Für_wider und eine goldene Uhr, Rezension von Markus Chmielorz, Dortmund 2013

zu: Tilman Jens: Der Sündenfall des Rechtsstaates. Eine Streitschrift zum neuen Religionskampf. Aus gegebenem Anlass. Gütersloh 2013.

Der Suendenfall des Rechtsstaats von Tilman Jens“Der Mann mit der goldenen Uhr am Arm trägt keine Handschuhe. Warum auch? In der Heiligen Schrift ist von hygienischen Standards nun einmal nicht die Rede.” (S. 16). Gemeint ist der “Mohel”, und es ist die Rede von der “Brit Mila” der Beschneidung des männlichen Säuglings, mit der Juden den Bund mit ihrem Gott besiegeln.

Wer im Reportagestil schreibt, wie Tilman Jens, braucht eine starke bildhafte Sprache ebenso, wie derjenige, dem es um Empathie geht. Es ist die Moderne, die das Besondere der Kindheit mit ihrem Modell von bürgerlicher Ehe und Familie “erfindet” und die doch erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts immer mehr in den Blick nimmt, Kinder und Jugendliche vor Gewalt und Missbrauch zu schützen. Dieser Anspruch steht jedem patriarchalen Anspruch – und zwar unabhängig von einer Religionszugehörigkeit – des Verfügens über den Körper des_der anderen entgegen, und es waren immer die Körper der Frauen und der Kinder, die diesem Zugriff ausgesetzt waren. Das Bild des “Mannes mit der goldenen Uhr” mag diese sowohl patriarchale, als auch religiös begründete Gesellschaft assoziieren, in der die Uhr von den Vätern an die Söhne vererbt wird. Es kommt auf den Kontext an. Wer dieses Bild gebraucht, wird befragt werden nach dem Erkenntnissinteresse, dem genau diese Beschreibung folgt. Und sie wird dann zumindest frag-würdig, wenn sie auch geeignet ist, statt zu differenzieren, ein Stereotyp zu bedienen.

Tilman Jens hat, mit Rückblick und aus Anlass der sog. “Beschneidungsdebatte”, eine Streitschrift vorgelegt, die helfen soll, unter dem Anspruch des säkularen Staates das Verhältnis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften neu und vor allem anders zu bestimmen. Eine Streitschrift ist keine wissenschaftliche Arbeit, so dass der Autor bei den vielen Zitaten, von denen wohl anzunehmen ist, dass er sie sorgfältig recherchiert hat, dennoch auf eine eindeutige Quellenangabe verzichtet. Eine Streitschrift bewegt sich auf dem schmalen Grat von Vernunftanspruch und berechtigter emotionaler Beteiligung, und sie ist gekennzeichnet durch eine ihr eigene Wortwahl: Von Schlachten ist die Rede, von Waffen, Totschlagargumenten, vom Niederschlagen, von Ächtung, Zwang, Showdown, Flächenbrand, kurzem Prozess, Repression und dem Garaus. (Vgl. Vordere Umschlagseite und S. 117ff.) Diese Bilder gebraucht Jens vor allem für diejenigen, die er als Gegner_innen ausgemacht hat. Die vorliegende Streitschrift spricht denn auch mehr davon, wogegen gestritten wird, als wofür einzutreten sich lohnt. Dazu passt also, dass der Autor sowohl sich, als auch die Gegner in Stellung bringt.

Es treffen zwei Weltbilder aufeinander, das historisch ältere, metaphysisch begründete der drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam, und das historisch jüngere, vernunftbegründete des modernen Verfassungsstaates. Wie das Verhältnis beider zueinander zu bestimmen sei – dieser Konflikt ist so alt, wie die Moderne selbst. Dazu könnte es hilfreich sein, bedeutsame Unterscheidungen zu treffen: Zwischen Religion, Theologie und Kirche/Religionsgemeinschaft auf der einen Seite, zwischen Gesellschaft, Politik und Staat auf der anderen Seite. Dem Ziel der Argumentation Jens’, dem Anspruch der laizistischen Verfasstheit des Staates (der freilich, so wünschenswert, wie es sein könnte, ein anderer wäre, als es die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten) tut es nicht gut, dass der Autor weitgehend auf diese hilfreichen Unterscheidungen verzichtet. Von einer sorgfältigen Ideologiekritik, die das eigene Erkenntnisinteresse reflektiert, wäre zu erwarten, dass sie sich nicht gegen die Religion richtet (welche sollte das denn auch sein?), sondern dass sie sehr genau herausarbeitet, wie und wo und unter welchen Bedingungen Kirchen und Religionsgemeinschaften theologisch begründet eine patriarchale Struktur aufrechterhalten, die eine entsprechende Ausübung von Macht, Herrschaft und Gewalt nach sich zieht. Denn sonst kämen auch diejenigen in ein Dilemma, die der Autor selbst zitiert, die sich im Raum der Kirche für mehr Demokratie einsetzen (wie in der ehemaligen DDR), oder die sich unter einem Anspruch der Theologie der Befreiung für die Rechte der Armen einsetzen; beides Beispiele für ein politisches Religionsverständnis, wenn ich Politik als öffentliches Handeln verstehen will.

Der Anspruch von Ideologiekritik würde gleichzeitig erlauben, nicht hinter die Erkenntnisse der “Dialektik der Aufklärung” quasi zurückzufallen und die der Moderne immanente Gewalt selbst in den Blick zu nehmen. Das vom Autor gewählte Beispiel der Homosexualität (vgl. S.13) taugt nämlich wenig, um “Religion” und “Staat” gegeneinander zu stellen. Es war die vernunftbegründete Moderne, die die Homosexualität und dann die Homosexuellen erst identifizierte, dann auf den Begriff brachte, zum Gegenstand von Medizin und Psychologie machte und kriminalisierte. Die Weltgesundheitsorganisation, weit entfernt, religiös zu argumentieren, hat bis 1992 gebraucht, um Homosexualität im ICD-10 von der Liste der psychischen Störungen zu streichen. Und es ist die protestantische Staatskirche Dänemarks, die Eheschließungen von Homosexuellen vor dem Altar ermöglicht.

“Die altbewährte Technik, die Gegenpartei mit Nazivergleichen zu erledigen, nahm groteske Formen an. Richter Beenken, die ganze Corona der Zweifler an der Zwangsbeschneidung: alles Antisemiten. Kann man einen Kontrahenten effektvoller zerlegen, als ihm die moralische Satisfaktionsfähigkeit abzusprechen?” Wenn Jens die Gegenseite referiert, macht er kaum direkte Aussagen über die Gegner_innen seiner Streitschrift. Die rhetorische Frage suggeriert den Leser_innen das Urteil. Und sie bestätigt zugleich einen Modus der wechselseitigen Abwertung der anderen. Dem Autor ist da zuzustimmen, wo eine Gesellschaft die Diskussion führt um Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Laizismus, Kindeswohl, körperliche Unversehrtheit und die Rechte von Religionsgemeinschaften im säkularen Staat.

Dass eine differenzierte Betrachtung hilfreich und nötig ist, zeigen andere als Jens, dessen Streitschrift auf die allzu schlichte Gleichung Religion = Verletzung des Kindeswohls = Unrecht hinausläuft. Heinz-Jürgen Voß und Matthias Zaft (URL = http://dasendedessex.blogsport.de/images/Voss_Zaft_Medizinethische_Fragen_zur_Beschneidung_2013_5_7_.pdf , Stand: 08.05.2013) beleuchten den “(medizinethischen) deutschen Diskurs um die Vorhautbeschneidung” und hinterfragen das Erkenntnisinteresse der beteiligten Parteien: “An wessen Rechte und an wessen Freiheit wird gedacht, wenn Selbstbestimmung, Unversehrtheit und Kindeswohl eingefordert werden? Vor dem Hintergrund welcher selbstverständlichen Setzungen kommen Forderungen überhaupt erst auf? Wer kann sich vor dem Hintergrund dominanter Setzungen äußern und wer ist ausgeschlossen, wird also zum ‘Schweigen gebracht’?” (Ebd., S.12) Es sollte nicht allzu überraschend sein, wenn es für den gesellschaftlichen Diskurs hilfreicher wäre, zu fragen und auf Antworten zu hören, als den Streit wiederholt zu forcieren.

Homepage von Tilman Jens

Artikel auf der Homepage von Markus Chmielorz

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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