Zu: Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen, neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern, berlin university press in der Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-7374-1320-6, gebunden, 328 Seiten, Preis: 19,90 Euro
Wer mit dem Begriff des Antisemitismus hantiert, hat es mit verschiedenen Zeit- und Bedeutungsebenen zu tun. Orientiert man sich am politisch-rassistischen Begriff des 19. und 20. Jahrhunderts, so wird man die antisemitische Wirkung Luthers nicht verleugnen können, wie Dietz Bering zeigte (Dietz Bering: War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe, Berlin University Press Berlin 2014). Auch Donatella Di Cesare kommt in ihrem Buch über Martin Heideggers Antisemitismus in einem Kapitel zur Geschichte des Antisemitismus nicht umhin, diese Schrift Martin Luthers zu erwähnen. (Donatella Di Cesare: Heidegger, die Juden, die Shoah, Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 2016: Philosophie im Kontext – Heidegger im Licht des Antisemitismus, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2016)
An Luthers Text ist zweierlei auffallend. Zuerst wird es nicht überraschen, dass Luther überwiegend mit biblischen Gestalten und Überlieferungen argumentiert. Hier wird man genau hinzusehen haben. In dieser Hinsicht ist mir der Kommentar von Matthias Morgenstern zu knapp. Obwohl als judaistisch angekündigt, wird in dieser Hinsicht zu wenig erklärt.
Das Zweite, das auffällt, ist die durchweg polemisch aggressive Sprache Luthers, die man von ihm allenfalls aus der ersten Zeit der Reformation gegen seine Gegner kennt, die Anhänger des Papstes. Anstelle von Irrtümern oder einer einseitigen Auslegung spricht er, wie schon in der Überschrift angedeutet, von Lüge. Er unterstellt „den Juden“ Selbstruhm und Lob der eigenen Erwählung und meint, sie plagen Gott und zeigen so „… ihre rasende, tolle und törichte Unsinnigkeit“ (vgl. S. 7f). Dieser aggressive, wütende Grundton ist ein Cantus Firmus.
Das Judentum ist hier keinesfalls die Religion des Ursprungs der Bibel oder die älteren Geschwister der Christen, sondern ein Volk, das sich in der Nähe zu Gott gewiss ist. Anstelle sich mit allen Menschen als Kinder Abrahams zu verstehen, wird schon in der Abstammung von den Erzvätern verschieden bewertet und differenziert. Und genau hier beginnt Luthers Antisemitismus im Wortsinn. Denn Anti-Semitismus ist ein Begriff, der nicht nur der biblischen Sprache entlehnt ist, sondern sich auch von dort herleitet. Martin Luther schreibt: „Zugleich rühme ich mich, dass Japhet, der erstgeborene Sohn Noahs, auch mein rechter, natürlicher Großvater sei. … Denn wir Heiden sind alle von ihm //72// hergekommen, wie Mose sagt (Genesis 10,32). Und ebenso hat Sem, der andere Sohn Noahs, mit all seinen Nachkommen nichts aufgrund seiner Geburt gegen seinen älteren Bruder Japhet geltend zu machen.“ (S. 18). An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf den Kommentar. Nach Matthias Morgenstern bestätigen die biblischen Zeugnisse in den Genealogien diese Bewertung Japhets als des Erstgeborenen Noahs, zumal in der Septuaginta, der griechischen Bibelübersetzung des Alten Testaments (siehe: Anmerkung 73, S. 18). Die Aufzählung der Namen lautet hingegen „Sem, Ham und Japhet“, aus der aber keine Abstammungsreihenfolge abgeleitet wird. Auch der jüdische Exeget Raschi aus dem 11. Jahrhundert bestätigt die Bezeichnung Japhets als des Erstgeborenen. Laut Glossar hat Luther dieser Kommentar vorgelegen, er ist also davon abhängig. Der Kommentar Morgensterns zeigt in kritischer Lesart jedoch, dass es in der Tradition der Namensreihenfolge eine alternative Lesart dazu gibt, geht aber darauf nicht ein. Wo die kritische Erkundung beginnt müsste, hört sie schon auf. Das ist an dieser Stelle wirklich schade, weil die Betonung des Namens Japhet als Vater der Heiden hier den biblischen Anti-Semitismus begründet. (Anmerkung: Auch im exegetischen Kommentar von Westermann habe ich dazu keine leider anderen Informationen gefunden.)
Im Übrigen sind die Kommentare, die den Text aus der Sicht judaistischer Forschung diskutieren, stark in der Minderheit gegenüber jenen, die einfach nur die sprachlichen Alternativen der Weimaraner Ausgabe belegen. Würde Luther nicht überwiegend polemisch bis beleidigend schreiben, wäre manches Argument durchaus bedenkenswert wie z. B. sein Exkurs zur Beschneidung, der auch aus aktuellem Anlass zu lesen lohnt. Die Beschneidung kann sich nach Luther nicht als exklusives Bundeszeichen bezeichnen lassen, da sie auch in anderen Religion oder Gesellschaften üblich ist.
Luther hat aus christlicher Sicht wohl zu Recht gezeigt, dass sich das Alte Testament sowohl jüdisch als auch christlich lesen lässt und dass manche traditionell jüdischen Lesarten auch nicht zwangsläufig sind, zumal wenn man die Septuaginta hinzunimmt, die später im Judentum kaum noch Berücksichtigung gefunden hat. Doch wie man so schön sagt: Der Ton macht die Musik. An die Stelle eines echten geschwisterlichen Dialogs tritt pure Rechthaberei. Luther kopiert die Methode, die er der anderen Seite vorwirft, wie spiegelverkehrt. Dass alle Kinder Japhets konsequenterweise Anti-Semiten sind, geht aus der Bibel natürlich nicht hervor. Luthers Gedanken sind tatsächlich im Sinn des 19. Und 20. Jahrhunderts rassistisch aufzufassen, da er die exklusive Abstammung des Judentums verwirft, indem er sie einfach durch eine neue Abstammungslinie ersetzt. Auch die allgemeine Sündenlehre, die ja jeden ohne Unterschied treffen müsste, hilft hier nicht vor Exklusivitätsideen. Der Kommentar hingegen zeigt, dass bereits Luthers Behauptung der Exklusivität der Erwählung Israels ein Konstrukt ist, mehr an das Judentum herangetragen als selbst von ihm vertreten. Böswillig betrachtet hat diese Argumentationslinie, die immer wieder Paulus für sich beansprucht, schon den Charakter einer Verschwörungstheorie, auch wenn sie gleichwohl nicht erst in den antijüdischen Schriften Luther nachzulesen ist, sondern zu seiner Grundmelodie eines simus justus et peccator gehört. Alle Menschen sind Sünder und bedürfen der Gnade. Luther setzt „die Heiden“ schlicht gegen „die Juden“ und behauptet, dass sich ihre exklusive Erwählung gegen sich selbst richten wird. Da liest sich dann die Hetze und die Gewaltphantasie am Ende des Buches wie eine selffulfilling prophecy. Jüdische Schulen bezeichnet er als „Teufelsnest“ (S. 53), was in der Sprache des Mittelalters schon auf den Wunsch der Vernichtung hinweist, der im „judenfeindlichen Maßnahmenkatalog“ zum Ausdruck kommt, der später von den Nationalsozialisten auch immer wieder zitiert worden ist (z. B. Julius Streicher, siehe Einleitung). An die Stelle der Integration und Toleranz wirft Luther „den Juden“ also die Erwählung vor, um sie umgekehrt für die Christenheit zu behaupten (s. o.).
Wenn man diese späte Lutherschrift wie in dieser Ausgabe im Original liest, verhärtet sich der Verdacht, dass der Antisemitismus von dort her auch in die evangelische Theologie eingegangen ist. Wer eine andere Gruppe als Folie für die eigene Wertschätzung benötigt, lässt andere Argumente für die eigene Selbstachtung vermissen. Die messianische Botschaft der Evangelien wird so auf den Kopf gestellt, Römer 9 – 11 völlig außen vor gelassen.
Im Anhang findet sich ein Nachwort des Herausgebers Matthias Morgenstern, in dem er diverse Verbindungen zu den Fragen der Judaistik herstellt, die auch zuvor schon in den Kommentaren zum Teil angedeutet wurden. Er erinnert an die Wirkungsgeschichte des Textes bis zur sogenannten „Reichskristallnacht“ an „Luthers Geburtstag“, einem 10. November. Er gibt historische Umstände zu bedenken. So wurde Luther selbst die „Teufelskindschaft“ von seinen Gegnern vorgeworfen, so dass er dieses Vorurteil einfach an „die Juden“ abwälzte. Luther hat sich die hebräische Sprache hingegen angeeignet und war darin bewandert. Der Autor gibt ihm auch in manchen Passagen recht, wie bereits angedeutet in der Auslegung der Beschneidung. Interessant ist die Erwähnung der in der humanistischen Hochburg Basel entstandenen Schrift des Hebraisten Sebastian Münster, der sich darin für den „Dialog zwischen Christen und Juden“ einsetzte. Außerdem wird die Frage behandelt, warum Luthers Text so stark von Polemik durchzogen ist und von einer starken Erregtheit zeugt.
Interessant ist am Ende des Nachworts der Brückenschlag zwischen Walter Benjamin und den 95 Thesen Luthers zur Buße, mit dem er gewissermaßen Luther gegen sich selbst richtet:
„… im Sinne einer Erinnerung, die Leid und Schuld nicht in der Verklärung einer höheren Ordnung ‚aufhebt’ und somit verdrängt, sondern die Vergangenheit als Unabgeschlossene beständig vergegenwärtigt, um dem Unterdrückten und Vergessenen so eine neue Chance auf Erlösung zu geben.“ (S. 276)
Ich denke, dass es doch eher ein Entwicklung war. „Das Heil kommt von den Juden“ und der Spruch von den Teufelskindern steht im selben Evangelium.
Der christliche Antisemitismus begann schon als Antijudaismus im NT. Grund war wohl der Konkurrenzneid gegenüber den Ersterwählten, sondern auch die diplomatische kluge Exculpierung der Römer.