Sinnerfahrung durch Religion, Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2013

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Zu: Joachim Kunstmann: Leben eben! Religion für Sinnsucher – eine Anleitung, Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 2013, ISBN 978-3-579-08156-4, Preis: 17,99 Euro

Die Grundhaltung dieses großartigen Buches von Joachim Kunstmann (Professor für Religionspädagogik in Weingarten) findet sich im letzten 20131025-202711.jpgKapitel „Meine unsakrale Religiosität“. Die „Rückkehr der Religion“ (so der Titel des letzten Buches vom Autor) findet dann statt, wenn sie in einer völlig anderen oder besser gesagt veränderten Gestalt erscheint. Religion ist demnach quasi ein menschliches Grundbedürfnis, das dem Denken einer Institution wie der Kirche nicht untergeordnet werden kann. Nicht die Gestalt des religiösen Verhaltens, sondern die Sinnerfahrung macht den Inhalt der Religiosität aus. Sinnerfahrung wird nicht nur geschenkt, sondern auch erlebt und erfahren und vielleicht sogar auch ein wenig erarbeitet.

Das Vorbild ist Jesus von Nazareth selbst, indem es orientiert an ein Bibelwort heißt: „Alle Religionen müssen dem Leben dienen.“ (S. 225). Im Gegensatz zur institutionellen Erwartung ist es dabei gerade richtig und angemessen, dass jede und jeder seinen/ihren eigenen Religionsstil entwickelt. Eine Grundlage dieser Konzeption ist die Wiederentdeckung der Mystik, nicht als religiöser Sonderweg oder Protesthaltung, sondern als die angemessene Antwort auf die (post-)moderne Frage nach Religion: „Die mystische Haltung sieht in allem Gott. In jeder Szene, die sich unter Menschen begibt, in jeder Wolke, in jedem vorbeifahrenden Auto vermag sie ihn zu sehen. … Alles Leben ist miteinander verbunden. Die mystische Haltung sieht die höchsten Möglichkeiten des Lebens. Es sind die Erfahrungen der Schönheit, der Liebe und des alles umfassenden Genusses.“ (S. 232)
Es hat überhaupt keinen Sinn, das Denken der Moderne zu ignorieren, sondern es ist sinnvoll, dieses in der Hinwendung zur Religion fruchtbar zu machen. Dabei lässt sich gerade in den religiösen Grundansichten der Bibel eine neue Sichtweise von deutlich geprägter religiöser Erfahrung wiederfinden. Am Ende jeden Kapitels findet sich dazu ein religiöser Praxisvorschlag: „In die Wüste gehen“, „Hören“, „Pilgern“ und „Askese üben“.
Die Religion ist eine Kraftquelle in den Erfahrungen von Sinnverlust und Erschöpfung. Es ist gar nicht abwegig, dass auch Kirche und Theologie solche Sinnerfahrungen ermöglichen. Sie müssen nur ihre Ressourcen anders nutzen und nicht in den Dienst der Institution, sondern in den Dienst an den Menschen und dem Leben selbst stellen. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst und nicht die Kirche. Die Religion ist vom Leben nicht zu trennen. Wer Religion als einen kirchlichen Sonderweg konstruiert, ist schon auf dem falschen Weg.
Doch Kirche wird auch neu zu entdecken sein. Beispielhaft steht dafür die Frage der Öffnung von Kirchentüren: Kirchen sollten geöffnet sein. Alle Kirchen sind Orte, in denen Gotteserfahrungen eingeübt wird. Das gilt nicht exklusiv, da „alle Orte für die Begegnung mit dem Heiligen“ geeignet sind (S. 97). Kirchen jedoch sind „Kraftorte“ zur Einübung religiöser Erfahrung (ebd.). Der Autor erinnert an die programmatische Titelformulierung durch Manfred Josuttis „Der Weg in das Leben“. Beim klerikalen und traditionellen Denken kann es geschehen, dass Religion ihren Lebensbezug verliert. Symptomatisch seinen dafür die verschlossenen Türen, so meint Joachim Kunstmann.
Es ist zu hoffen, dass sich dieses Handbuch der religiösen Erfahrungen auch im kirchlichen Bereich verbreitet und auch von denen gelesen wird, die die Hoffnung auf die Erneuerung der Kirche nicht aufgegeben haben. Hier schreibt einer, der sich nicht von den Defiziten des kirchlichen Denkens leiten lässt, sondern ihre oft verborgenen Ressourcen neu erschließt.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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