Mehr Moral? Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2010

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zu: Franz M. Wuketis: Wie viel Moral verträgt der Mensch? Eine Provokation. Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 2010, ISBN 978-3-579-06754-4, Preis: 17,99 Euro

Angesichts der gerade jetzt nach der Finanzkrise aufkommenden Rufe nach mehr Moral ist das Buch von Franz M. Wuketis geradezu wohltuend gegen den Zeitgeist geschrieben. Sicherlich wird im Lauf der Lektüre deutlich, dass weniger Moral nicht weniger Gerechtigkeit oder Fairness bedeutet. Eher im Gegenteil. Auch mit dem Wunsch nach Fairness verbindet sich dieser Ansatz durchaus, nur nicht über einen ideologischen Anspruch an Moral, sondern über eine ehrliche Eischätzung der menschlichen Lebensformen.

Das Verdienst des Autors besteht darin, die Ergebnisse seiner biologischen Arbeit (Wissenschaftstheoretische Probleme der modernen Biologie, 1978/ Grundriss der Evolutionstheorie, 1989/ Evolution, Erkenntnis, Ethik,. Folgerungen aus der modernen Biologie, 1984) in ethischer und populärphilosophischer Weise zum Tragen zu bringen und mit aktuellen Fragen zu verbinden (Warum uns das Böse fasziniert. Die Natur des Bösen und die Illusionen der Moral, 1999/ Bioethik, eine kritische Einführung, 2006/ Der freie Wille. Die Evolution einer Illusion, 2007/ Evolution ohne Fortschritt. Aufstieg oder Niedergang in Natur und Gesellschaft, 2009).

Der philosophische Ansatz von Franz M. Wuketis geht hier zurück auf das grundlegende Werk von Friedrich Nietzsche über die „Genealogie der Moral“ und greift dessen Moralkritik auf, stellt diese aber hinein in einen aktuellen Kontext. Der wissenschaftliche Standpunkt von Wuketis basiert auf Ergebnissen der Verhaltensforschung, die er in grandioser publizistischer Aktivität für die Bildungsdiskussion produktiv macht. Wuketis tritt entschieden ein für einen, wie er es nennt, moralischen Individualismus, der die Bedürfnisse des einzelnen Menschen anthropologisch würdigt. Die Religion kommt insofern kritisch ins Spiel, als dass eine religiöse Vorstellung, die elementare Lebensrechte der Einzelnen unberücksichtigt lässt, ihre Wünsche in die wie auch immer geartete Ewigkeit projizieren muss. Die Beispiele aus der Tierwelt beziehen sich immer nur auf bestimmte Verhaltensweisen und stellen nur Vergleiche dar. So ist der Löwe das Tier, dass zum Nahrungserwerb ständig auf Jagd ist, aber, da er ohne äußere Feinde lebt, dann, wenn er seinen Hunger gestillt hat einfach still in der Sonne liegt und döst, während der Mensch auch danach seine Jagd fortsetzt, wenn er eigentlich „satt“ sein müsste bzw. nicht satt wird.

Realistisch ist die Darstellung insofern, als dass Wuketis die menschlichen Verhaltensweisen keinesfalls idealisiert. Er kritisiert Moralsysteme lediglich, weil sie die Bedürfnisse der Individuen unterdrücken und dadurch zu einer Doppelmoral führen. Dies zeigt er an einigen aktuellen Theman auf. Die Befürworter der aktiven Sterbehilfe beispielsweise vertreten das individuelle Recht der Menschen auf ihr eigenes Leben und Sterben, nicht aber das Recht, über das Leben anderer Menschen verfügen zu dürfen oder zu sollen, z. B. weil man ihr Leben etwa für nicht lebenswert hielte, was im Nationalsozialismus unter „Euthanasie“ verstanden wurde. Man mag zur Serbehilfe stehen wie man will, systematischer Massenmord wie bei den Nazis ist es jedenfalls nicht. Auch in der Diskussion um die Freigabe von Rauschgift zeigt er auf, dass die Zahl der Opfer der Rauschgiftkriege die Zahl der sog. Drogentoten um Einiges übersteigt. Der Ansatzpunkt für eine grundlegend nicht-moralische Anthropologie steht nicht im Gegensatz zu biblischen Traditionen, trägt aber erneut dazu bei, einen ideologisierten Ansatz als metaphysisch zu entlarven. Insofern ist dieses Buch über die fragwürdigen Folgen von Moral geeignet, die Diskussion über unmoralisches Verhalten in der Wirtschaft zu versachlichen. Es geht davon aus, dass ökonomische Strukturen und Gesetzmäßigkeiten nicht durch moralische Impulse geändert werden können, sondern durch Umlenken und Umsteuern im System selbst. Korruption ist beispielsweise nicht nur deshalb zu bekämpfen, weil sie mit unmoralischen Handlungen einhergeht, sondern weil sie eine massive Schädigung einzelner Ökonomien bedeutet. Die Argumentation gegen Moral ist kein Votum für Rechtlosigkeit, eher im Gegenteil. Nicht moralische Appelle, sondern klare Vorgaben und Strukturen sind gegen die beklagten Folgen der Globalisierung angebracht.

Sicherlich liegt hier kein religiöses Buch vor, und aus theologischer Sicht wäre hier auch zu ergänzen, dass die Verkündigung Jesu einen antimoralischen Zug hat, so wie er die Stärke der Nächstenliebe an die Eigenliebe bindet. Wuketis macht allerdings zu recht deutlich, dass es schon interessant ist, wie sich die weitgehende moralische Integration nach innen mit einer Abgrenzungstendenz nach außen verbindet. Das Buch ist faktisch antimetaphysisch und zeigt, dass sich Nietzsches Gedanken in aktuelle Diskussionen hinein fortsetzen lassen. In vielen Fragestellungen ist weniger Moral demnach oft mehr.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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