Zu: Daniel Boyarin: Die jüdischen Evangelien, Die Geschichte des jüdischen Christus, Mit einem Geleitwort für die deutsche Ausgabe von Johann Ev. Hafner und einem Vorwort von Jack Miles, Übersetzung von Armin Wolf, Ergon Verlag, Würzburg 2015, gebunden, 172 Seiten, ISBN 978-3-95650-098-5, Preis: 25,00 Euro
Diese Übersetzung des Buches „The Jewish Gospel, The Story of the Jewish Christ“ (New York, 2012) passt sehr gut in die Reihe „Judentum – Christentum – Islam“, in der sie als Band 12 erschienen ist, ein gemeinsames Projekt der Evangelischen Akademie zu Berlin und der Gemeinde der Berliner Hugenotten (vgl. S. 153). Von Daniel Boyarin aus Berkeley, USA, liegt bereits das Buch „Abgrenzungen, Die Aufspaltung des Judäo-Christentums“ in deutscher Übersetzung vor. Daniel Boyarin ist einer der wichtigsten rabbinischen Gelehrten der Gegenwart, so Jack Miles im Vorwort. Boyarins Ziel des Buches, das er als „Jesusbuch“ angelegt hat, ist die gegenseitige Akzeptanz von Judentum und Christentum.
Zu dieser Akzeptanz gehören seitens der Christinnen und Christen die explizite Wahrnehmung jüdischer Anteile der Botschaft Jesu, sowie eine Klarstellung zur angeblichen Gesetzesbotschaft Jesu, seitens der jüdischen Religion die Vorstellung, dass die Aussagen Jesu über sich selbst als Menschensohn oder als Sohn Gottes dem Judentum der Antike keinesfalls fremd waren. Zur gründlichen Recherche stehen nicht nur die Texte des Alten Testaments zur Verfügung, sondern auch die Schriften des Judentums aus hellenistisch-römischer Zeit, wie die Bücher Henoch und das 4. Esra, genauso, wie einige erst kürzlich entdeckte Textfragmente aus Qumran.
Durch seine gründliche Kenntnis des Judentums in Palästina zur Zeit Jesu gelangt er zu einer besonderen Würdigung der Gegnerschaft Jesu gegenüber dem Pharisäertum. Demnach steht Jesus eher in der Tradition der Thoraobservanz als das Pharisäertum, das neue und aus seiner Sicht übertriebene Gedanken in das Judentum einführte. Für mich war es neu, dass die Kategorien rein-unrein mit den biblischen Speisegeboten nichts zu tun haben, sondern eher für andere Situationen galten wie z. B. Berührung der Leichen, Umgang mit Körperflüssigkeiten u. ä.. Jesus lehnt in der Überlieferung des Markusevangeliums die Übertragung der Kategorien rein-unrein auf den Umgang mit den Speiseregeln ab. Die Regeln für koschere Speisen sollen seiner Meinung nach von dieser Bestimmung unbeeinflusst bleiben. Die Konsequenz dieser Beobachtung ist schon, dass der traditionelle Vorwurf der Gesetzlichkeit zumindest von Jesus her unangemessen ist, da er die Beachtung des Gesetzes nicht ablehnte, sondern nur deren Erweiterung.
Noch drastischer ist die Deutung Boyarins, die auf die These von den in der Bibel vorkommenden zwei Göttern zurückgeht. Auch hierin ist wieder eine entscheidende Weichenstellung völlig anders als in der christlichen Theologie, und dabei so banal, dass darauf eigentlich jeder Christ und jede Christin kommen müsste. Es handelt sich insgesamt um eine Auslegungsgeschichte von Daniel 7. Dort, wo vom „Menschensohn“ die Rede ist, ist keinesfalls vom Menschen des Messias die Rede, sondern von einer Gestalt des biblischen Gottes in junger, menschlicher Gestalt. Hieraus wird dann auch deutlich, wieso der Vorwurf der Gotteslästerung des Kajaphas tatsächlich trifft, wenn Jesus sich mit einem Zitat aus Daniel 7 vor dem Hohen Rat als Menschensohn bezeichnet (siehe Markus 14,61).
Wer sich hingegen als Sohn Gottes bezeichnet, spricht von sich selbst als einem Menschen in der Tradition der davidischen Könige als vom Gesalbten nach der Tradition von 1. Samuel 10,1 und Psalm 2,2. Dieser Ausdruck hat allenfalls eine politische Bedeutung, ist aber keinesfalls eine Gotteslästerung. Boyarin zeigt hingegen an verschiedenen Stellen aus den og. Schriften, dass es durchaus etliche Quellenzitate des jüdischen Schrifttums gibt, die diese Gestalt eines Messias vorher gesagt haben, in welcher der göttliche Menschensohn und der menschliche Davidssohn zusammenfließen. Boyarin stellt fest, dass er in dieser Hinsicht Berührungspunkte mit der sogenannten Bewegung der messianischen Juden sieht, sich aber doch nicht mit diesen vollends identifizieren kann. Er betont nicht nur das Messianische an den Schriften des Neuen Testaments, was Christinnen und Christen weniger überraschen würde, sondern auch, dass aus seiner Sicht selbst die Evangelien den fruchtbaren Boden der jüdisch-biblischen Botschaft nicht verlassen. Die Texte darin, die später antijudaistisch gedeutet werden, sind Zeugnisse innerjüdischer Konflikte.
Sogar die Passionsgeschichte Jesu gehört in die messianische Tradition des Judentums hinein. Die Bezugnahme auf die Gottesknechtsgestalt und dessen stellvertretendes Leiden in Jesaja 53 können ganz klar auf den jüdischen Messias bezogen werden.
Es ist gut zu hören, dass das Kapitel 2 „Der Menschensohn in 1. Henoch und 4. Esra: Andere jüdische Messiasse im 1. Jahrhundert“ als Vorabdruck in der Berliner Theologischen Zeitschrift erschienen ist (BThZ 31 [2014], S. 41-63). Inzwischen wurden die Anstöße Boyarins im Buch „Peter Schäfer: Die zwei Götter im Himmel, Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike“ (2017) aufgenommen und diskutiert werden.
Lieber Christoph Fleischer,
herzlichen Dank für die Buchvorstellung von Daniel Boyarin und Ihre interessante Rezension. Jesus versteht seine Sendung ja selbst zunächst ausschließlich an das „Haus Israel.“ Eine jüdisch-messianische Deutung von Jesus, die Jesus positiv im Judentum verankert und die Möglichkeit aufzeigt, dass er als jüdischer Messias verstanden werden (muss) kann, kommt einer messianischen Christologie (Moltmann) sehr nah. Dass die paulinische Theologie Jesus den Heiden als Christus verkündigt, an dessen Heil und Messianität sie ohne nationale Zugehörigkeit zu Israel und als Nichtjuden partizipieren können, hat zunächst innerjüdisch eine Polarität bis zum Ausschluss der Judenchristen zur Folge gehabt. Durch die Trennung von der Synagoge gerät die Sicht und Wahrnehmung von Jesus Christus als Jude zunächst in den Hintergrund und je länger je mehr in Vergessenheit, sodass die Evangelien zunehmend in der Kirchengeschichte antijüdisch verstanden und gelesen werden. Daran ist nicht Paulus schuld, er kannte ja die „Evangelien“ nicht, sondern letztlich eine Identität auf Kosten der Abgrenzung und ein griechisch-römischer Wahrheitsbegriff, der nur entweder-oder kennt.
Was ist die Konsequenz aus Boyarins jüdisch verstandenen Evangelien? Ich glaube, dass das Verhältnis von Judentum und Christentum derart durch die Wirkungsgeschichte gestört ist (Vgl. Amos Oz, Judas), dass ein solche jüdische Christologie von vielen (orthodoxen) Juden als Verrat und Anbiederung an Christen gesehen wird. Die Zeit der Würdigung Jesu als Jude in der Messiastradition im jüdischen und umgekehrt auch im christlichen Kontext steht noch aus. Das Buch ist neben früheren Versuchen von Pinchas Lapide ein erneuter mutiger und vielversprechender Versuch. Was das für unsere Christologie bedeutet, steht trotz der Aufarbeitung des Verhältnisses von Christen und Juden in der Theologie und in den Kirchen seit der Shoa im breiten Glauben der Gemeindeglieder immer noch aus. Der Gedanke, dass der Glaube an Jesus als den Christus die Christen von den Juden und die Juden von den Christen nicht trennen muss, ist einfach radikal und stellt Jahrhunderte währende Vorurteile in Frage. Dass der Bruder und die Schwester an meiner Seite einen anderen Weg gehen und anders glauben kann und darf gewürdigt werden. Allein diese Einsicht wäre viel.
Joachim Wehrenbrecht