Viktor Frankl Gleichnisse, hrsg. von Christoph Fleischer. Werl 2009

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Aus: Der Seele Heimat ist der Sinn. Logotherapie in Gleichnissen von Viktor E. Frankl Zusammengestellt und kommentiert von Elisabeth Lukas, Kösel Verlag München 2005
Im folgenden Text werde ich nur einige der von Elisabeth Kösel im o.g. Buch gesammelten Gleichnisse vorstellen, und zwar soweit diese mit dem Begriff vom schwachen Glauben in beziehung gesetzt werden können. Diese Gleichnisse machen deutlich, was Viktor Frankl unter Sinn versteht und was dieser mit der Religion zu tun hat. Schon der Gebrauch des Wörtchens Sinn in der Psychotherapie ist ungewöhnlich, vermutet man dieses doch eher in der Religion oder in der auf Philosophie basierenden Lebenskunst. Aber in dem er dem Wort Sinn gerade auf dem psychotherapeutischen Hintergrund einen praktisch nachvollziehbaren und auch therapeutisch durchführbaren Sinn gibt, geschieht doch Grundlegendes. Genau genommen gibt er in einer säkularen Zeit der Religion ein Wort zurück, dass er über die Philosophie erhalten hat.
Somit ist Viktor Frankl im Zusammenhang des schwachen Glaubens als säkulare Ausdrucksweise von Religion zu nennen, indem er die Funktion der Religion einfach zurückführt auf den Umgang mit der Suche nach dem Sinn und dieser damit einen säkularen Sinn gibt. Dies müsste anhand einiger Texte von Viktor Frankl näher zu untersuchen sein, wozu ich eine Rezension des Buches „Der unbewusste Gott“ schreiben werde.
Papiertütenherstellung (s.o. S. 187):
Stelle ich mir zur Aufgabe, Papiertüten zur Verpackung einer Ware herzustellen, dann werde ich hierzu eine gewisse Intelligenz benötigen, die immerhin so gering ist, dass ich etwa auch einen Idioten, den ich in einer Irrenanstalt im Sinne der Beschäftigungstherapie behandle, mit dieser Aufgabe betrauen kann. Stelle ich mir hingegen zur Aufgabe, eine Maschine zu konstruieren, welche die Herstellung dieser Papiertüten selbsttätig bewerkstelligen soll, dann werde ich jedenfalls eine Intelligenz von wesensverschiedenen höherem Grade dazu benötigen, um diese Maschine zu konstruieren.
Analog steht es nun mit der sogenannten Weisheit der Instinkte: Es gibt bekanntlich eine Käferart, deren Weibchen aus Blättern in bestimmter Weise (gemäß einer „irrationalen“ Kurve, die selbst Mathematikern Kopfzerbrechen verursacht) Stücke herausschneiden, die sie zu Tüten rollen, in denen sie ihre Eier sicher ablegen können. Müssen wir uns da nicht fragen: Ist schon die Leistung dieses so „weisen“ Instinkts erstaunlich – wie unvergleichlich höheren Rang muss erst jene Weisheit haben, die doch diesen Instinkt gleichsam gestiftet hat? … Wir sehen also, wie der Instinkt, auch der moralische: das Gewissen, übe sich und aus der Immanenz hinaus, in eine Transzendenz weist.
Das kleine und das große Feuer (s.o. S. 191):
Auf Grund beruflicher Erfahrung und persönlicher Erlebnisse wage ich zu sagen, dass für die überwiegende Mehrheit gläubiger Konzentrationslager-Insassen Gott „nicht gestorben ist“, womit ich der Aussage eines amerikanischen Rabbiners entgegentrete, dessen Buch „After Auschwitz“ uns das Gegenteil glauben machen will (er war ja nicht in Auschwitz). Wie ich es sehe, ist der Glaube an Gott entweder ein bedingungsloser, oder es handelt sich nicht um den Glauben an Gott. Ist er bedingungslos, so wird er standhalten, wenn sechs Millionen dem Holocaust zum Opfer gefallen sind, und ist er nicht bedingungslos, so wird er angesichts eines einzigen unschuldigen Kindes, das im Sterben liegt, aufgeben: denn handeln können wir mit Gott nicht, wir können nicht sagen: Bis zu sechstausend oder von mir aus einer Million Holocaust-Opfer erhalte ich meinen Glauben an dich aufrecht; aber von einer Million an aufwärts ist nichts zu machen, und – es tut mir leid – ich muss meinen Glauben an dich aufkündigen.
Die Fakten sprechen dafür, dass sich ein Aphorismus von La Rochefoucauld bezüglich der Auswirkung der Trennung auf die Liebe variieren lässt: Gleich dem kleinen Feuer, das vom Sturm gelöscht wird, während das große Feuer von ihm angefacht wird, wird der schwache Glaube von Katastrophen geschwächt, während der starke Glaube aus ihnen gestärkt hervorgeht.
Echolotung im Ozean (s.o. S. 199)
Wenn man die Tiefe des Meeresbodens an irgendeiner Stelle des Ozeans bestimmen will, dann pflegt man eine sogenannte Echolotung vorzunehmen. Sie ist nichts anderes als die Urform des Radar-Prinzips. Es werden Schallwellen gegen den Meeresboden hin ausgesandt und die Zeit gemessen, die bis zum Eintreffen eines Echos verstreicht.
Nun: Die Metaphysiker wollen dem Dasein ebenfalls „auf den Grund kommen“. Aber das Dasein ist bodenlos. Und all unser Fragen nach dem letzten Seinsgrund, gerade nach ihm, findet keinen Widerhall im grenzenlosen Ozean des Seins. Aber es kommt alles darauf an, diesen Tatbestand richtig zu deuten und sich zu fragen: Ws wäre das denn für ein Absolutes, das so ohne weiteres uns Rede und Antwort stünde? Und was wäre das für eine merkwürdige Unendlichkeit, an deren endlichen Grundmauern sich die Stimme brechen sollte, mit der unsere letzten Fragen hinaus gesandt werden in den unendlichen Seinsraum? Wir wissen: Vom unendlich fernen, unendlich tiefen Grund des Seins her wird uns nur dann keine Antwort zu teil, wenn wir unsere Fragen – richtig adressiert haben. Denn dann bleiben wir gerade deshalb ohne Antwort, weil unsere Fragen – das Unendliche erreicht haben.
Wolken am Himmel (s.o. S. 201)
Die Kluft, um nicht zu sagen der Abgrund, zwischen dem jeweils Symbolisierenden und dem jeweils zu Symbolisierenden macht sich am schmerzlichsten bemerkbar, wenn es um das Über-Sein geht. Und doch wäre es nicht gerechtfertigt, sich des Symbolisierens zu enthalten, darauf zu verzichten, nur weil das Symbol nie und nimmer koinzidieren kann mit dem von ihm Repräsentierten.
Denken wir doch nur an ein Gemälde, das eine Landschaft abbildet, über ihr den Himmel: Jeder Maler, zumindest jeder dem Realismus zugeneigte, wird uns den Himmel „Sehen lassen“, indem er einfach ein paar Wolken malt; aber sind denn die Wolken nicht gerade etwas, das nichts weniger als identisch ist mit dem Himmel? Ist es denn nicht so, dass Wolken etwas sind, das – mögen sie uns auch noch so sehr den Himmel sozusagen ahnen lassen – ihn dem (direkten) Anblick entzieht? Und dennoch werden sie als bestes und einfachstes Symbol für den Himmel verwendet. Und so wird denn im Allgemeinen auch das Göttliche symbolisiert mit Hilfe von etwas, das es nicht ist: Die göttlichen Attribute sind und bleiben bloß menschliche Eigenschaften – wo nicht gar allzu menschliche Eigenschaften …
Der Schmerz des Affen (s.o. S. 205)
Eines Tages stolpere ich in eine von meinem Assistenten Dr. K. veranstaltete gruppentherapeutische Sitzung hinein. Soeben bespricht die Gruppe den Fall einer Frau, der vor kurzem ihr elfjähriger Junge an einem Blinddarm-Durchbruch gestorben war. Die Mutter hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, und war daraufhin zu mir in die Klinik gebracht worden. Da schaltete ich mich ein: „Stellen sie sich einmal vor, einem Affen werden schmerzhafte Injektionen gegeben, um ein Serum gegen Poliomyelitis (Kinderlähmung) zu gewinnen. Vermöchte der Affe jemals zu begreifen, warum er leiden muss?“
Stimmeneinhellig erwiderte die Gruppe, nie und nimmer wäre der Affe imstande, den Überlegungen des Menschen zu folgen, der ihn in seine Experimente einspannt; denn die menschliche Welt ist ihm nicht zugänglich. An sie reicht er nicht heran, in ihre Dimension langt er nicht hinein. Woraufhin ich wieder an der Reihe war: „… und ergeht es dem Menschen anders, ist die Welt des Menschen eine Art Endstation, so dass er jenseits von ihr nichts mehr gäbe? Müssen wir nicht eher annehmen, dass die menschliche Welt selbst und ihrerseits überhöht wird von einer nun wieder dem Menschen nicht zugänglichen Welt, in der allein erst der Sinn seines Leidens zu finden wäre?“
Wie der Zufall es wollte, rekrutierte sich die Gruppe aus Teilnehmern, die durchwegs irreligiös waren; aber durch die Bank gaben sie zu, dass eine solche im Verhältnis zur menschlichen Dimension höhere Dimension, wenn schon nicht glaub-haft, so doch zumindest denk-bar ist, und dem Menschen ebensowenig zugänglich, wie dem Affen die menschliche Dimension.
Der unsichtbare Zuschauer (s.o. S. 210)
Was macht es aus, dass Gott unsichtbar, ein unsichtbarer Zeuge und Zuschauer ist? Der Schauspieler, der auf der Bühne steht, sieht ebensowenig, vor wem er da spielt: Er ist durch das Licht von Soffitten und Rampen geblendet, und der Zuschauerraum liegt im Dunkel. Dennoch weiß der Schauspieler darum, dass dort drunten im verdunkelten Raum Zuschauer sitzen – dass er vor Jemandem agiert. Nicht anders verhält es sich mit dem Menschen: Auf der Bühne des Lebens agierend, aber durch die vordergründige Alltäglichkeit geblendet, ahnt er trotzdem und immer schon – aus der Weisheit seines Herzens heraus – die Zeugenschaft des großen, wenn auch unsichtbaren Zuschauers, vor dem er verantwortlich ist für die ihm abverlangte Erfüllung eines konkreten und persönlichen Lebensinns.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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