Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen
Verlag DeGruyter, Eric Merkel-Sobotta, Director, Communications, Berlin, 16. August 2017
Quelle: Journal of the Bible, Band 4, Heft 1, April 2017
Offiziell war die Sowjetunion atheistisch und Religion wurde als „Opium für das Volk“ abgelehnt. Doch wie Roland Boer nun in seinem aktuellen Artikel deutlich macht, wurde die militant-atheistische politische Philosophie in der Sowjetunion durchaus von der christlichen Theologie beeinflusst. Unter dem Titel „Stalin’s Biblical Hermeneutics from 2nd Thessalonians to Acts 4“ zeigt der kritische Theologe Boer, wie es biblische Referenzen sogar bis in die sowjetische Verfassung von 1936 geschafft haben. Der Text ist im Journal of the Bible and its Reception erschienen und unter hier frei zugänglich.
Zunächst war es Lenin, der auf die Bibelstelle „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ aus dem 2. Brief des Paulus an die Thessalonicher verwies. Mehrfach bezog er sich auf diesen Ausspruch, unter anderem in einer Rede, die er 1918 zurzeit des schweren Getreidemangels vor Arbeitern in Petrograd hielt. In der biblischen Passage, die Lenin aufgriff, ermahnte der Apostel Paulus die Thessalonicher für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen und nicht auf Kosten anderer zu leben. Häufig wurde die neutestamentliche Stelle als Kritik an Faulheit und Arbeitsunwilligkeit oder Schmarotzertum verstanden. Durch Lenin erfuhr diese Interpretation aber eine radikale Umdeutung: Diejenigen, die sich vor ehrlicher Arbeit drückten, seien die Reichen und Mächtigen der Oberschicht. Sie arbeiteten nicht selbst, sondern lebten von der Arbeit anderer. In den Zeiten von Lebensmittelknappheit war Lenins Auslegung nicht nur Kritik an der herrschenden Klasse, sondern auch Legitimation staatlicher Kontrolle des Getreidehandels und Eindämmung privater Geschäfte.
Für Lenin war diese Passage vor allem rhetorisches Mittel, für Stalin aber war es eine grundlegende Denkweise. Er nutzte diesen Text in viel radikalerer Form. Der einzige bedeutende kommunistische Akteur mit theologischer Ausbildung war insbesondere im Bereich der Bibelinterpretation bewandert. Stalin bezog sich nicht nur auf den 2. Brief des Paulus an die Thessalonicher, sondern auch auf eine Passage aus der Apostelgeschichte 4, um den Unterschied zwischen der unvollkommenen sozialistischen Gesellschaft (welche aber immer noch besser war als die kapitalistische) und der Utopie des Kommunismus, die in der Zukunft lag, zu verdeutlichen.
In Anlehnung an Marx und Lenin differenzierte Stalin zwischen Sozialismus und Kommunismus, der als angestrebte Gesellschaftsordnung noch in der Zukunft lag. Die Referenz zu 2Thess 3:10 wurde zum Leitgedanken eines erfolgreich etablierten, aber dennoch nur interimistisch zu denkenden Sozialismus in der Sowjetunion. Spannend ist in diesem Bild die Parallele einer Erwartung der Endzeit, wie sie im 2. Thessalonicher Brief eine zentrale Rolle spielt, und der Erwartung des Kommunismus; eine Analogie, die keineswegs zufällig war.
Den Schritt vom Sozialismus zum Kommunismus verdeutlichte Stalin mit einer anderen, ebenfalls biblischen Referenz, nämlich zur Apostelgeschichte 4: „Von Zeit zu Zeit haben diejenigen, die Land oder Häuser besaßen, diese verkauft und legten den Preis aus dem Verkauf zu den Füßen der Apostel nieder; und es wurde jedem zugeteilt, so viel er brauchte.“ Demnach sollten die Menschen nicht mehr bekommen, was sie durch Arbeit verdienten, sondern was sie benötigten.
„Stalin entwickelte eine einzigartige Interpretation der Unterscheidung zwischen Sozialismus und Kommunismus, basierend auf dem 2. Brief des Paulus an die Thessalonicher und den Apostelgeschichten 2 und 4“, so Roland Boer, Professor für Theologie an der University of Newcastle in Australien und Autor des Artikels. „So ist der Sozialismus durch den Slogan definiert, „jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Arbeit“, während der Kommunismus bedeutet „jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinem Bedarf“. Diese Unterscheidung wurde in der Verfassung von 1936 in der Sowjetunion verkörpert. Stalin war ihr Architekt.
Obwohl Roland Boer in keiner Weise nach Stalins Vermächtnis streben will, gibt er einen interessanten Einblick, wie die biblische Interpretation Stalins Gedanken in dieser Frage beeinflusst hat.