Martin Heidegger (1889-1976), der bereits im Jahr 1951 emeritiert worden ist, hielt im Wintersemester 1955/56 die Vorlesung „Der Satz vom Grund“ an der Freiburger Universität. Dem gleichnamigen Buch, erschienen im Jahr 1957 beim Verlag Günter Neske in Pfullingen, ist noch ein Vortrag beigegeben, gehalten Anfang 1956 in Bremen und Wien. Dieser kurze Bericht wird sich auf die Vorlesung beschränken, die ohne Überschriften in 13 Stunden gegliedert ist. Diese Gliederung wird hier beibehalten.
Auf der Suche nach einem Titel für diese Zusammenfassung der o.g. Schrift Heideggers leuchtete mir die Titelidee „Das Ende des Rationalismus“ am deutlichsten ein. Heidegger selbst gebraucht keine Fremdworte, sondern ist bemüht, oft auch unter Dehnung der Grammatik, die Darlegung in deutscher Sprache zu erreichen. Zur Darlegung gehören allerdings auch etymologische Beobachtungen und der Verweis auf die lateinische oder griechische Sprache. Dabei wir das Thema, um das es geht, der „Satz vom Grund“ auch lateinisch wiedergegeben, was die Verwendung des Wortes ratio unabdingbar macht. Mir scheint genau diese Wort- und Themenwahl eine Stellungnahme zur Diskussion um den Rationalismus zu sein, was sich in der Darlegung m. E. an einigen Stellen bestätigt. Die aktuelle Zeit wird hervorgehoben und als „Atomzeitalter“ bezeichnet. Auch diese Zuordnung wird mit Verweis auf die Rolle der Wissenschaft begründet. Wenn eine neue Zeitepoche eintritt, so ist damit die alte Epoche beendet. Das legt m. E. den Schluss nahe, dass das Atomzeitalter faktisch das Ende des Rationalismus bedeutet, obwohl es sich von seiner Entwicklung her dem Rationalismus verdankt. Dass sich dieser Prozess erst entfaltet und auch praktisch erst in verschiedenen Ereignissen der letzten 60 Jahre von Hiroshima angefangen gezeigt hat, wird von Heidegger allerdings schlüssig dargelegt.
Erste Stunde
„Nichts ist ohne Grund.“ (Nihil est sine ratio), so lautet der Satz vom Grund. In dieser Form ist der Satz vom Grund klarer und verbindlicher als die positive Aussage: „Alles hat seinen Grund.“ Der Grund gehört zu jeder Art des Seienden notwendig dazu. Heidegger beginnt in dieser Vorlesung die Entfaltung bzw. Dekonstruktion der Metaphysik, die den Satz vom Grund zum obersten Grundsatz erhebt, zugleich aber den Begriff ‚Grundsatz‘ als bekannt voraussetzt. Heidegger zeigt somit in der Grundlage der Metaphysik einen Zirkelschluss auf, der nach den Gesetzen der Logik nicht möglich ist. Die Frage, ob der Satz vom Grund der höchste Grundsatz ist, ist unbeweisbar, zugleich aber evident. Die Rede von Grundsätzen allgemein wird in Satz vom Grund stillschweigend vorausgesetzt. Heidegger stellt allerdings fest, dass sich auch in der Atomphysik ein Wandel des Umgangs zu den Gegenständen vollzieht, die „…auf dem Weg über die moderne Technik die Vorstellungsweise der Menschen im ganzen verändert“ (S. 19). Was daraus folgt, ist hier erst angedeutet, wird aber in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen sein. Im Jahr eins nach Fukushima, zugleich das Jahr 26 nach Tschernobyl, ist erstaunlich, wie klar hier bereits durch Martin Heidegger die Konsequenzen der Atomenergie unabhängig von der Frage ihrer Nutzung gesehen werden. Die Erinnerung an die Schrift Heideggers ist von hierher unabdingbar.
Zweite Stunde
Wenn der Satz vom Grund lautet, dass es nichts gibt, was ohne Grund ist, so muss legitimer Weise nach dem Grund gefragt werden, der den Satz vom Grund selbst begründet. Leibniz, Aristoteles und Novalis treten als Zeugen dafür auf, vor einer übertriebenen Begründungssucht zu warnen. Es gilt zu wissen, was begründbar ist und was nicht. So hat der Satz vom Grund etwas Grundloses und, wie gezeigt wurde, Zirkuläres. Es geht immer noch um die Begründung des Prinzips. Das Problem entsteht allerdings erst durch die Übersetzung des ‚principium‘ mit Grundsatz. Entlehnt aus den Begriffen der Geometrie bietet sich das Wort Axiom an. Das Wort Prinzip, das aus dem Lateinischen stammt, geht von einer Rangordnung, eine Hierarchie aus. Das Wort ‚Grundsatz‘ entspricht dem griechischen Wort für Hypothese und meint das, was anderem schon zugrundeliegt. Heidegger rührt hier zugleich an den Verdacht, dass das Denken in Rangordnungen u.a. der lateinischen Sprache entspringt.
Dritte Stunde
Was ist ein Geltungsbereich, in den etwas hineingehört? Der Satz vom Grund z.B.? Der Satz vom Widerspruch etwa lautet lateinisch: „sine non potest, quod implicat contradictionem“ (Es gibt nichts, was einen Widerspruch beinhaltet.). Ist die Grundlosigkeit des Satzes vom Grund in diesem Sinn ein Widerspruch? Seit Hegel ist der Widerspruch in allem möglich. Die Unterschiede zwischen den Begriffen Prinzip, Axiom und Grundsatz spiegeln das abendländische Denken wieder. Über den Begriff Axiom bestimmt die Technik die Menschheit. Bei Leibniz kommt vom Grundsatz her das Prinzip der Kausalität dazu und wird mit dem Satz vom Grund kombiniert oder gleichgesetzt. Doch wird der Satz vom Grund von Leibniz von der Kausalität unterschieden und als Satz des „Zuzustellenden Grundes“ konkretisiert; d.h.: Im Diskurs ist jeder Satz begründbar, entweder direkt oder auf Nachfrage. Der Satz vom Grund ist somit der universelle, gemeinsame Nenner aller Wissenschaft, da er die Begründbarkeit voraussetzt und nicht etwas gelten lässt, was nicht begründbar ist.
Vierte Stunde
Zunächst betont Heidegger den Gleichklang von Selbstverständlichkeit und Gleichgültigkeit, wofür gilt, dass das Neue interessant sein müsse. Dabei muss geprüft werden, wieso der Satz vom Grund erst im 17. Jahrhundert neu entdeckt worden ist (im Sinne von: Nichts geschieht ohne Ursache). Damit kommt nun die Rede auf Gott als der ‚prima causa‘. Demgegenüber muss vom Grund gesagt werden, dass nur etwas ist, wenn der Grund dafür angegeben wird. Es geht darum, vom Sein eines Gegenstandes so zu sprechen, dass der davon unterschiedene Grund ‚zugestellt‘, also hinzugenommen wird, um das Ganze als Geschehen zu kennzeichnen. Für die Natur wird die erste Ursache mit Gott identifiziert. Gott wird somit der Funktion des Grundes gleichgesetzt. Heidegger entdeckt hier den (vorher schon ohne „Gott“ gesehenen) Zirkelschluss, dass der Satz vom Grund sich immer wieder selbst begründet. Heidegger stellt erneut fest, dass das Grundprinzip Wissenschaft und Universität als immerwährende Bewegung vom Grund zu Grund beschreibt. Interessant ist, dass er so auf die Frage kommt, was das für den Begriff Atomzeitalter bedeutet, also indirekt darauf, ob die Entwicklung immer so weitergehen kann. Die Bezeichnung ‚Atomzeitalter‘ geht auf die Atomwissenschaft zurück, die ,wie alle Wissenschaft, die Auflösung von Widersprüchen beschreibt und so zur Erkenntnis der Zusammensetzung des Atoms gelangt ist. Damit ist das Prinzip des zuzustellenden Grundes faktisch eine Ursache der Bedrohung der Menschheit geworden. Heidegger fragt wissenschaftlich konsequent danach, was der „Entzug des Bodens“ (S.60), auch im Zusammenhang des ausufernden Energieverbrauchs in der Welt, mit dem Prinzip des zuzustellenden Grundes zu tun hat und stellt den Zusammenhang faktisch fest.
Anmerkung: Im System von Leibniz hat Gott die Rolle der prima causa, womit der Gegensatz von Sein und Nicht-Sein konstatiert wird. Inwiefern dieser im System der Begründung eine Rolle spielt, wird nicht gesagt. Müsste nicht von hieraus auch die Theologie danach befragt werden, wie sie Stellung bezieht zum faktischen Ende des Rationalismus? In der Wissenschaft haben eine Glaubensbegründung und die Metaphysik keinen Platz und werden durch die zuzustellenden Gründe ersetzt, die jedem Sein zu Grunde liegen. Der Unterschied von Sein und Nichts wird ausgeblendet und stattdessen ein Perpetuum-mobile konstruiert, dass letztlich ohne prima causa auskommt. Das Atomzeitalter zeigt der Menschheit eine Grenze auf, durch die Erfahrung von Katastrophen, in denen die Folgen der Wissenschaft dem Menschen den Boden entziehen. Faktisch heißt das: Die ausgeblendete Vernichtung vollzieht sich in der Anwendung des Satzes vom Grund. Wenn eine Begründung die Grundfrage der prima causa ausblendet, spielt sie der Vernichtung in die Hände. Folglich hat die Frage danach, worin eine Begründung der Zukunft des Lebens dient, konstitutiv zu sein, da sie bereits in der prima causa mitgedacht wird. Die Sätze dieser Anmerkung entstammen natürlich nicht der Gedankenwelt Heideggers, sondern setzen ihre Konsequenzen fort in die heutige Zeit. Zu erinnern ist an den in diesen Zusammenhang gehörenden kategorischen Imperativ der Gegenwart, der inhaltlich so zu beschreiben wäre: Verhalte dich so, dass sein Verhalten nicht im Widerspruch zur Zukunft des Lebens auf dieser Erde steht.
Fünfte Stunde
Heidegger geht noch einmal auf den Unterschied zwischen der einfachen Form des Satzes von Grund und der Bedingung der Zustellung des Grundes bei Leibniz ein. Die Wissenschaft verlangt das Zureichen eines Grundes. Mit Leibniz beginnt laut Heidegger „die Metaphysik des modernen Zeitalters“ (S. 65), die allerdings im Atomzeitalter an ihre Grenzen kommt, indem es keine Gegenstände mehr gibt, da die Frage nach dem Grund durch die Frage nach dessen Zustellbarkeit ersetzt worden ist. Das bedeutet kurz gesagt: „Nichts ist ohne warum“ (S. 67). Die Warum-Frage ist die Frage des Atomzeitalters. Die Mystik beschreibt das Gegenbild, das „ohne Warum“ (am Beispiel von Angelus Silesius). Dass die Rose ohne warum ist, ließe sich von der Biologie her hinterfragen. Was ist also gemeint? Heidegger unterscheidet nun ‚warum‘ und ‚weil‘ in Beziehung zum Grund. Die Mystik, so Heidegger, beschreibt das vordergründig grundlose Geschehen, auf das der Mensch direkt keinen Einfluss hat. Zwischen Rosen und Menschen ist ein Unterschied; die Rose ist „ohne warum“, ohne das Zustellen des Grundes.
Der Wahrheitsanspruch des Spruches von Angelus Silesius (s.u.) liegt darin, dass das „ohne warum“ der Rose auch für den Menschen gilt, aber als eine verborgene, neu zu entdeckende Weisheit. Doch Heidegger verfolgt das Thema der Mystik hier nicht weiter. Es ist die Frage, ob nicht die Rede vom Atomzeitalter immer wieder danach fragt. Die Alternative, die nun auftaucht, ist die Übertragung ins Positive. Die positive Gestalt des Satzes vom Grund gibt es in zwei Alternativen einmal: „Alles hat einen Grund.“ Und: „Jedes Seiende hat einen Grund“ (S. 75).
Sechste Stunde
Der Spruch von Angelus Silesius lautet: „Die Rose blühet ohne warum; sie blühet, weil sie blühet.“ Heidegger sagt dazu: „Im ‚warum‘ gehen wir fragend den Grund nach. Im ‚weil‘ holen wir antwortend den Grund herbei.“ (Seite 77f). Im Satz von Silesius selbst ist das ‚weil‘ ohne Begründung; denn, ‚weil sie blühet‘ ist nichtssagend, eine Wiederholung. Es geht im Hintergrund um die Frage der Beziehung zum Grund, die zugleich die Frage nach der Macht ist, die das Prinzip auf den menschlichen Verstand ausübt, sich so oder anders zu entscheiden. Heidegger entscheidet sich für die ontologische Variante des Satzes vom Grund, indem er feststellt, dass der Satz von Grund im Prinzip eine Aussage über das Seiende ist, wenn man das Wörtchen ‚ist‘ hervorhebt. Dies wird deutlich, wenn man das Verb ‚ist‘ zum Subjekt macht: „Das Sein ist grundartig, grundhaft.“ (S. 90). Heidegger bezeichnet diese Umformulierung an anderer Stelle als den Wechsel der Tonart, da er die Bedeutung dieses Satzes dadurch hervorhebt, dass er die Betonung der Worte im Satz vom Grund ändert. Es ist die ontologische Variante, da das Verb ’sein‘ zum Subjekt wird (Anmerkung: Heidegger verwendet das Fremdwort ontologisch selbst nicht).
Siebte Stunde
Im Rückblick markiert Heidegger noch einmal den Themenwechsel im Umgang mit dem Satz vom Grund. Der Satz vom ‚Nichts‘ wurde zu einem Satz vom ‚Sein‘, zu einer ontologischen Aussage. Es handelt sich natürlich auch weiterhin um eine Aussage, die den Begriff des Grundes und seiner lateinischen und griechischen Varianten bedenkt. Nur ist die Perspektive eine andere geworden. Heidegger gebraucht dafür das Bild des Sprungs. Er markiert hierdurch eine Zäsur, und beschreibt reflektierend den bisherigen Gang der Argumentation:
- Er stellt fest, dass der Satz vom Grund vom Beginn der Philosophie in Griechenland bis hin zur Neuzeit unentdeckt blieb, obwohl er doch zu den Grundsätzen der Philosophie gehört.
- Er bezeichnet ihn als einen der obersten Grundsätze der Philosophie.
- Er stellt zeitkritisch fest, dass der Satz vom Grund ein Prinzip beschreibt, das besonders in der Neuzeit zu einem bestimmenden Prinzip geworden ist.
- Er stellt fest, dass man nach dem Grund mit ‚warum‘ und mit ‚weil‘ fragen kann, und dabei verschiedene Perspektiven beschreibt.
- Er entdeckt den Wechsel der Tonart im Satz vom Grund, der zu einer Aussage über das Sein führt.
Achte Stunde
In der Anwendung des Satzes vom Grund auf der Seinsebene finden sich nun noch mehr selbstverständliche Abwandlungen, die fast an mathematische Formeln erinnern: Einerseits kann es heißen: „Sein und Grund dasselbe“ und andererseits: „Sein: der Ab-Grund“ (S. 105). Die Frage der Herkunft stellt das Denken vor eine Aufgabe. Heidegger weist zunächst in der Metapher des Weges auf die Erörterungen hin, um dann auf den Sprung zwischen beiden Verstehensweisen zu verweisen. Dazu kommt nun der Gedanke, dass der Sprung zwar Absprung ist, aber doch das alte Denken nicht abstreift. Bewusstsein scheint auch hier ein Denken zu beschreiben, dass sich dem Neuen öffnet, indem es das Alte integriert oder verwandelt. Leitmotive sind immer wieder die Metaphern des Springens und des Gehens. Geschichte oder Geschick, beide Begriffe sind verwandt, ist kein kontinuierlicher Verlauf, sondern das sich Ereignende, indem es sich „zuschickt“ oder sich „entzieht“. Heidegger kommt immer wieder auf die Frage nach der sprachlichen Bedeutung zurück. ‚Methode‘ etwa bedeutet griechisch: ‚den Weg nachgehen‘. Manchmal scheint „Sein“ und „Gott“ ähnlich zu funktionieren, Gott also ein erweiterter Grundbegriff des Seins zu sein. Doch das wird in dem philosophischen Text verständlicherweise nicht entfaltet. Es geht, wie schon angedeutet, eher um „Seinsgeschichte“. Das Sein wird nach Herkunft und Zukunft unterschieden. Der Satz vom Grund gewinnt mit der Aufklärung an Macht, ja es wächst ihm ein „Herrschaftsanspruch“ (S. 115) zu. Das Sein bringt sich durch Gegenständigkeit zum Ausdruck. Damit wird der Satz vom Grund zum prinzipium rationis, zum Grundsatz neuzeitlichen Denkens, zum Rationalismus .
Neunte Stunde
Angeregt durch das Gedenken Mozarts zu Beginn der Stunde zitiert Heidegger erneut den cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius: „Das Lautenspiel Gottes: Ein Herze, daß zu Grund Gott still ist, wird gern von ihm berührt: es ist sein Lautenspiel.“ (Angelus Silesius, Spruch 366, zit. n. Heidegger, S. 118). Der Satz vom Grund wird nun ausführlicher in der zweiten Fassung erläutert, dem Grund als Sein und dem Sein als Grund. Zuerst ist zu fragen, was es heißt, das Sein als solches, als Sein zu denken. Der Gegensatz dazu ist das wohl geläufigere Verstehen, das vom Seienden auf das Sein schließt, als das Sein vom Seienden her denkt. (Bemerkung: Die Ontologie unterscheidet das „Sein“ als das Allgemeine vom „Seienden“, dem jeweils Besonderen und Konkreten.) Der Anspruch, einen Sprung vollziehen zu müssen, führt zum Wesentlichen, was wiederum Konsequenzen für den Begriff der Geschichte hat. Von Aristoteles her gedacht, ist das Sein das Offenkundige, wobei das Seiende das Offenkundigere von beiden ist. Zum Sein selbst gehört von daher gedacht der ‚Entzug‘, das ‚Sich-Verbergen‘. Doch dieser Begriff des Seins darf nicht von seiner Beschaffenheit her gedacht werden, da es sich dann schlicht auch um das Nicht-Sein handelt. Das ‚Sich-Verbergen‘ soll ebenso als eine Weise des Sein verstanden werden. Hier ist zu notieren, dass damit, durch den Begriff „Weise von“ das Sein verbalen Charakter bekommt und als Geschehen oder Prozess verstanden wird, als Geschick, nicht als Zustand. Heidegger fragt nun, den Satz des Grundes betreffend, was in diesem Zusammenhang das Argument des zuzustellenden Grundes bei Leibniz bedeutet. Er nimmt dazu Kant zu Hilfe. Mit Kant kommt die zweite Bedeutung des Wortes ratio ins Spiel, die Vernunft. Kants Arbeit hat es mit Grenzen zu tun und fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit. ‚Vernehmen‘ und ‚Sein‘ gehören für ihn zusammen. Kant geht also noch einen Schritt weiter als Leibniz und deutet die Rolle des Subjekts als der vernehmenden Vernunft an, in der ratio zugleich als Grund gedacht werden kann.
Es ist aus heutiger Sicht interessant, zu sehen, dass die philosophischen Grundüberlegungen ohne die Einbeziehung eines irgendwie gedachten Subjekts letztlich nicht zu denken sind. Es ist die Frage, wie es dann geschehen konnte, dass im Geschehen der Entwicklung als solcher, die nicht unabhängig vom Denken vollzog, das Subjekt so ausgeschaltet werden konnte (Anmerkung des Autors).
Zehnte Stunde
Nach einem kurzen Rückblick tangiert Heidegger die Geschichte des abendländischen Denkens. Das Prinzip dieses Denkens besteht darin, dass Seiende zu überprüfen und zu hinterfragen. Hier ist vom „Wink“ die Rede, in dem das Sein zum Vorschein kommt. Dass Sein wechselt zwischen sich ‚entbergen‘ und sich ‚verbergen‘. Die Philosophie sieht also hinter das Seiende und kann als Seinsgeschichte verstanden werden (z. B. Kant und Hegel). Beispielhaft leistet dies Kant, indem er das Subjekt zum Erkenntnismaßstab erhebt, mit der die ratio den Grund des Seins erforscht.
Das Erleben des vernünftigen Subjekts orientiert sich an der Gegenständlichkeit des Seienden. Mit dem Wort Transzendenz wird in diesem Zusammenhang ein Verfahren bezeichnet, mit dem in der menschlichen Erfahrung der Gegenstände gedacht wird , sie einer Kritik unterworfen werden und dabei ein Übergang vom Seienden zum Sein vollzogen wird. Dem vierten Buch der Metaphysik des Aristoteles folgend geht die Vernunft vom Anwesenden aus und befragt es nach dem Grund des ‚Anwesend-Seins‘. Demnach konstruiert Kant die transzendentale Methode, die dem Satz vom Grund entspricht. Mit der ratio wird die Vernunft unweigerlich in der Subjektivität begründet, da nur das Subjekt erkennen kann. In der Konsequenz führt dies in der Neuzeit zum Anspruch der totalen Berechenbarkeit, die mit einer Flucht aus der Geschichte einhergeht, was mit der Begründung der Subjekt-Objekt-Beziehung zu tun hat, wodurch der/das Gegenüber zum Gegenstand, zum Objekt geworden ist. Das Wort ‚über‘ (lat.:trans) aus Transzendenz kommt in einem Gedicht von Hölderlin zur Geltung, das diesen Abschnitt beschließt.
Elfte Stunde
Heidegger erinnert an die Seinsgeschichte in der Epoche der Neuzeit. Er kommt auf die Ruhe zu sprechen und das, worin etwas beruht. Das Sein ist im Gegensatz zum Seienden ein absoluter Begriff. In seinem Buch „Sein und Zeit“ (1927) hatte er bereits vom Sein-Verständnis gesprochen. Er bezieht sich darin auf Hegel, der in der Dialektik einen Dialog des Menschen mit der Erfahrung des Seins erkannte. Der Mensch sei das denkende Wesen, animal rationale. Das Sein wird in der Gegenständlichkeit erfasst und dadurch zugleich verfehlt. Es wird nicht noch einmal erfragt. Es hat den Anschein, dass selbst die vorausgesetzte Subjektivität im Vollzug des Denkens ausgeblendet wird. Nur wenn ein Sprung erfolgt und wir in Distanz zur eigenen Sprache treten, ist die Erfahrung des Seins denkbar. In diesem Zusammenhang scheint das Sein und der Grund dasselbe zu sein. Im Sein waltet ein Grund und der Grund gehört zum Seienden. Es ist nur die Frage, ob der Begriff des Seins in der ursprünglichen Form, als Physis, noch angewandt werden kann. In der sprachlichen Analyse des Wortes „Grund“ findet Heidegger diese erneut in der Form von sprachlicher Vielfalt. Die Bedeutungen der Begriffe und Worte Sein und Grund sind Verständnis der Sprache abhängig. Das Verständnis von Grund lautet: Grund ist das, worauf etwas ruht. Ein Grund ist (nach Heidegger) also dem Sein immanent und damit zugleich transzendent.
Zwölfte Stunde
Heidegger unterscheidet zwei Ebenen, die mit einem Sprung verbunden sind. Der Absprungbereich ist das, was vom Geschick des Seins gebildet wird. Im denkenden Menschen spiegelt sich das Sein wieder, es ist aber nicht mit dem Wesen der Menschen identisch (vgl. Martin Heidegger: Zur Seinsfrage, 1956). Er sagt, dass das Geschick des Seins uns in „Zuspruch und Anspruch“ (S. 158) begegnet (Anmerkung: Die Wendung ist Teil der dialektischen Theologie und findet sich in der Theologischen Erklärung von Barmen, 1934). Die zweite Ebene der Sprungs ist keine andere Wirklichkeit, sondern der Vollzug des Bedenkens des Gewesenen, des ‚An-Denkens‘ und des ‚Vor-Denkens‘. Hier stellt Heidegger zum ersten Mal fest, dass sich das Bedenken von Sein und Grund nicht in eine Definition pressen lässt. Die Vorstellung von Geschichte als Verwirklichung von Ideen wird als Resultat der platonistischen (Ja!) Aufspaltung der Welt bezeichnet und damit kritisiert. Damit wird das metaphysische Denken erkannt und im Ansatz überwunden. Das menschliche Denken ist in der Betrachtung des Seins immer in Vorstellungen gefangen, die zwangsläufig sind. Wer die sprachlich vorgestellten Anschauungen beschreibt, kommt dem Wort Grund näher. Zunächst trifft man dabei auf eine Vielfalt von Bedeutungen. Zugleich muss aber bedacht werden, dass es sich hierbei um eine Übersetzung des lateinischen Begriffes der ratio handelt. Dieses Wort ist doppelsinnig. Etwas verweist im Wort darauf, mit etwas zu rechnen, zu kalkulieren und etwas zu berechnen. In diesem Sinne verstanden, rücken die Bedeutungen Vernunft und Grund wieder aneinander. Mit ratio ist nun auch Rechenschaft ablegen gemeint. Das höchste Prinzip ist für Leibniz Gott. „Wenn Gott rechnet, wird Welt.“ (Leibniz, o.A., zit. n. Heidegger, S S. 170). Im Atomzeitalter wird dies zur Herausforderung an die Menschheit, der die „gerechnete Welt noch bleibt und den Menschen über all ihre Rechnung stellt,…“ (ebd.). Wenn uns Gott also indirekt durch das Geschehen der Welt die Rechnung präsentiert? Wenn Gott nach Nietzsche tot ist, bedeutet das, dass er nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Dreizehnte Stunde
Heidegger setzt dort an, wo die vorherige Stunde endet, bei der Frage der Übersetzung von ratio. Obwohl ratio sowohl mit Grund als auch mit Vernunft wiedergegeben wird, ist die Grundbedeutung das Wort ‚Rechnung‘. Ratio ist rechnen und richten, selbst in einem auf Kunst bezogenen Zusammenhang. Im Begriff ratio ist also die Bedeutung von Berechenbarkeit und Rationalisierung angelegt. Doch wieso ratio als Grund und als Vernunft wiedergegeben werden kann, zeigt Heidegger am Beispiel des Zwiesel, eines Baumes mit zwei Spitzen. Die zwei Bedeutungen sind auch im Begriff des Rechnens enthalten, einmal als Basis der Rechnung und zum anderen als Rechnungsvorgang. Woran verbinden sich also ratio und Sein? Diese Frage lässt sich ebenfalls nur seinsgeschichtlich beantworten und setzt dabei beim griechischen Denken an. Ratio heißt griechisch logos. Der Satz heißt also nun: Logos und Sein sind dasselbe. Die Wortbedeutung von logos geht über Rechnen, Richten oder Sich-beziehen-auf-etwas. Zugleich ist logos das Wort für Sagen, für eine Aussage. Logos nennt das Sein und es nennt den Grund. Wichtig scheint daran zu sein, dass die Wortbedeutung im Griechischen die verbale Variante betont. Durch den Rückgriff auf die griechische Sprache überwindet Heidegger das statische Denken der lateinischen Begriffe und überträgt sie ins Prozesshafte. Im logos sind Sein und Grund noch miteinander verbunden. Im weiteren Prozess der Seins-Geschichte tritt ausschließlich die Differenz hervor. Die Zusammengehörigkeit ist verborgen. Nach Heidegger zeigt sich darin dass Sich-Entziehen des Seins. Demnach ist Sein die verborgene Fülle dessen, was zum Vorschein kommt.
Wohin führt dieses Denken? Nun gebraucht Heidegger das Wort Spiel. Der Satz von Leibniz könnte nun umbenannt werden: „Während Gott spielt, wird Welt.“ (S. 186). Daraus folgt: „ Das ‚Weil‘ versinkt im Spiel. Das Spiel ist ohne ‚Warum‘“ (S. 188). Wir sind Beteiligte, Mitspieler, ob wir wollen oder nicht.
Nachsatz:
Was heißt das Gesagte, wenn sich das Atomzeitalter dahin entwickelt hat, dass die Katastrophen absehbar sind? Sollte nicht auch hier im Sinne des Seins der Welt die Ratio zu hören sein? Heißt Verschuldung, durch Übermaß das Leben der Anderen, auch der Zukünftigen zu riskieren? Das Spiel ist zum Karussell geworden, das man anhalten muss. Jeder und jeder einzelne kann und wird seine Rolle im Spiel bedenken. Aus Spiel ist Ernst geworden.