so radikal wie Jesu Leben selbst.

Dieses Zeugnis Jesu sind wir der Welt schuldig, die wieder auf Gewalt, Rüstung und Militär setzt als gebe es kein Morgen.

Es ist derselbe Jesus, der in den Himmel gefahren ist, wie der, der auf Erden lebte. Es ist Jesus mit seiner Botschaft: „Liebet eure Feinde!“ Darin liegt schon der Keim der Überwindung der Institution des Krieges. Doch wer glaubt daran? So gut wie niemand.

Es ist nicht die große Zahl, die berufen ist, Jesus nachzufolgen und sein Kreuz auf sich zu nehmen. Doch ohne Nachfolgerinnen und Nachfolger, die Gewaltlosigkeit wie ihr HERR leben, sind die Gläubigen kein Licht und kein Salz mehr in dieser Welt.

Liebe Gemeinde,

ich will Ihnen den Himmelfahrtstag nicht versalzen, ich will auch nicht Salz in die Wunden streuen, ich will Geschmack auf das Salz der Himmelsherrschaft machen, dass unser Leben Würze bekommt, dass wir uns sehnen, dass der Himmel auf Erden kommt, und dass wir dem Frieden nachjagen.

Amen

Predigt „Wer teilt, gewinnt.“ (Joh 6,1-13) Konfirmation am 6. und 7. Mai 2023 in der Markuskirche, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Bronzekreuz (Quelle:http://www.Christliche-Kunst-Bauer.de , der eigentliche Rechteinhaber ist unbekannt)

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Festgemeinde,

bei der Einsegnung wird euch ein Bronzekreuz umgehängt. Darauf sind fünf runde Brote und zwei Fische zu sehen und die Worte: „Wer teilt, gewinnt“ treten reliefartig hervor. Das Kreuz fand ich von Anfang an für euch Konfirmandinnen und Konfirmanden schön: eine handfeste und bleibende Erinnerung an eure Konfirmandenzeit in der Lydia-Gemeinde und an eure Einsegnung. Mit den Worten habe ich mich schwerer getan, da sie für mich etwas zu einfach die christliche Botschaft auf den Punkt bringen. Sie klingen für mich, wie die zahlreichen Titel der in jeder Bahnhofsbuchhandlung erhältlichen Ratgeberliteratur oder die vielen moralisierenden Appelle, die uns in den Medien täglich präsentiert werden. Was wir nicht alles zu tun oder zu lassen haben! Davon ist euer Leben eh schon geprägt, und je sensibler ihr veranlagt seid, desto mehr wächst der Erwartungs- und Anpassungsdruck.

Moralisierender Zeitgeist

Wir sind nicht erst seit Corona – und diese Zeit mit den vielen Einschränkungen und Verunsicherungen hat euch ganz schön gebeutelt – zu einer sehr moralisierenden Gesellschaft geworden. Um überhaupt einigermaßen den Durchblick zu behalten, werden komplexe Zusammenhänge zunehmend vereinfacht, und längst überwunden geglaubtes Schwarz-Weiß-Denken ist mit Macht zurückgekehrt. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht neue Sprach- und Denkverbote durch die Medien geistern, und viele haben das Gefühl, sich nicht mehr frei äußern zu können und sagen lieber nichts zu umstrittenen Themen. Gleichzeitig verbreitet sich das Phänomen, bekenntnishaft durch Sprache und Handeln zu zeigen, ich stehe auf der guten und richtigen Seite. Wir wollen zu den Guten gehören, die anderen aber liegen nicht nur falsch, sie handeln auch falsch und müssen deshalb permanent erzogen werden. Darunter leidet das Gespräch, das Aufeinander-Hören, der Austausch der Argumente und das, was uns alle miteinander verbindet: das Menschsein.

Narrative der Hoffnung contra Appellbotschaften

Was ist dem entgegenzusetzen oder wo finden wir in diesen verwirrenden Zeiten Orientierung und Hoffnung? Sicherlich nicht in Handlungsanweisungen, sondern in Geschichten, die uns Mut machen angesichts apokalyptischer Szenarien, die an die Wand gemalt werden und inzwischen fast in jeder Nachricht vorkommen. Wir leben von den tradierten großen Geschichten und Erzählungen – manche stehen neuerdings wieder auf einem ungeschriebenen und sich stets erweiternden Index, weil sie angeblich ein Menschenbild transportieren, das heute nicht mehr tragbar ist. Wir leben aber von Erzählungen, die weitererzählt werden. Sie enthalten Wesentliches, das weit über die Vernunft oder einer reinen Pflichtethik hinausgeht. Erzählungen sind menschlich und sie sprechen zu uns als Menschen, ob sie nun Märchen, Mythen oder biblische Geschichten sind.

 Essen und Trinken stiftet Gemeinschaft

Die Erzählung von den fünf Broten und den zwei Fischen ist dafür ein gutes Beispiel. Es wird von einer großen Mahlzeit berichtet. Menschen lassen sich nieder und teilen das, was sie empfangen haben. Wer miteinander isst, kommt sich nah. Kaum etwas schafft so viel Vertrauten und Gemeinschaft, wie gemeinsames Essen und Trinken. Und wenn wir ein Fest planen, nimmt das gemeinsame Essen und Trinken einen großen Platz ein. Alles will gut vorbereitet sein. Die Einladenden sind angespannt, ob es auch gut schmeckt und das Gespräch in Gang kommt. Ist es ein gelungenes Fest, überkommt die Gastgeberinnen und Gastgeber ein wohliges Gefühl. Die Gemeinschaft ist gestärkt und erneuert worden.

Mit Jesus wird es ein gelungenes Fest. Auf wundersame Weise wird der Mangel gestillt. Alle werden satt. „Nur auf Wunder ist Verlass“, dichtet Mascha Kaléko und sie hat recht. Denn wir können noch so viel tun, noch so gut ein Fest vorbereiten und an alles denken, ob es aber ein schönes Fest wird, liegt nicht in unserer Hand.

Gesegnete Mahlzeit

Die Mahlzeit von der Johannes berichtet, ist mehr als eine Mahlzeit. Sie weist über sich hinaus. Sie steht für ein gelingendes Leben. Die fünf Brote und zwei Fische werden zu Symbolen der Hoffnung. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“(Mt 4,4)

Das Gemeinschaftsmahl beginnt mit einem Gebet. Jesus empfängt die fünf Brote und die zwei Fische von einem Kind und dankt Gott dafür. Gott ist mit im Spiel. Gott ist der Geber aller guten Gaben. Das auszudrücken und diesem eine Gestalt zu geben ist Religion. Das ist der Mehrwert eines Lebens aus dem Glauben und aus dem Vertrauen, dass Gott es gut machen wird.

Oder, um es anders zu beschreiben: Im Glauben geschieht eine Hinwendung zu dem Urgrund allen Lebens und gleichzeitig eine Erfahrung, miteinander verbunden zu sein und aufeinander zu achten. Die Verbindung mit Gott, verbindet uns mit allem, was lebt. Erst dann entfaltet der Satz: „Wer teilt, gewinnt“ seine religiöse Tiefendimension.

Alles Leben ist Hingabe

Alles Leben ist Hingabe. Die frühen Kirchenväter und -mütter haben sich das so vorgestellt: Die Schöpfung ist aus dem Überfließen der Energie Gottes und seiner Sehnsucht nach einem Gegenüber entstanden. Und wenn der Mensch selbst von dieser Energie erfasst wird, dann antwortet er mit seinem Leben selbst, mit Hingabe und Liebe. Der Mensch wird selbst zur Schöpferin und zum Schöpfer des Guten und erlebt sich als Teil eines Ganzen.

Ihr werdet heute eingesegnet, mit der Kraft Gottes verbunden. Ihr werdet beauftragt mit euren Fähigkeiten selbst schöpferisch tätig zu sein. Das ist ein überaus spannender und auch ambivalenter Prozess, da wir Menschen sind. Wir können nicht nur Gutes schöpfen, wir können auch zerstörerischen Kräften in uns Raum geben; wir können durch viele äußere Ursachen und Einwirkungen auf unserem Weg stecken bleiben oder uns verlaufen; wir können versucht und verführt werden; wir können auch eine Zeitlang gar nicht wissen, was wir wollen, oder abschätzen, ob das, was wir tun, gut ist für uns und andere.

Die Erzählung von den fünf Broten und den zwei Fischen gibt uns aber Hinweise, wie ein erfülltes Leben trotz Mangel gelingen kann.

In der Gemeinschaft bleiben

Das Wichtigste in eurem Leben sind zurzeit eure Freundinnen und Freunde. Das ist das Feld, wo ihr euch ausprobiert, wo ihr unglaublich viel über euch selbst und auch über euch selbst lernt. Hier seid ihr verletzlich und es schmerzt riesig, wenn Freundschaften zerbrechen oder ihr spürt, ihr gehört gar nicht mehr richtig dazu. Hier seid ihr aber auch stark und habt Erlebnisse, die euch glücklich machen. Das sind die kleinen und großen Geschichten, die ihr euch erzählt.

Auch wenn es nicht so läuft, wie ihr es euch wünscht, zieht euch nicht zurück, wagt es weiter Freundschaften einzugehen, euch mitzuteilen, euch auszudrücken, von euch zu erzählen was euch wirklich bewegt. Und wenn es nicht mehr passt, sucht neue Kontakte, bleibt nicht an der Oberfläche, tauscht euch über Wesentliches aus.

Oft begleitet euch unterschwellig die Angst, nicht gemocht zu werden. Wisst ihr, diese Angst hat jede und jeder. Haltet ein wenig aus und ihr werdet merken, dass ihr so wie ihr seid, dazu gehört. Und wenn ihr das Gefühl habt, ihr gehört nicht mehr dazu oder ihr müsst euch so sehr anpassen, dass ihr euch verbiegt und ein schlechtes Gewissen habt, dann ist es Zeit, sich von einer Gruppe oder einer Person zu trennen.

Sich hingeben

Ihr habt von der Erfahrung berichtet, dass ihr euch selbst vergesst, wenn ihr euch einer Aufgabe, einem Menschen oder einem Tier ganz widmet. Dann erfahrt ihr eine Resonanz, die euch spüren lässt, hier bin ich genau richtig. Das ist Glück. Glück hat mit sich selbst geben und sich selbst empfangen zu tun.

Wer teilt, gewinnt. Wer sich mitteilt, gewinnt. Wer etwas von sich gibt, bekommt mehr zurück als er gibt. Lasst euch aber nicht ausnutzen. Das merkt ihr daran, wenn ihr ausgesaugt und ausgelaugt seid.

Christus hat sich uns hingegeben, auf eine Weise, die uns noch heute glücklich macht. Wenn ihr gleich Brot und Wein empfangt, werdet ihr das spüren.

Amen

 

Joachim Leberecht, Karfreitagspredigt 2023, Herzogenrath 2023

 

Ich bin der wahre Weinstock Johannes 15,1-5+8-16

Predigttext            :

Der wahre Weinstock

1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. 2 Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. 3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

8 Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.

Das Gebot der Liebe

9 Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe. 11 Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. 13 Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. 14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. 15 Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.

Vom Bleiben in der Liebe

Liebe Gemeinde,

was ich euch heute sage ist ein Geheimnis, gerichtet ganz allein an Jesu Jüngerinnen und Jünger. Wir können uns das gar nicht mehr vorstellen, weil wir die Worte Jesu aus dem Johannesevangelium schon oft gehört haben, aber vielleicht begreifen wir etwas mehr von dem Geheimnis oder nähern uns ihm erneut an, wenn wir von Freude und Liebe erfüllt werden.

Wenn wir uns die Ich-Bin-Worte Jesu in ihrer Reihenfolge anschauen, können wir eine Steigerung feststellen.

In den ersten fünf Ich-Bin-Worten wendet sich Jesus an alle Menschen. Er macht seinen Anspruch geltend und fast traditionelle Bilder und Hoheitstitel, wie etwa Christus oder Sohn Gottes weiter als die synoptischen Evangelien. Johannes entwickelt die Christologie weiter und umfassender. Es sind ja gerade die starken Bilder, die Jesus selbst benutzt, die uns ansprechen und die immer wieder neu in uns lebendig werden. Sie sind Stützpunkte und Sehnsuchtsbilder für unseren täglichen Glauben. Jesus verheißt mit ihnen Lebensgewinn, ja Sinn.

  1. Ich bin das Brot – Einladung

Wer zu Jesus kommt, wird satt.

  1. Ich bin das Licht der Welt – Ruf in die Nachfolge

Wer von Jesus gekostet hat, kann die Entscheidung treffen, ihm nachzufolgen.

  1. Ich bin die Tür – Konversion

Wer Jesus nachfolgt, tritt in einen neuen Raum ein.

  1. Ich bin der gute Hirte – gemeinsam unterwegs

Wer Jesus folgt, hört auf seine Stimme.

  1. Ich bin die Auferstehung – Teilhabe am ewigen Leben

Wer Jesus glaubt, hat schon heute Teil am ewigen Leben.

Nach diesen fünf Ich-Bin-Worten wendet sich Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern zu. Jesus teilt sich ihnen in besonderer Weise mit. Es sind seine letzten Worte, bevor er am Kreuz erhöht wird und zu seinem Vater geht. Es sind Worte in einer Situation von Trauer und Angst. Es sind sehr intime Worte. Beide Ich-BIN-Worte haben seine innige Verbindung mit dem Vater zum Inhalt. Diese Einheit mit seinem göttlichen Vater wünscht sich Jesus auch mit seinen Jüngerinnen und Jüngern damals und heute. Nach seiner Erhöhung am Kreuz ist das das Bleibende in der Beziehung zu denen, die zu Jesus gehören.

Daher sagt Jesus uns heute am Karfreitag:

  1. Ich bin der Weg – zum Vater

Ich bin der Weg zu Gott dem Vater. Mein Weg führt jetzt über das Sterben in die Gemeinschaft mit dem Vater. Ich kenne keinen anderen Weg. Dieser Weg ist auch für euch der einzige Weg.

  1. Ich bin der wahre Weinstock – mein Vater der Weingärtner

Das siebte ICH-BIN-WORT: Ich bin der wahre Weinstock zeigt auf, wie die Beziehung zu Jesus gelebt werden kann, was der Grund der Beziehung ist und was die Aufgabe derer ist, die erkannt haben, dass Jesus das wahre und ewige Leben ist.

Vertraut darauf: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Dieses Bild prägt sich tief ein. Jesus, der wahre Weinstock, der Vater der Weingärtner und die mit Jesus verbundenen sind die Reben.

Das Gleichnis aus der Natur ist ein altes biblisches Bild. Jesaja hat eindrücklich darüber ein Weinberglied gedichtet. (Jesaja 5,1-7) Gott hat diesen Weinberg angelegt, aber der Weinberg ist verwildert und bringt keine Frucht. Das Weinberglied ist eine prophetische Zustandsbeschreibung zur Zeit Jesajas für das Volk Gottes (Israel). Gott „wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei und Schlechtigkeit“(V.7), wie Luther lautmalerisch das Hebräische ins Deutsche überträgt. Jesus greift diesen bekannten Vergleich auf und transformiert ihn auf die Beziehung zu seinen Jüngerinnen und Jüngern.

Bei Jesus geht es nicht um eine Frucht, die alles aus sich selbst leisten muss. In dem so oft missverstandenen Wort: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (V.5b) liegt gerade nicht eine Beschneidung der Autonomie des Menschen, sondern für den Menschen, der mit Jesus verbunden ist, liegt darin eine große Freiheit, eine Freude, ein am Lebensstrom und der Kraft Jesu angeschlossen sein. Ja, sogar ein Wechselspiel der Kräfte im gesamten Organismus Weinstock:

„Ein Weinstock ist kein Weinstock, wenn er nicht in seinen Blättern atmen kann, und er findet seine Erfüllung nicht, wenn er nicht Frucht ansetzt, sich weiterzuzeugen. Die Reben sind nicht das Produkt des Weinstocks, sie sind die Art, wie der Weinstock selbst lebt; ohne sie wäre er selbst buchstäblich nichts.“ (Eugen Drewermann, Das Johannesevangelium, Zweiter Teil, Seite 154)

Einheit mit dem Weinstock

Es ist die lebendige Einheit mit dem Weinstock, die die Reben reifen lässt und umgekehrt. Auch der Weinstock braucht die Reben. Das ist das Geheimnis, das Jesus den Seinen anvertraut. Der Weingärtner beschneidet die Reben, dass sie mehr Frucht bringen. Alles, was keine Frucht bringt, wird weggeschnitten und anschließend verbrannt. Wenn wir das ganze Bild vom Weinstock, Reben und dem Weingärtner auf uns wirken lassen, wird uns die Schönheit dieses Bildes guttun. Wir sind, wenn wir bei Jesus bleiben, am göttlichen Lebensstrom angeschlossen und mehren ihn.

Wer so nah am Lebensstrom ist, lebt gefährlich. Die größte Gefahr und das größte Übel sind in der christlichen Religion immer von den Menschen ausgegangen, die sich selbst mit dem Weingärtner verwechselt haben, statt einfach sich am Weinstock und Jesu Vorbild zu halten.

Was aber nun ist die Frucht, die die Reben hervorbringen? Natürlich der Wein, der Freude schenkt. Jesu Gleichnis geht aber über das ästhetische Verständnis weit hinaus, obgleich wir bei der Freude schon richtig liegen. Schon Johannes gibt im Gespräch Jesu mit der Samariterin im vierten Kapitel seines Evangeliums eine Deutung der Frucht. „Wer erntet, empfängt Lohn und sammelt Frucht zum ewigen Leben, auf das sich miteinander freuen, der da sät und der da erntet.“ (Joh 4,36)

Die Liebe ist die reife Frucht

Jetzt, ja erst jetzt, kommen wir zum Höhepunkt des Gleichnisses vom Weinstock und den Reben. Es ist recht gesehen eine echte Karfreitagsbotschaft: Freude in und an der vollkommenen Liebe. Die Liebe ist die reife Frucht, die Freude bringt.

Jesus liebt seine Jüngerinnen und Jünger: „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch.“ (Johannes 15,9) Das sagt er nur ihnen, der kleinen Schar. Im Johannesevangelium ist Jesus mit Worten über die Liebe sehr sparsam, aber ohne die Liebe Gottes zur Welt: „Und also hat Gott die Welt geliebt“ (3,16a) ist Jesu Sendung in die Welt nicht zu verstehen. Und Jesus ist nicht zu verstehen ohne seine Liebe zu den Seinen. Jesus setzt auf Liebe. „Bleibt in meiner Liebe!“(V.9) „Das habe ich zu euch gesagt, dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde.“(V.11)

„Ihr seid meine Freunde!“(V.14a) „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“

Karfreitag.

Und Jesus geht sogar noch einen Schritt weiter. Er gibt seinen Jüngerinnen und Jüngern ein neues Gebot mit auf den Weg. Eine Weisung, wie sie leben sollen. „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.“ (V.12)

Es geht um Gemeinschaft. Um dazugehören. In dieser Gemeinschaft gilt nicht mehr Herr und Knecht, da ist jeder Statusunterschied aufgehoben, das ist wahre Egalität, da dient einer dem anderen, da lässt sogar einer für den anderen sein Leben, da ist der Unterschied zwischen Gott und Mensch aufgehoben. In der wahren Liebe ist nichts Trennendes mehr.

Amen

 

Literatur:

Eugen Drewermann: Das Johannes Evangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Verlag Patmos, 2003, S.134-150

Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloher Verlagshaus, Dritte durchgesehene Auflage 2003, S. 261-278

Predigt Christvesper 2022 in der Markuskirche, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

 

Krippe Franz Sales Haus, Essen, Detail

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden.“ (Lukas 2,14)

Liebe Heilig-Abend-Gemeinde,

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden“ (1) singt die Menge der himmlischen Heerscharen, lobt und preist Gott für die Geburt des Heilands der Welt. Zu Weihnachten gehört das Gloria, das Einstimmen in den Lobgesang der Engel, das Emporheben der Herzen, die Anbetung, die Freude, das Staunen. Ich will mir diese Weihnachtsfreude, dass Gott in Jesus zur Welt kommt, nicht nehmen lassen – trotz allem. Zu Weihnachten gehört das Gloria, aber auch das Kyrie: Weihnachten wirkt tiefer, wenn wir es nicht nur als oberflächliche Idylle erleben, sondern auch in die Abgründe blicken.

Weihnachten ist ein menschliches Fest

Weihnachten ist ein menschliches Fest, das einen göttlichen Ursprung hat. Die menschliche Sehnsucht nach Frieden findet im Weihnachtsfest eine Verdichtung und Zuspitzung, als hätte sich der himmlische Friedensgruß „Frieden auf Erden“ ins menschliche Gedächtnis verheißungsvoll eingenistet. Die Spannung – dass kein Frieden auf Erden ist – bleibt und ist Teil des Festes: das Schon-Jetzt – wir feiern Weihnachten und das Noch-Nicht: Frieden auf Erden.

Weihnachten ist ein Familienfest

Was heißt das für uns, die wir heute Weihnachten feiern? Weihnachten ist bekanntlich heute ein Familienfest. Schon das Narrativ der Heilige Familie facht, seit im frühen 4. Jahrhundert nach Christus Weihnachten zunächst schlicht im Gottesdienst zum Lob Gottes gefeiert wurde, die Familienidylle und die damit verbundenen Komplikationen an.

In der Regel freuen wir uns auf diese besondere intensive Zeit mit der Familie, auch wenn die Vorbereitung jede Menge Stress macht und wir fürchten, wieder nicht das richtige Geschenk besorgt zu haben für die Person, die doch so sehr auf unseren Liebesbeweis hofft. Ein wenig Enttäuschung ist schon im Fest eingepreist, aber wir müssen uns schon ordentlich zusammenreißen, dass es auch richtig schön wird und das Fest nicht kippt. Ach, immer diese Ambivalenzen, kann es nicht einfach mal nur schön sein?

Wer nicht bedürftig ist, braucht Weihnachten nicht

Je älter ich werde, desto mehr liebe und fürchte ich Weihnachten. Ich liebe es mit der Familie zusammen zu sein, ich fürchte aber auch bei aller festlichen Kleidung mein Nacktsein, diese besondere Verletzlichkeit über den Weihnachtstagen: das Festgelegt-Sein auf bestimmte Rollen, das Aufbrechen von schmerzhaften Brüchen meines Lebens, aber auch das Gefühl des Überfordert-Seins, dass ich mehr bei den anderen bin und mich gar nicht mehr recht spüre.

Es tut mir gut, mich dann an die Weihnachtsbotschaft zu erinnern. Mein Frieden ist mir durch Gott geschenkt und nicht von meinen Stimmungen oder Bemühungen abhängig. Der Frieden, den mir Gott schenkt, ist durch nichts gefährdet. Daher entfaltet die Weihnachtsbotschaft ihre größte Kraft und Freude bei denen, die bedürftig sind. Wer nicht bedürftig ist, braucht Weihnachten nicht – und wer Gottes nicht bedürftig ist, versteht den Sinn des christlichen Weihnachtsfestes nicht.

Ich nehme wahr: Meine Verletzlichkeit, mein Nackt-Sein über die Weihnachtstage korrespondiert mit der Verletzlichkeit des hilfsbedürftigen Kind Gottes in der Krippe und darf sein, ist vielleicht sogar fruchtbar und heilsam, da ich mit meinen Bedürfnissen in Berührung komme. Wenn Gott schon (zunächst) hart am Holz der Krippe aufschlägt, schutzbedürftig wird, wieviel mehr darf ich menschlich sein mit allem was dazugehört, besonders der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Wie sehr darf ich aber auch Vertrauen wie ein Kind und gewiss sein: Ich bin angenommen.

Weihnachten heißt einander Frieden wünschen

Ach, ihr Lieben, wir wissen es doch: Es geht an Weihnachten nicht um Perfektion, nicht um das Abspalten von Gefühlen, nicht um einen romantisch-kitschigen Familienfrieden, sondern um Annahme, um Sein-Dürfen, dass wir uns einander in die Augen schauen und einander Frieden wünschen, ja wieder miteinander Frieden schließen, unser Verhältnis erneuern oder zumindest die Kraft spüren, die wir einander schenken, dass wir zusammenstehen, dass wir zusammen gehören, selbst wenn uns wesensmäßig Welten oder in echt hunderte von Kilometern trennen. Weinachten ist immer wieder Aufbruch, Erneuerung hin zu Versöhnung und Frieden, auch mit der eigenen Lebensgeschichte, vielleicht sogar ein Einstimmen in das, was unverfügbar ist, was wir gar nicht annehmen wollen, was aber so viel Kraft bindet und ein bejahendes Leben verhindert.

Jedenfalls gehen diese manchmal für nicht mehr möglich gehaltenen Wunder von Gott mithilfe des Festes aus. So hält Gott uns die Hand hin, dass Frieden werde.

Weihnachten reicht in die Gemeinschaft der Völker hinein

Der Frieden aber, den Gott uns an Weihnachten hinhält, geht weit über die Familie hinaus, reicht in die Gesellschaft und in die Gemeinschaft der Völker hinein.

Kennen Sie die Erzählungen von Weihnachtsfesten an der Front im ersten Weltkrieg, wo belgische, englische und deutsche Soldaten ihre Waffen in den Schützengräben liegen ließen und stattdessen Zigaretten, Baguette und Wein miteinander teilten? Nach den Weihnachtstagen wurden ganze Einheiten von ihren Befehlshabern von der Front abberufen, denn sie wollten nicht mehr töten. Die Kampfesideologie und das sinnlose Töten wurden durch die menschlichen Begegnungen unterlaufen. Ja, Gott „stürzt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ (Magnificat)

Werden die Waffen schweigen?

Das orthodoxe Weihnachtsfest naht am 6. Januar. Werden da die Waffen auf beiden Seiten in der Ukraine schweigen? Wird unser westliches Weihnachtsfest und das orthodoxe Weihnachtsfest mit dem göttlichen Friedensgruß: „Frieden auf Erden“ noch Widerstand bei den Soldatinnen und Soldaten gegen das sinnlose Töten mobilisieren und die verstockten Herzen der Herrschenden zur Waffenruhe bewegen? Zu einer Waffenruhe, die den Boden bereitet zu ernsthaften Friedensverhandlungen aller beteiligten Kriegsparteien?

Dieses Weihnachtsfest führt uns mehr denn je vor Augen, wie zerrissen Europa ist. Weggucken und Wegducken helfen da nicht. Einzig und allein hilft dem anderen Frieden zu wünschen. Ist das nicht zusammengefasst die Botschaft, die Jesus von Nazareth gelebt hat?

Wir können heute und über den Weihnachtsfestkreis hinaus, uns mit unseren Gebeten und unserer Haltung für Frieden(sverhandlungen) einsetzen.

Lasst uns trotz und in allem kräftig und freudig feiern und einstimmen in das Lob der Engel:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden.“

Amen

1 Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden

Sprachlich und vom antiken Denken her ist das einfach ein Gruß, gewiss ein besonderer Gruß, ein performativer Sprechakt, der bewirkt, was er aussagt und den Frieden auf Erden bringt. Gott kommt in guter Absicht und wünscht der Erde nichts sehnlicher als Frieden. Mit der Erde ist mehr als die Menschenwelt gemeint, Frieden auf Erden kommt zu der gesamten Schöpfung. Himmel und Erde werden spirituell unterschieden und sind aufeinander bezogen. Das können wir – selbst wenn wir dem antiken Weltbild und seinem Denken nicht mehr angehören – verstehen, beten wir doch mit Jesus im Vater unser: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“  Auch wenn der Himmel nicht in irgendwelchen Schichten des Weltalls zu lokalisieren ist und auch der himmlische Vater nicht mit Rauschebart über den Wolken thront, haben wir mit unserem „schwachen Glauben“ Zugang zu der Wahrheit des Himmels und der göttlichen Wirklichkeit.