Joachim Leberecht, Predigt: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig, Herzogenrath 2024

Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom, eigenes Foto

Predigt über 2. Korinther 3,6b am 20. So nach Trinitatis, 13. Oktober 2024

Liebe Gemeinde,

vor einigen Wochen habe ich bei feinschwarz.net einen theologischen Aufsatz gelesen, der mich bis heute beschäftigt. Ich will versuchen die Kernaussage des Artikels auf den Punkt zu bringen. Vorab erinnern wir uns.

Die drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und der Islam sind Buchreligionen. Die Heiligen Schriften sind die Urkunden ihres Glaubens. Wir Evangelischen haben durch die Reformation ein besonderes enges Verhältnis zur Bibel. Es ist das Wort Gottes.

Wie ist das Wort Gottes zu verstehen?

Wie aber ist das Wort Gottes zu verstehen? Buchstäblich? Ist Wort für Wort, das in der Bibel steht heilig und daher unbedingt zu befolgen?

Wir können hier – und da habe ich nicht schlecht gestaunt – vom rabbinischen Judentum lernen.

Neben der offenbarten Tora gibt es eine mündliche Tora, die sich im Laufe der Jahrhunderte in der rabbinischen Tradition herausgebildet hat und auch weiterhin lebendig ist. Die mündliche Tora legt fest, „ob ein Satz der Bibel im übertragenen Sinne, wortgetreu oder sogar wortwörtlich verstanden werden musste. Juden beschneiden Penisse aufgrund von Gen 17,12, nicht aber Herzen, obwohl Jer. 4,3 das vorsieht.“

Das mag uns direkt einleuchten. Wie aber – und damit wird es höchst aktuell –geht die rabbinische Tradition mit der vielfältigen alttestamentlichen Aufforderung um, die Feinde zu vernichten? Steht doch in der Tora, dass JHWH Israel hilft den Erzfeind Amalek durch Genozid auszurotten? Überhaupt streitet in der hebräischen Bibel, die wir Altes Testament nennen, Gott auf der Seite Israels und tötet Israels Feinde bis auf den letzten Mann. Erinnert uns das nicht an gegenwärtige israelische Kriegsrhetorik? Ja, die Vernichtung der Feinde hat eine lange biblische Tradition.

gelesen und gedeutet vom Leben her

Jetzt aber kommt die rabbinische Tradition ins Spiel. Sie stellt kompromisslos den Wert jeden menschlichen Lebens über die schriftliche Tora. Die heilige Tora wird gelesen und gedeutet vom Leben her, nicht vom Buchstaben oder Wortsinn. Auch wenn die mündliche Tradition darüber nachdenkt, welcher Krieg gerechtfertigt ist und welcher nicht, ähnlich unserer Lehre vom gerechten Krieg, dann in der Absicht Kriege einzudämmen. Für die rabbinische Lehre – nicht eines Rabbiners! – sondern eines breiten Stroms der Überlieferung steht fest: Es gibt „keinen zwingenden Krieg in der jeweiligen Gegenwart.“

Liebe Gemeinde,

Die Praxis der rabbinischen Tradition hat mich überrascht und war mir in dieser Dimension nicht bewusst. Das schenkt mir einen erhellenden Blick auf die jüdische Auslegungstradition und hilft mir selbst beim Lesen alttestamentlicher Texte.

Der jüdische Umgang mit der Bibel kann uns helfen, die Spannung zwischen geschriebenen Wort Gottes und dem Ringen um eine rechte, gute Auslegung im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes und dem Geist Gottes auszuhalten und für das miteinander Leben und Glauben fruchtbar zu machen.

Es war ja Luther selbst, der nach einer Gewichtung der Aussagen innerhalb der Bibel suchte und erst dadurch zu seiner befreienden Rechtfertigungslehre kam. Luther empfahl alles als Gottes Wort in der Bibel zu hören: „was Christum treibet.“

Dem Fundamentalismus und auch der Beliebigkeit ist nur zu wehren, wenn das eigene Lesen, Hören und Tun in einem lebendigen Austausch vieler geschieht.

Den Geist Gottes unter uns lebendig halten

Paulus formuliert im 2. Korintherbrief, dass das Leben der Christen ein Brief Christi ist, nicht mit Tinte geschrieben, „sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes.“ (2.Kor. 3,3b)

Vielleicht rechnen wir immer noch zu wenig mit dem Geist und halten uns lieber an toten Buchstaben fest. Wenn der Geist Gottes unter uns lebendig ist, werden wir Gottes Wort vernehmen und es wird ausrichten, wozu es gesandt ist: Leben zu fördern, wie es der Wochenspruch zusammenfasst:

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist. Nichts als Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Micha 6,8

Joachim Leberecht

https://www.feinschwarz.net/der-verschwundene-erzfeind-amalek/

Zitate aus dem Artikel vom 13. September 2024 auf feinschwarz

Predigt zu Michaelis 2024 über 2. Timotheus 1,7, Joachim Leberecht,        Herzogenrath 2024                                                   

Deckenbemalung Hohnekirche, Soest

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“

Liebe Gemeinde,

Furcht und Angst gehören zu unserem Leben, wie unser Atmen und unser Herzschlag. Das weiß auch Paulus. Paulus schreibt seinen zweiten Brief an Timotheus aus dem Gefängnis in Rom. Timotheus ist – wenn man so will – sein Lieblingszögling. Er ist noch jung, kommt aus einem guten Haus, steht im Glauben und leitet eine Gemeinde. Paulus hat schon viele kommen und gehen sehen, anfangs waren sie begeistert vom Evangelium, ließen sich schnell aber von anderen Geistern locken und verführen, sei es vom eigenen aufgeblasenen Ego oder von der Furcht für ihren Glauben abgelehnt, schief angesehen oder sogar verfolgt zu werden. Paulus bittet Timotheus, bleib du im Glauben treu, verleugne unseren Herrn Jesus Christus vor den Menschen nicht.

Ganz dialektisch, wie er nun mal ist unser Paulus, schreibt er in dem Brief:

Sterben wir mit, so werden wir mit ihm leben;

dulden wir, so werden wir mit ihm herrschen;

verleugnen wir, so wird er uns auch verleugnen;

sind wir untreu, so bleibt er doch treu;

denn er kann sich selbst nicht verleugnen. (2,11-13)

 

Das kann Paulus sagen, weil er Gottes Geist erfahren hat und diesen von seinem Geist und seinen Gefühlen unterscheidet. Das gibt ihm Hoffnung über seine Leiden hinaus. Der Geist schenkt ihm Freiheit, selbst, wo er gefangen ist. Auch in seiner Furcht und trotz seiner Ängste richtet sich sein Blick auf Gottes Geist.

Das ist für ihn der Erfahrungsraum Gottes. Er schreibt Timotheus:

Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.

 

Kraft

Im Griechischen steht hier dynamis theou – die Energie Gottes. Eine Energie, die beruhigt und belebt. Ich stelle mir Gottes Kraft als Energiefeld vor. Wenn ich an meine Kindheit denke, gehören selbstverständlich die Engel (Michaelis-Sonntag) dazu. Es gab für mich, besonders wenn ich krank war, nichts, was mich mehr beruhigt hat als das Gebet meiner Oma an meinem Bett: 14 Englein um dich steh´n

Abends wenn ich schlafen geh
vierzehn Engel um mich stehn
zwei zu meiner Rechten
zwei zu meiner Linken
zwei zu meinen Häupten
zwei zu meinen Füßen
zwei, die mich decken
zwei, die mich wecken
zwei, die mich führen
ins himmlische Paradies

 

(Von: Adelheid Wette (1858 – 1916). Die Autorin war eine deutsche Schriftstellerin und Librettistin und. Sie schrieb u. a. das Libretto für die von ihrem Bruder Engelbert Humperdinck komponierte Märchenoper „Hänsel und Gretel“ – aus dem obiges Gedicht stammt.)

 

Es ist das Beten selbst, das wir vernehmen, die sichtbare Welt ist nicht alles. Gottes unsichtbare Welt beschützt mich. Wenn Fiona (Täufling) diesen Geist erfährt, wird es sie stärken. Wenn religiöse Erziehung gelingt, stärken wir unsere Kinder in und für diese Welt. Gottes Geist kräftigt zum Guten hin, das Böse wird abgewehrt, aufgedeckt und überwunden.

Liebe

Liebe ist eine starke Kraft. In der menschlichen Liebe spiegelt sich Gottes Liebe wider. Paulus schreibt hier von der Agape Gottes. Von dieser Liebe ergriffen zu werden ist alles andere als romantisch, sie greift tief in unser Leben und Zusammenleben ein. Ganz überraschend und witzig hat Agape Michael Kumpfmüller in seinem Roman Mischa und der Meister (2022) beschrieben. Jesus kommt nach Berlin und viele, die mit ihm in Berührung kommen, werden vom Virus der Liebe angesteckt: Ein Rezensent entschuldigt sich bei einer Autorin über den Verriss ihres Buches, ein scheinbar Verrückter wird in der Straßenbahn durch Jesu Handauflegung ruhig, eine Immobilienmaklerin wird von Glücksgefühlen erfasst als sie die Zuwendung eines jungen Paares verweigert, da sie erkennt, das Paar braucht das Geld dringender als sie, außerdem sei diese Praxis doch Wucherei…

Gottes Liebesgeist ist empathisch, lässt uns Reue empfinden, führt zur Versöhnung und Neuanfang, lässt uns in jedem Menschen Gottes Geschöpf sehen – und macht bei den Feinden nicht halt.

Besonnenheit

Ein altes deutsches Wort, doch nicht nur das Wort ist in Vergessenheit geraten. Wir leben in einer Zeit der Beschleunigung, wie der Soziologe Hartmut Rosa treffend sagt. Wir erleben es, jede und jeder von uns. Wir kommen nicht mehr hinterher. Die Stimmung ist gereizt. Nicht nur die Gemüter, auch die Worte sind erregt und aufgeladen; die Schlagzeilen werden immer greller, Positionen immer provokanter, um überhaupt Aufmerksamkeit zu bekommen und wenn auch nur für eine kurze Zeit. Aufmerksamkeit ist die Währung, die wir teuer bezahlen. Der Geist Gottes schenkt Besonnenheit, vielleicht würden wir heute sagen, der Geist Gottes schenkt Abstand, Abstand von uns selbst und unseren erregten Gefühlen, dass wir nicht sofort unsere Reaktionen whats-appen, dass wir uns selbst in einem Konflikt betrachten und über uns lachen, dass wir uns in andere Menschen hineinversetzen und sie zu verstehen suchen. Es geht nicht darum, allem Verständnis gegenüber zu bringen und sich wie ein Fähnchen im Wind zu drehen, sondern es geht um besonnene Reaktionen und Kommunikation, gepaart mit Langmut, Sanftmut und Klarheit.

Fazit

Gott hat uns seinen Geist geschenkt, einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Wenn wir in und mit diesem Geist leben, haben wir einen Kompass, der uns die richtige Richtung weist. Diesen Geist möge Gott in Fiona für immer lebendig halten.

 

Christologische Friedenspredigt von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2024

 

Predigt über Galater 2,15-21 (Bibel in gerechter Sprache)

15 Wir sind zwar von Geburt her zwar tatsächlich jüdisch und nicht Sünderinnen und Sünder aus den heidnischen Völkern. 16 Aber wir wissen, dass kein Mensch ins Recht gesetzt wird durch vorschriftsmäßige Erfüllung der Gesetzesverordnung, sondern nur durch die Treue Jesu, des Messias. Darum sind wir auch zum Vertrauen an den Messias Jesus gelangt, damit wir ins Recht gesetzt würden aus der Treue des Messias und nicht aus vorschriftsmäßiger Erfüllung der Gesetzesverordnung. Denn aus vorschriftsmäßiger Erfüllung der Gesetzesverordnung gibt es keine Gerechtigkeit für die Menschheit als ganze.

17 Aber wenn nun wir, die wir ins Recht gesetzt werden wollen durch den Messias, auch selbst als Sünderinnen und Sünder dastehen, ist dann der Messias ein Handlanger der Sünde? Nein, und abermals nein. 18 Stattdessen: Wenn ich genau das wieder aufrichte, was ich niedergerissen habe, bezichtige ich mich selbst der Übertretung. 19 Denn ich bin durch das Ordnungsgesetz für die Gesetzesordnung gestorben, damit ich für Gott lebe. Mit dem Messias bin ich mitgekreuzigt worden.

20 Und ich lebe nicht mehr als ich, sondern in mir lebt der Messias. Was ich jetzt in meiner leiblichen Existenz lebe, lebe ich im Vertrauen auf das Kind Gottes, das mich geliebt und sich selbst ausgeliefert hat für mich. 21 Ich erkläre nicht das Geschenk der Zuwendung Gottes für null und nichtig. Denn wenn die Gerechtigkeit durch die gesetzte Ordnung käme, wäre der Messias umsonst gestorben.

Von der Freiheit, die Mut kostet

Liebe Gemeinde,

was ist richtig oder was ist falsch? Diese Frage treibt uns um, wenn wir an   Diskussionen in den letzten Jahren oder auch an gegenwärtige in unserer Gesellschaft denken, wobei ich wahrnehme, dass viele Menschen zwar für sich eine Meinung haben, aber diese lieber für sich behalten. Es gibt ein diffuses Gefühl, sich besser nicht äußern.

Wie wir von Paulus wissen, gehört er nicht zu denen, die einer Klarstellung aus dem Weg gehen. Als er von der Gemeinde in Galatien hört, dass dort stillschweigend hingenommen wird, dass die Beschneidung der männlichen Geburten weiter Praxis ist, bezieht er klar Stellung und sagt sinngemäß:

„Ich weiß zwar, dass das Jüdischsein euch im römischen Reich religiöse Sonderrechte einräumt und ihr mit eurem Glauben dann nicht im Konflikt mit dem römischen Staat kommt, aber gleichzeitig schwächt ihr damit euer Vertrauen zu dem Messias Jesus, der für uns gestorben und wieder auferstanden ist. Wenn ihr die Beschneidung in der Gemeinde zu einem Gesetz macht, dann legt ihr denen etwas auf, die nicht aus der jüdischen Tradition kommen und auch dem Messias Jesus vertrauen wollen. Ihr wisst doch selbst, dass kein Mensch gerecht wird durch das Einhalten von Gesetzen, sondern allein durch das Vertrauen auf Jesus Christus, der in seiner Treue zu Gott uns ins Recht gesetzt hat. Nicht dass Gesetze und Verordnungen schlecht sind, aber sie sind nicht unser Maßstab für unser Handeln und Leben. Unser Maßstab ist allein Jesus und nicht die Gesetze der Herrschenden, seien sie religiös oder politisch.“

Soziale Sprengkraft paulinischer Gedanken

Ich weiß nicht, ob wir nach einer 2000jährigen Christentum-Geschichte, wo sich das Christentum mehrheitlich mit den politischen Mächtigen auf die Siegerseite der Geschichte gestellt hat, wahrnehmen, wie radikal kritisch hier Paulus gegenüber (religiösen) Gesetzen denkt. Auch wenn Paulus im Römerbrief schreibt, dass „alle Obrigkeit von Gott sei“ (Römer 13,1f), ist für ihn dennoch klar, dass er Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Paulus hat ganz von seiner Bindung an Jesus – und das bedeutete für ihn zuerst an das Kreuz des Geschundenen, des Opfers der Gewalt, gedacht – und daher seine Freiheit gegenüber dem (religiösen) Gesetz gewonnen.

Im Vertrauen auf Christus war er frei, sah sich mit ihm gestorben und mit ihm auferstanden. Nichts und niemand mehr sollte ihn binden. Diese Freiheit war gefährlich, das wusste er. Sie hatte eine enorme soziale Sprengkraft: In Christus gibt es weder „Jude noch Grieche, Sklave noch Freier, Mann noch Frau“… (Galater 3,28)

Sind wir kritikfähig?

Wir neigen alle zu Kleingläubigkeit und Gesetzeserfüllung, das haben mir die Jahre der Corona-Pandemie deutlich vor Augen gestellt. Die politischen Entscheidungsträger haben zwar demokratisch – aus meiner Sicht aber unverhältnismäßig –, getrieben von Medien und Angstmachern, in die Grundrechte eingegriffen und viele Menschen durch ihre Maßnahmen aus Angst ausgegrenzt. Die Folgen spüren wir heute mit Macht: u.a. haben Depressionen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen drastisch zugenommen. Eine kritische Aufarbeitung dieser Zeit – auch in der Kirche – steht noch aus. Das Impfen wurde in unserer Kirche mit dem Siegel der Nächstenliebe sakralisiert, so sagte der Präses der rheinischen Kirche nach seiner dritten Impfung in der Düsseldorfer Johanneskirche in einem Radiointerview: „Sich impfen lassen sei Nächstenliebe“, zu dieser Zeit wohlwissend, dass die Impfung nicht vor Weitergabe des Virus schützt. Theologisch noch bedenklicher empfand ich, dass das Teilen von Brot und Wein in vielen evangelischen Gemeinden den Gemeindemitgliedern über zwei Jahre verweigert wurde.

Wessen Geboten sind wir hier gefolgt? Oder zeigt sich hier gerade die evangelische Freiheit von religiöser Praxis?

Falsch oder richtig?

Die Unterstützung der Ukraine mit Waffen? Das Aufrechterhalten des Tötens in einem verlustreichen Stellung- und Abnutzungskrieg?

Falsch oder richtig?

Milliarden für den Haushalt 2025 fehlen, sollen aber jetzt auf Vorschlag einer Partei durch Kürzung im Sozialsekttor eingespart werden.

Falsch oder richtig?

Die deutsche Staatsräson, das kriegerische Vorgehen Israels mit zigtausend getöteten Zivilisten in Gaza nicht zu kritisieren? Erst gestern wurde eine Schule mit palästinensischen Flüchtlingen ausgebombt und an die hundert Toten billigend in Kauf genommen. Und Deutschland liefert weiter Waffen an Israel. Machen wir uns nicht mitschuldig an dem Tod Unschuldiger?

Falsch oder richtig?

Ich weiß, wir können es schon gar nicht mehr hören. Wir können doch sowieso nichts ändern! Wir müssen es hinnehmen! Gebt uns Brot und Spiele und wir sind zufrieden. Meine eigenen Probleme halten mich derart in Bann, dass ich alles andere ausblenden muss. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Liebe Gemeinde,

was richtig oder falsch ist, ich weiß es auch nicht, bin oft hin- und hergerissen, ich fühle mich aber je länger, je mehr an den gewaltlosen Weg Jesu gebunden. Ich sehe einfach nicht, dass Gewalt und das einzig auf das militärisch setzende Eindämmen von Aggressionen durch immer mehr Waffen und Töten Sicherheit, geschweige denn Frieden bringen.

Auch das Aufrüsten in unserem Land, zuletzt die Zustimmung des Kanzlers ab 2026 weitreichende amerikanische Mittelstreckenraketen nachrüsten zu lassen finde ich falsch. Aufrüsten und Nachrüstern schenken keine Sicherheit. Und es bleibt die Frage: Wann ist Sicherheit erreicht?

Keiner kann das sagen.

Freiheit zu lieben – ein Weg?

Vertrauen und vertrauensbildende Maßnahmen allein schenken Sicherheit, im Kleinen wie im Großen.

Paulus sagt, er vertraue ganz Christus. Das war für ihn alternativlos. Auch seinen gewaltsamen Tod hat er dafür in Kauf genommen. Ich weiß nicht, ob ich das könnte, aber in der Kirche – vielleicht als eine der wenigen Institutionen überhaupt noch – sollten die Opfer von Gewalt, Kriegen und auch die Zerstörung der Ressourcen durch unser kapitalistisches Wirtschaftssystem wachgehalten werden, damit wir uns verändern, Krieg überwinden, die Schöpfung bewahren. Um Christi willen müssen wir von den Opfern her denken und glauben.

Kein Gesetz der Welt kann retten, nur die Liebe.

Natürlich ist eine Justiz, die auf die Menschenrechte und das Völkerrecht achtet und diese weiterentwickelt und verbreitet, wichtig und richtig, aber ohne Vergebung und Liebe wird es keinen Neuanfang und einen Frieden geben.

Jesus ist den Weg der Liebe im Auftrag Gottes gegangen und hat dafür mit seinem Leben bezahlt. Mit der Auferweckung seines Sohnes hat Gott Jesus ins Recht gesetzt. Die Freiheit, die Paulus darin erkennt, ist keine billige. Sie befähigt zum Widerstand gegen Machthabende und Gesetze, die Menschen und Geschöpfe ihrer Würde berauben.

Daseinsverwandlung, Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2024

zu: Das Weltgebäude muss errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen von Angela Krauss,

Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, Gebunden, 110 Seiten, ISBN: 978-3-518-43118-4, 20,00€ (Print)

https://www.suhrkamp.de/buch/angela-krauss-das-weltgebaeude-muss-errichtet-werden-man-will-ja-irgendwo-wohnen-t-9783518431184

 

Worte als Wohnung 

Eine sehr unaufgeregte, komprimierte, treffsichere, durchdachte und dennoch schöne, nahezu lyrische Sprache begegnet mir in dem schmalen Bändchen von Angela Krauss. Die Autorin ist eine echte Neuentdeckung für mich und dass zu errichtende Weltgebäude klopft an meinen Bücherhimmel an.
Auch geschriebene Worte sind eine Wohnung. Aber selbst Worte entziehen sich wie Erinnerungen: „Sobald ich ein Wort finde, trifft es schon nicht mehr das, was ich erlebt habe.“(32). Der Ich-Erzählerin entwischen Worte, sie verändern sich, fliegen auf und davon. Das geschieht der Erzählerin nicht nur mit Worten, sondern mit allen Dingen, die ihr begegnen. Die Wahrnehmung von Personen und Dingen in Raum und Zeit wird dadurch erweitert. Es gibt immer die Dimension des Möglichen und der Daseinsverwandlung: Träume und Tagträume, Engel und Feen mit denen die Ich-Erzählerin spricht – besonders gern auch mit einer Tänzerin – sind Zwischenräume in Raum und Zeit. Diese Zwischenräume interessieren die Erzählerin und ich vermute stark auch die Schriftstellerin besonders. In den Zwischenräumen geschieht Anrede, dieser Anrede will als reale Möglichkeit in der Welt zu sein, wahrgenommen werden. Das ist raumgreifend und transzendiert das gewöhnliche Verständnis von Raum und Zeit als Messeinheit. „Die Unschärfe des großen Zusammenhangs“(33) schafft Freiheit und ist ein produktiver Zustand. Daraus entwickelt sich immer wieder neue Lebensformen.

Sehnsucht nach Verbindung


„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ (Hermann Hesse) Es geht um immer wieder neues Anfangen und sich auf das Leben, gleich ob es Glück oder Unglück bringt, einzulassen. „Anfangen erzwingt ein Hochgefühl“(82).
Der Alltag ist offen für Begegnungen und im Innersten sehnt sich der Mensch nach Verbindung: „Denn immer, wenn ein Mensch da ist, wollen wir ihm begegnen, sonst müsste er nicht da sein“(62). Wir müssen zu unserer Sehnsucht durchdringen, die noch unterhalb der Angstschicht verborgen liegt (63). Die Sehnsucht verbindet die Menschen miteinander, es widerfährt ein Gefühl der Einheit und der Liebe. Im Alltag, z.B.: beim Busfahren, kann es sein, dass eine kurze Begegnung stattfindet und dass zwei Menschen „zehn Minuten lang Freundinnen“ (66) sind.

Heimat


Die Vergangenheit ist vergangen und ragt doch in das JETZT hinein. Im zweiten Teil des Bändchens kreisen die Gedanken der Ich-Erzählerin um Herkunftsorte, um Wohnen und Miteinander leben im Erzgebirge. Da ist der geheimnisvolle Stumpf des verlorenen Fingers der Großmutter (71), die lebendige Erinnerung an den ersten erhaltenen Brief (79), gemeinsames Aufwachsen mit dem jüngeren, wesensverschiedenen Bruder unter einem Dach mit der Mutter. „Im Laufe der Jahre, …, „verlieren diese Erlebnisse nichts an Präsenz, jedoch unmerklich ihre Grenze“(92).

Abschied von der Mutter

Die Autorin nennt das Kapitel, wo die Tochter (Ich-Erzählerin) und Bruder die Mutter beim Weniger-Werden bis zum Sterben begleiten: Heilige Umkleideräume. Wer sich umkleidet steht an einer Schwelle, bereitet sich vor, „um in den weißen Raum zu treten“(105). Selten habe ich ein Kapitel über das Sterben einer vieles bestimmenden Mutter mit so viel gelebter Empathie, Geschwisternâhe und Offenheit für das, was auch jenseits des Sichtbaren geschieht gelesen, wie bei Angela Krauss. Kein Wunder, dass in Sternwarte, dem Ausblick des Bändchens, der Ich-Erzählerin von der Fee zugeflüstert wird: „Wir sterben nicht“(110).

Das Weltgebäude muss errichtet werden

Mit dem Titel nimmt Angela Krauss unzweifelhaft Bezug zu Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab (1). Bei Jean Paul (1763-1825) droht das Weltgebäude einzustürzen, da der Tote Christus sagt: Es gibt keinen Vater-Gott. Bei Angela Krauss soll das Weltgebäude erst errichtet werden. „Man will ja irgendwo wohnen.“
Die Daseinsverwandlung errichtet das Weltgebäude durch eine Punktmutation. „Es handelt sich dabei um eine weltweit gleichzeitig einsetzende Kalibrierung des Frontalkortex durch eine neue Frequenz“(109). Das hat zur Folge, dass der Menschheit neue Fähigkeiten zuwachsen, die zur Errichtung des Weltgebäudes hilfreich sind. Auch wenn Jean Paul und Angela Krauss eine Menge Bauzeit, Zerstörung und Wiederaufbau trennen, sind sie sich einig, dass die Zwischenräume wichtig sind, beide wollen die Welt in der Schwebe halten, beide sehen die Welt voller Geheimnisse: „Die Geheimnisse brauchen keine Anstrengungen zu ihrem Schutz, weil alles Geheimnis ist“(96).

Fazit


Ein ungeheuer lesenswertes Buch, das sich wegen der Fülle von Assoziationen
eignet mehrmals zu lesen. Vielleicht sind Form und Inhalt nicht allen zugänglich. Das macht aber nichts, versuchen kann man es einmal. Beim Lesen musste ich an das unter Theologie in Tübingen Studierende Bonmot über die Philosophie Ernst Blochs des Theologen Jürgen Moltmanns denken. Moltmann war von Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung begeistert, kritisierte aber Bloch dahingehend, seine die Welt transzendierende Philosophie der Hoffnung komme ohne Gott aus, dass sei wie Fahrrad fahren ohne Pedale.

Auch wenn Angela Krauss ohne das Wort Gott auskommt, was ich in der literarischen Gattung überhaupt nicht vermisse, spricht sie von Daseinsverwandlung. Ein großes Geschehen. Wie ereignet es sich? Es widerfährt der Welt und dem Einzelnen. Vielleicht ist die Nähe zu dem, was Religion für Möglichkeiten bereithält, von ihr selbst nicht intendiert, aber es scheint mir an diesem Punkt ein Gespräch von Literatur und Religion fruchtbar.

1 Vgl. Link zur Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab

 https://www.projekt-gutenberg.org/jeanpaul/siebenks/siebn141.html

Heidegger im Hochschwarzwald, Rezension von  Christoph Fleischer, Fröndenberg /Ruhr 2024

zu:

Doris Feil: Hochschwarzwald, KJM Buchverlag, Hamburg 2024, Hrsg. In der Reihe: European Essays on Nature and Landscape, hrsg. Von Klaas Jarchow, gebunden, 139 Seiten, mehrfarbige und schwarz-weiße Abbildungen und Karten, ISBN 978-3-96194-235-0, 22,00 Euro (print)

Heideggers Waldhütte in Todtnauberg

Mittelpunkt des Buches ist Todtnauberg, der Ort der Waldhütte des Philosophen Martin Heidegger (1889 – 1976) und zugleich Titel des Gedichts von Paul Celan (1920 – 1970). Das Gedicht reflektiert die Landschaft des Hochschwarzwaldes wie die Begegnung des Dichters mit Heidegger gleichermaßen. Der Dichter und der Philosoph waren jeweils am Werk des anderen interessiert. Heidegger bereitete die Lesung Celans in Freiburg 1967 begleitend vor und lud Celan zu einem Besuch in der Waldhütte ein. Paul Celan, selbst an Botanik interessiert, bat Heidegger zweimal um eine geführte Wanderung in ein Hochmoor, einmal sogar, wie es heißt, bei strömendem Regen. Es ist in der Tat nicht immer leicht, sich zu bei der Lektüre auf Celan oder auf Heidegger zu konzentrieren. Dass Celan sich als Opfer des Nazi-Terrors versteht, zeichnet ihn keinesfalls aus.

Das Buch ist vielschichtig und könnte schon als Einführung in einen Martin-Heidegger-Tourismus gelesen werden, da etliche Orte der Begegnung dazu einladen.

Wintersport oder Naturerfahrung, oder beides?

An zwei Stellen habe ich Bedenken. Zunächst vermisse ich hier die Erwähnung des Winters bzw. Wintersports. Auf einer Homepage über Todtnauberg, Skilifte finde ich folgenden Text: „Egal ob groß, klein, jung oder alt, mutiger Anfänger oder leidenschaftlicher Ski-Profi – es ist für jeden das Passende dabei.“ (https://www.skilifte-todtnauberg.de) M. W. soll Heidegger, der damals Professor in Freiburg war, die Hütte gekauft haben, weil er begeisterter Skiläufer war. Doris Feil erwähnt hingegen Heidegger selbst nicht, wenn sie schreibt: „Von unangetastetem Schnee könnte ich noch sprechen, von dem Gefühl, im Januar ober am Skihang zu stehen…“ (S. 68)

Trotzdem geht es beim Skilaufen bei aller Faszination für die Natur doch eher um Sport unter extremen Bedingungen. Immerhin wird hier nach naturphilosophischen Ansätzen gefragt, die Heidegger in der Hölderlin-Rezeption findet: „Dieses allseitige Bezogensein von Erde und Himmel, Mensch und Gott nennt Heidegger „Geviert“. Nichtentfremdete Naturerfahrung im „Geviert“ könnte zu Seinserkenntnis hinführen. Da das Sein uns aber nach Heidegger durch das „Wesen der modernen Technik“ verstellt ist, kann seine Erfahrung nur indirekt – als Abwesenheit – gemacht werden.“ (S. 91f).

„Hochschwarzwald“als Landschaftsbeschreibung?

Mein zweites Fragezeichen ist die Frage nach der Verortung des Titels „Hochschwarzwald“ im Buch. Ich frage mich eben angesichts der Thematik der Reihe, ob in diesem Buch über Landschaft und Natur wirklich der „Hochschwarzwald“ im Mittelpunkt steht, wie es der Titel suggeriert, oder ob es nicht ausgehend vom Gedicht Celans um eine kritische Betrachtung der Begegnung des Nazi-Opfers Celan mit dem Nazi-Gefolgsmann Heidegger geht. Dass die Autorin diese Zeichnung voraussetzt, ist durchweg deutlich.

Heideggers Nähe zur Nazi-Ideologie wird sogar anhand der 1933 gehaltenen Rektoratsrede verdeutlicht, sogar unter Verwendung des Hitler-Buches „Mein Kampf“. Doch anstelle hier Celans Zerrissenheit zwischen Abscheu und Interesse an Heidegger zu verdeutlichen, kommt die Autorin dann auf Heideggers Hölderlin Rezeption zu sprechen. Zu Celan wird dann biografisch nichts mehr gesagt, aber seine dichterische Intention nachgezeichnet, „Gedichte zu schreiben, die Toten in Erinnerung zu rufen und jede Tendenz zur Flucht in eine geschichtsrelativierende, zeitenübergreifende oder punktuell ästhetische Seinserfahrung, die dem enttäuschten Heidegger bleibt, zunichte machen.“ (S. 93)

Erst danach bezogen auf den Titel lässt sich Landschaft hier natürlich auch kulturell oder sozial verstehen. Hierzu passt das Gedicht Celans „Todtnauberg“ genauso wie die Fahrstrecken und Wanderungen, dazu auch die Städte Freiburg und St. Blasien. Doris Feil, die auch die Fotos beigesteuert hat, folgt den Spuren ihrer eigenen Ausflüge und zeichnet sie nach.

Es ist für die Autorin zugleich eine Rückkehr in ihre eigene Geschichte. Die Hamburgerin (Sachsenwald) hat als Kind eine Zeit lang im Schwarzwald gelebt und die Schule in St. Blasien besucht. So wird das Buch zu einer Dokumentation historischer und persönlicher Spuren einer Landschaft, die nun sicher auch für Besucherinnen und Besucher nachvollziehbarer geworden ist.

Heideggers Ausblick Richtung Frankreich © Dos Feil.jpg
Brunnen vor Heideggers Hütte © Dos Feil.jpg
Heideggers Hüttengrundstück © Dos Feil.jpg