Predigt Apostelgeschichte 6,1-7, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2020

  1. Sonntag nach Trinitatis: Wie eine Gemeinde funktioniert

 

Liebe Gemeinde,

die Frage, wie die Aufgaben in einer Gemeinde verteilt werden, stellt sich uns dringend. Jetzt, wo die Finanzen unserer Gemeinde coronabedingt eingebrochen sind, aber auch auf längere Sicht strukturell weniger werden, stellt sich diese Frage umso drängender. Die Frage ist auch damit verbunden, was gerecht ist. Wir Pfarrerinnen und Pfarrer sind in der Mehrzahl Kirchenbeamte und als erstes fein raus. Wir müssen nicht um Reduzierung unserer Arbeitszeit oder gar um unseren Arbeitsplatz fürchten, anders sieht es schon bei den Angestellten unserer Gemeinde aus. Lässt sich Arbeit umschichten, können Arbeitsbereiche aufgegeben werden, müssen Arbeitszeiten und Verträge wegen Geldmangels gekürzt werden? Eine hochbrisante Frage, die uns umtreibt, die zu Konflikten führt, weil es keine einfachen und schnellen Lösungen gibt, wenn es um Menschen und die Frage nach Gerechtigkeit geht. Schnell kommt es zu Verletzungen, Resignation und Rückzug. Dazu kommt noch, dass die Menschen, die um eine Lösung ringen, unterschiedliche Ansichten und Bilder von Gemeinde haben. In der Tat müssen wir uns bewegen – alle – und manches Liebgewordene anders organisieren oder uns gar davon trennen. Allein schon der Druck zur Veränderung macht Angst und verunsichert. Auch die Frage der Macht spitzt sich zu. Wer schmiedet mit wem Pläne und versucht diese durchzusetzen?

In der Tat finde ich es tröstlich, dass uns in der Apostelgeschichte schon von der ersten Gemeinde in Jerusalem von einem Konflikt berichtet wird. Auch in dem so oft verklärten Leben der Urgemeinde – wenn wir nur so glaubten und lebten  wie die ersten Christen, würde alles besser sein – ging es von Anfang an nicht ohne handfeste Konflikte ab. Kirche und Gemeinde sind keine konfliktfreien Räume, so sehr wir uns das wünschten. Die große Sehnsucht danach in einer Gemeinschaft zu leben, die sich versteht und gut miteinander umgeht, hat vielmehr in vielen Gemeinden dazu geführt, möglichst Konflikte zu vermeiden oder gar nicht erst anzusprechen. Es gibt kaum mehr öffentliche Auseinandersetzungen, schon gar nicht auf Synoden.  Es ist gar nicht so einfach, den Finger in die Wunde zu legen und nach tragfähigen Lösungen zu suchen. Oft ist geäußerter Unmut ein erster Hinweis, dass Veränderungen nötig sind.

Zuerst geht es also um das Hören – und das Aufeinander hören – wie so oft. Und da fängt die Schwierigkeit schon an. Können wir wirklich noch hören, hinhören, was der Einzelne oder eine Gruppe sagt oder sind wir schon bei den Antworten und Lösungen und übertreffen uns darin?

Jedenfalls ist in der Jerusalemer Gemeinde das Wunder des Hinhörens geschehen. Die griechischen Witwen wurden erhört. Sie wurden bei der Versorgung mit Lebensmitteln übergangen. Sie wurden gegenüber den einheimischen hebräischen Witwen benachteiligt.

Das zweite Wunder in Jerusalem war, dass die Gemeinde erkannt hat, hinter dem Übersehen liegt ein strukturelles Problem. Die Apostel, die auch die Lebensmittel in der Gemeinde verteilten, waren überfordert. Das lag weniger an ihnen als Personen als an der übergroßen Aufgabe, allen bedürftigen Gemeindegliedern gerecht zu werden.

Wenn wir das nur in den Blick bekämen, dass bei allen Mängeln, die Personen mit sich bringen, es Strukturen sind, die überfordern, die zu Ungerechtigkeiten führen, die demotivieren und oft in den Burnout führen, dann wären viele Aufgabe immer noch eine große Herausforderung, aber wir wären ein Stück leichter und würden uns nicht offen oder unbewusst mit Schuldvorwürfen überhäufen.

Liebe Gemeinde,

ich habe in meiner langen Gemeindetätigkeit leider schon viele Menschen erlebt, die sich als Ehrenamtliche oder als Mitarbeitende sehr engagiert haben, dann aber sich wegen anhaltender Konflikte zurückgezogen haben, enttäuscht waren, dass in einer christlichen Gemeinde ungerecht miteinander umgegangen wird. Sie konnten Ideal und Realität nicht mehr zueinander bringen. Es ist viel leichter Menschen für Konflikte verantwortlich zu machen, als hinter den streitenden und oft verletzten Personen die Macht von strukturellen Problemen in den Blick zu nehmen.

Das Wunder geschieht in Jerusalem und es kommt zu einer Arbeitsteilung. Die Apostel werden entlastet. Sie sollen vorranging im Gebet und „beim Dienst des Wortes“ bleiben, wie es Martin Luther so treffend übersetzt. Daraus ist später in vielen Kirchenordnungen die Formulierung für Pastoren als „Diener am Wort“ geworden. Leider ist diese schöne Formulierung aus unserer rheinischen Kirchenordnung verschwunden, als die Synode eine gendergerechte Überarbeitung der Kirchenordnung verabschiedet hat. Die Sache aber bleibt hochaktuell wie der Prozess „Zeit fürs Wesentliche“ zeigt. In diesem Prozess sollen die Presbyterien mit den Pfarrpersonen vereinbaren, wie Pfarrerinnen und Pfarrer mehr Zeit für das Wesentliche ihres Berufes verwenden können. Dazu gehört dann auch, dass sie bereit sind Aufgaben abzugeben und gegenüber der Gemeinde, gemeinsam mit dem Presbyterium vertreten wird, warum eine Pfarrerin oder ein Pfarrer nicht mehr alles macht, sondern ihren/seinen Dienst fokussiert.

Nichts anderes ist in der Jerusalemer Gemeinde geschehen. Die Apostel sollten beim Wesentliche bleiben. Damit die Ungerechtigkeit bei der Essensverteilung unter den Witwen aufhört, wurde das Amt des Diakons geboren. Sieben Männer wurden gewählt, die diesen Dienst übernahmen. Ihnen wurden durch die Apostel die Hände aufgelegt. Sie wurden für ihren Dienst gesegnet.

Später im 19. Jahrhundert, in Zeiten der sozialen Verelendung durch die beginnende Industrialisierung, wurde dieser gemeindlich diakonische Dienst – den, ich betone es hier, besonders oft Frauen ausgeübt haben – durch Johann Wicherns Rede auf einer Kirchenkonferenz mit den Worten: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“ zur Wesensäußerung der Kirche. Die ersten Schritte zu einer strukturellen Armenfürsorge wurden geschaffen unter dem Namen Innere Mission, im 20. Jahrhundert wurde daraus das Diakonische Werk.

Liebe Gemeinde,

ich bin froh, Mitglied eines Presbyteriums zu sein, dass sich mit aller Kraft und viel Kreativität den Herausforderungen unserer Zeit stellt. Wir ringen um Lösungen. Das ist nicht konfliktfrei. Es würde uns allen guttun, zuerst hinzuhören und wahrzunehmen – wirklich zu hören – zu gewichten und abzuwägen und erst dann zu entscheiden. Beten Sie mit uns für gerechte und zukunftsfähige Weichenstellungen.

Gottes Geist leite uns und öffne uns allen die Ohren

Amen

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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