Was ist Sein? Rezension von Christoph Fleischer und Konrad Schrieder, Welver/Hamm 2018

Zu:

Parmenides: Sein und Welt, Die Fragmente neu übersetzt und kommentiert von Helmuth Vetter, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2017, gebunden, 251 Seiten, ISBN: 978-3-495-48801-0, Preis: 27,00 Euro

In der Vorbemerkung stellt Helmuth Vetter die Gliederung des Kommentars vor und weist auf den Anhang am Ende des Buches hin, so auch auf einen eigenständigen Literaturbericht zu Parmenides, der von Alfred Dunshirn verfasst worden ist.

Bekannt aus der Methodik historisch kritischer Forschung ist, z. B. der Bibel, dass auch hier die Sicherstellung des Textes an erster Stelle steht. Die Auslegung hingegen bleibt an den Kriterien der Kritik und der Hermeneutik orientiert.

Helmuth Vetter (geb. 1942) will die Geschichte der Editionen des Parmenides gründlich darstellen, bleibt aber formal beim Begriff der „Vorsokratiker“ stehen und betont, damit sei keine Abwertung verbunden. Diese erste Phase der griechischen Philosophie vor Sokrates umfasst immerhin ungefähr 150 Jahre vor und nach 600 v. Chr. Die Rede ist von 90 Autoren, darunter auch Parmenides aus Süditalien. Parmenides bildet nach Friedrich Nietzsche die Mitte dieser Epoche, die auch das Werk des Parmenides selbst in zwei Epochen teilt. Diese Epochenteilung wurde allerdings in der modernen Forschung überwunden, zumal die Fragmente des Parmenides als einheitliches Merkmal den Hexameter (sechs Hebungen, episches Versmaß) aufweisen.[i]

 

Die Fragmente des Parmenides müssen bzw. mussten rekonstruiert werden, indem sie bei antiken Autoren der Folgezeit vor allem der Spätantike aufgefunden werden. Helmuth Vetter fasst dies zusammen: „Wie bereits erwähnt, wurde Parmenides in der Antike nur wenig gelesen, doch war seine Wirkung von überragender Bedeutung.“ (S. 56).

 

Die Übersetzung des griechischen Textes wird in Gestalt einer synoptischen Tabelle gezeigt, worauf zu jedem Fragment ein Übersetzungskommentar folgt. Erst im zweiten Teil werden die Fragmente unter philosophischen Aspekten besprochen.

Die weitere Rezension behandelt exemplarisch das Fragment 8. Es folgt eine subjektive Zusammenfassung der deutschen Übersetzung:

Dieses Fragment 8 spricht von einem Weg, auf dem sich Seiendes befindet. Das Seiende wird immer da sein, es wandelt sich allenfalls. Es kann aus Nichts nichts entstehen. Die Gottheit, die Sein entstehen lässt, wird nicht zulassen, dass Seiendes zu Nichts wird.

Im Prinzip wird durch die Einbeziehung der Göttin Dike die Erklärung des Seienden zur Erzählung, zum Mythos. Als Nichtseiendes wäre es untauglich, es taugt nur als Vorhandenes. Das Seiende gibt es nur im Plural. Das Seiende ist jedoch immer auch Teil der Vorstellung, ist Denken und Sein gleichzeitig. Im Willen des Schicksals (der Göttin) liegt alles Seiende beschlossen. Nicht das Nichts, sondern die Vielfalt der Gestalt ist das Merkmal des Seienden. Das Sein bleibt der Kern des Seienden, nicht das Nichts. Nun ist die Rede von Wahrheit, die hinter allem steht. Es wird eine Dialektik oder Polarität von zwei gegensätzlichen Kräften entwickelt, die aber nicht „Sein“ und „Nichts“ sind, sondern einerseits das Feuer bzw. Licht und andererseits die finstere Nacht, der immanente Dualismus des Lebens in der Zeit.

Bezeichnend ist noch, dass die Begriffe Dike (V. 14) und Moire (V. 37) unübersetzt bleiben. Ananke (V. 30) wird zwar großgeschrieben, aber mit „Notwendigkeit“ übersetzt. Es sind dies Götternamen, die aber zugleich für Eigenschaften stehen und übersetzt werden könnten in die Begriffe Gerechtigkeit, Schicksal und Notwendigkeit. (C.F.)

Nun ein Blick auf die Übersetzung von Helmuth Vetter am Beispiel des Abschnitts der Verse 34 – 39:

  1. Das Selbe aber ist Denken sowohl als auch dessentwegen ist der Gedanke.
  2. Nicht nämlich ohne das Seiende, in dem es gesagt ist,
  3. wirst du das Denken finden; denn weder ist noch wird sein

37 anderes außer dem Seienden, weil es die Moire bindet,

  1. ganz, und zwar unbeweglich zu sein; deshalb wird alles Name sein,
  2. was die Sterblichen festgesetzt haben, überzeugt davon, dass es wahr sei.

Passend zu dieser Übersetzung interpretiert der Kommentar diesen Abschnitt als „Die bindende Kraft der Moira“ (S. 182). Worin ist diese Übersetzungsvariante noch Ontologie ist, kann kaum einleuchten. Das Wort Sein ist hier grundsätzlich verbal ausgedrückt.

Auffallend ist, dass oft die Sterblichen ins Spiel gebracht werden, wohl in ihrem Gegensatz zum Göttlichen. Das Leben ist wohl dem Walten der Götter untergeordnet und demnach unverfügbar. Sterbliche beziehen sich auf das Seiende, indem sie ihm Namen geben.

Es folgt eine Übersetzung in schlichte Prosa, die ganz auf die Übertragung des Hexameters verzichtet (Konrad Schrieder), um von dort aus noch einmal einen Blick auf den Text des Parmenides zu werfen:

  1. Dasselbe aber ist das Denken und das, worauf sich der Gedanke bezieht.
  2. Denn nicht ohne das Sein, in dem es (aus)gesagt ist,
  3. wirst du das Denken finden; denn nichts ist noch wird etwas anderes sein
  4. außerhalb des Seins, da die Moira (das Schicksal) es bindet,
  5. so dass es gänzlich unbeweglich bleibt; deshalb wird alles Name sein,
  6. was Sterbliche gegeben haben in Überzeugung, dass es wahr ist.

Die Übersetzung von Helmuth Vetter klingt sprachlich gefälliger, ist aber in v. 34 in der Sache weniger klar. Der Bezug zwischen dem Denken (des Subjekts) und dem Objekt ist Grundvoraussetzung für Erkennen.
Ob es in V. 35 nun um das Sein oder um das Seiende geht, wie die meisten Übersetzer meinen, ist sprachlich unklar, ebenso wie die Kommentare dazu. Geht es um das Sein, dem Namen (=Begriffe) beigelegt werden, dann muss das Sein erkennbar und benennbar sein. Das wird aber im Fragment (V. 17) bezweifelt. Aber was ist dann „gänzlich unbeweglich“, das sich zudem im Wirkbereich der Moira befindet? Sind damit wirklich (Einzel-)Seiende gemeint?
Wenn es sich um Seiende handelt, dann wäre ein transzendentaler Akt, ausgehend vom sinnlich Erfahrbaren über den Horizont auf das Sein anzunehmen.
Jedenfalls lässt Dike das Sein zu (V. 13), welches die Moira an das Denken bindet (V. 37). Ananke sorgt dafür, daß das Sein jenseits des Horizonts, also nicht (be-) greifbar bleibt. Doch es kann gedacht werden, weil es ist (VV. 16 f., 30-34). Das ist Ontologie.
Warum ist vom Weg die Rede (VV. 1. 18)? Es kann dabei immer nur um Annäherungen an das Sein geben, um einen motus in Richtung auf das Unbewegte (VV. 26,39). In V. 9 scheint bereits das Kausalitätsprinzip anzuklingen. Von hier zu Aristoteles‘ primum movens wäre es nur noch ein kleiner Schritt.
Übrigens: In der Transzendentalphilosophie spielt die Bewegung eine zentrale Rolle, Maréchal nennt sie Dynamismus. Eigentlich ist sie ein Finaldynamismus, da sie sich auf ein Ziel zubewegt, das sie aber nicht erreicht, da sie einem endlichen Verstand (Mensch) innewohnt. Bewegt wird er vom Willen – Verstand und Wille sind nicht zu trennen. Es geht also nicht um ewige Wahrheiten, sondern – anthropologisch gesehen – um Annäherungen an sie. Der intellectus agens leistet diese Tätigkeit. Er wird als intellectus possibilis durch sinnlich wahrnehmbare Gegenstände „angeregt“, also von der potentia in den actus versetzt. Deshalb ist mir der Begriff des Denkens bei Parmenides so wichtig.
Natürlich kann man Parmenides nicht mit Thomas oder Maréchal interpretieren, aber mir scheint sich schon hier eine frühe Entwicklungslinie anzudeuten, die sich bis in unsere Tage (zumindest bis in das 20. Jahrhundert) durchhält. Parmenides entwickelt keine Erkenntnismetaphysik. Er vermag gerade nicht zu benennen, wie Erkennen im Denken geschieht, aber er hat das Problem erkannt und benennt es. Er ist sich der „ontologischen Differenz“ bewusst. Das Seiende ist aus dem Stoff des Seins, beides bleibt aneinandergebunden. Der Schein des Seienden ist deshalb Doxa, weil Parmenides die Evidenz des Seienden darin nicht erweisen kann.

 

 

[i] Warum in der Übersetzung des Lehrgedichts der griechische Sprachrhythmus auch im Deutschen nachgebildet werden soll, ist m. E. nur aus der humanistischen Tradition begründet. Helmut Vetter schreibt, dass er sich nur teilweise an diese Vorgabe hält, wozu überhaupt ist jedoch kaum einsichtig.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.