Zu: Dr. Clemens Sedmak: Mensch bleiben im Krankenhaus – Zwischen Alltag und Ausnahmesituation, Styria Premium in der Verlagsgruppe Styria GmbH& CoKG Wien, Graz, Klagenfurt 2013, ISBN: 978-3-222-13399-2 176 Seiten, Preis: 19,99€
Ein Krankenhaus ist ein Mikrokosmos, in dem sich die ganze Bandbreite menschlichen Lebens zeigt. Doch es ist weder eine Reparaturwerkstatt noch ein Hotel, sondern eine Einrichtung mit einem eigenen moralischen Leben. Das Krankenhaus ist also mehr als ein Gebäude, es wird geprägt durch alle Menschen, die dort arbeiten und den Patientinnen und Patienten, die auf Heilung hoffen, oftmals aber auch den Grenzsituationen des Lebens nahekommen und ihnen unweigerlich ausgesetzt sind. Mittelbar, aber auch mitunter ganz unmittelbar. Das Krankenhaus ist ein Ort großer Hoffnungen und unangenehmer Wahrheiten, deren individuelle, mitunter schicksalhafte Bandbreite strukturiert wird durch das Bemühen um geregelte Abläufe. Aufgeworfen werden dabei durchaus die Fragen nach der eigenen Wahrnehmung der jeweiligen Situation und der jeweiligen Position, die der Einzelne im Gesamtgefüge des Krankenhauses, mitunter verbunden mit deutlichen Wechselhaftigkeiten einnimmt.
Wie fühlt es sich an, in einem Krankenhaus zu arbeiten? Was bedeutet es, wenn man dort als Patient ist? Wie steht es um die Menschen in einem Krankenhaus? Jeden Einzelnen, aber auch die scheinbar wahllos zusammen gewürfelten Gruppierungen, meist Gemeinschaften auf Zeit? Was macht das Krankenhaus aus ihnen? Wichtig vor allen Dingen in diesem Zusammenhang auch die Antwortsuche auf eine – nicht nur im Krankenhaus – existentielle Frage: Was ist eigentlich Gesundheit? Jedes Nachdenken darüber ist auch ein Nachdenken über ein ernsthaftes Leben, das auch von Sorge um sich selbst, von Ansprüchen und Zielen geprägt ist. Gesundheit und das „Ja zu sich selbst“ sind untrennbar miteinander verknüpft.
Vor dem Hintergrund derartiger fundamentaler Fragen und den vielschichtigen Antwortmöglichkeiten, die der Autor in vielen Gesprächen mit unterschiedlich Betroffenen erarbeitet hat, entwickelt er für alle, lohnende Denkanstöße. Denkanstöße, aus denen allgemein gültige Verhaltensregeln erwachsen können, die ihrerseits die Grundlage einer allgemein gültigen Ethik zu bilden in der Lage sind.
Das Erleben und Empfinden des Einzelnen in ganz konkret erfahrenen Situationen bildet immer wieder den Ausgangspunkt, dieses Erleben in einen größeren, allgemeingültigen Zusammenhang von Theologie, Philosophie, Psychologie und Soziologie zu stellen und zu reflektieren, um aus diesen Reflexionen Impulse zu geben, das je eigene Handeln immer wieder neu im Hinblick auf die im Miteinander nötige Menschlichkeit hin zu überdenken.
In seinem berühmten Buch „Im Himmel warten Bäume auf dich“ schildert Michael Schophaus die Krankheit und das Sterben seines Sohnes Jakob, der im Alter von zwei Jahren an Krebs erkrankt…. Mit einem Mal wird das Krankenhaus zum Alltag der Familie, der Krankenhausalltag zur Lebensaufgabe. Michael Schophaus schildert sich selbst als ungeduldigen Menschen, der angesichts seines schwer kranken Kindes wenig Verständnis für das Personal im Krankenhaus zeigen kann und will. … „Hier eine Spritze und dort ein Verband… Nor selten gab es Antworten, wenn ihn die Ärzte etwas fragten, denn sein Misstrauen wuchs mit dem Tumor… und wenn es ihm bei der Visite zuviel wurde, wenn die weißen Kittel wichtig und dicht gedrängt ums Bettchen standen, legte er sich einfach auf die andere Seite und schloss die Augen, stellte sich tot, bis es wieder ruhiger wurde, bis er sich sicher wähnte in seiner kleinen Welt. (S.9)
Mit diesem Erfahrungsbericht, in dem sich sicher viele Kranke wiederfinden, beginnt Clemens Sedmak die Einleitung seines Buches, in dem es ihm vor allem darum geht, die oft festgefahrenen Strukturen des Krankenhauses, die kaum einmal im Alltagsleben überdacht werden, aufzubrechen, um den Einzelnen deutlicher wahrzunehmen, ihm individuell gerechter zu werden und so ein Klima größer Menschlichkeit zu erreichen.
Michael Schophaus schreibt davon, wie er mit seinem Sohn die Ärzte eingeteilt hat „in gute und schlechte, in nette und blöde, in arrogante und nahbare Gesellen.“ Im Laufe des Berichts stellen sich zwei Eigenschaften als Schüssel heraus: Fürsorglichkeit und Ernsthaftigkeit. Nicht kumpelhafte, das Leiden bagatellisierende und geschwätzige Ärzte… nicht die Eitlen und die Arroganten bestanden die Prüfung durch Michael und Jakob Schophaus, sondern die guten Zuhörer, die selbstverständlich Fürsorglichen, die Ernsthaftigkeit und Sicherheit ausstrahlten. Das ist eine Frage der Charakterbildung, eine Frage der Werte, eine Frage der strukturellen Rahmenbedingungen. (S.10)
Diese Wahrnehmung deckt sich sicherlich mit den Erfahrungen einer Vielzahl von Patienten. Sie wird darüber hinaus ergänzend reflektiert durch Aussagen von Mitarbeitern unterschiedlicher Berufsgruppen im Krankenhaus, die ihr Erleben des Miteinanders, kollegial und bezogen auf das Miteinander mit dem Patienten in Interviewnotizen beschreiben.
Aus diesem konkreten Erleben, diesem konkret Erlebten entwickelt der Autor immer wieder neu die Forderung nach Menschlichkeit, die auf einer allgemein ethischen Grundlage basierend der konkreten Situation entsprechend individuell angewendet wird.
Ethik entsteht nicht in der dünnen Luft der Theorie, sondern ihr Ort ist die stickige Atmosphäre konkreter Konflikte. Sie ist gebunden an konkrete Orte und Entscheidungen. (S.17)
Diese für den Klinikalltag grundlegende Forderung stellt der Autor im weiteren Verlauf zunächst sehr umfassend in unterschiedliche ethische Konzepte, in denen es darum geht, über das Gute nachzudenken, also der Frage nachzusinnen, was Ethik überhaupt darstellt, wie sie sich äußert, was ihr Grundanliegen ist, insbesondere auch, welche Freiräume, welche Handlungsspielräume sie uns ermöglicht. Unabhängig vom Klinikalltag wirft Sedmak im Verlauf so die fünf Fragen der Ethik auf, ohne allerdings darauf letzte Antworten zu geben. Der Leser ist – wie oft in diesem Buch – eingeladen, selber nach ihm entsprechenden – und doch allgemein gültigen Antworten zu suchen.
Die fünf Fragen der Ethik:
Was ist ein guter Mensch? (Was macht einen guten Charakter aus?)
Welche Handlungen, bzw. Handlungstypen sind gut?
Was ist in einem ethischen Sinn ein gutes Leben?
Was ist eine gute Institution?
Was ist eine gute „Entscheidung“? (S.25)
Ausgehend von diesen Fragen wird das Augenmerk zunächst umfangreich auf die Institution „Krankenhaus“ gelegt, den Alltag, die Herausforderungen, die Strukturen und die damit verbundenen Ordnungen, das Bemühen in diesen Menschlichkeit erkennen und lebendig werden zu lassen. Als einer der Wichtigsten Punkte dabei wird die Selbstachtung des Menschen, insbesondere auch des Patienten angesehen, die untrennbar verbunden ist mit der Menschenwürde und dem Schutz der Intimsphäre.
Drei Vorschläge für eine ethische Selbstvergewisserung: Der Umgang mit Menschen unter widrigen Umständen sollte als Lackmustest für die Menschenwürde angesehen werden. Also die Frage, ob Menschen auch unter erschwerten Rahmenbedingungen anständig behandelt werden. Zweitens sollte ein besonderes Augenmerk auf die sensiblen Stellen elementarer Lebensvollzüge gelegt werden: Gestaltung von Raum und Zeit, Schlafen, Essen und Trinken, Waschen und Ausscheiden. Gerade für Auf eine kleine Ethik des Krankenhausalltages sind diese Bereiche eine Einladung, sich Gedanken darüber zu machen, wie solche Abläufe möglichst würdesichernd gestaltet werden können. Ein besonderes Augenmerk sollte auch der Verbesserung der Schlafqualität gelten, was sich sowohl auf den Patienten und die ihm ungewohnte Umgebung bezieht, als auch auf die Mitarbeiter, deren Schlafrhythmus häufig gestört ist durch schnell wechselnde Schichtdienste. …. Zwingend notwendig ist es also, dass der Begriff der Menschenwürde mit dem Begriff der Selbstachtung verbunden wird. Selbstachtung drückt eine grundsätzliche Haltung mir gegenüber aus und spricht die Achtung an, die ich mir auf Grund meines Menschseins schulde. (S.34ff)
Ausgehend von dieser Grundlage erarbeitet der Autor einen umfassenden Gesundheitsbegriff, hergeleitet aus Veröffentlichungen der WHO und unterschiedlichen philosophischen, theologischen und kulturellen Denkrichtungen und Schulen. Wieder einmal wird der Leser zum Nach – Denken eingeladen, auch dazu, sich nicht vorschnell festzulegen und die eigene Erkenntnis als ultima ratio anzusehen.
Wichtige Voraussetzungen für ein gelingendes Miteinander im kleinen Kosmos Krankenhaus ist eine lebendige und intakte Gesprächskultur.
Der Schlüssel zu jeder Form von Kooperation ist eine Form der Gesprächskultur – die Fähigkeit und Bereitschaft, zuzuhören, sich auszudrücken, Standpunkte aufeinanderzubewegen, zu einer Entscheidung kommen. … Die Qualität von Interaktion und Beziehungen in einem Krankenhaus stellt sich nicht einfach ein, sie muss erarbeitet werden. (S.76) Dabei – das macht der Autor im weiteren Verlauf deutlich, ist jeder der in diesem Kosmos Krankenhaus lebenden und arbeitenden gleichermaßen gefordert, seinen Pflichtteil zu erfüllen. Auch Patienten sind nicht von gewissen Verpflichtungen, den Umgang miteinander betreffend entbunden. Doch auch Pflegende sollten immer wieder ihr Gesprächsverhalten reflektieren, insbesondere, wenn es um scheinbar schwierige Gegenüber geht. Der Schwerhörige sollte nicht so eingestuft werden, als verstünde er vom Sinn des Lebens rein gar nichts. Und auch derjenige, der unserer Sprache nicht (umfassend) mächtig ist, ist nicht nur im Sinne einer gelingenden Gesprächskultur nicht ausschließlich auf die sprachliche Dialogfähigkeit zu reduzieren.
Diese für den Krankenhausalltag wertvollen Gedankenanstöße werden hergeleitet aus unterschiedlichen Gesprächstheorien, insbesondere auch eingebettet in die Verhaltenscodizes des Hl. Ignatius und des Hl. Bennedikt. Eine Grundlegung, die zum Nachlesen und Weiterdenken einlädt, in der konkreten Arbeitssituation die jeweils Betroffenen aber eher nicht erreicht.
Mensch bleiben im Krankenhaus – wertvolle Denkanstöße, das eigene Handeln und die ihm zugrunde liegenden Beweggründe (neu) zu überdenken und bewusst zu verorten. Allerdings wird dem Leser dabei auch zugemutet, sich auf gewissen „Austrizismen“ einzulassen, sich mit ihnen auseinander zu setzen.
Der Autor Clemens Sedmak (* 6. August 1971 in Bad Ischl) ist österreichischer Theologe und Philosophieprofessor, Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg sowie Präsident des ifz-salzburg. internationales forschungszentrum für soziale und ethische fragen. Er promovierte an den Universität Innsbruck und der Universität Linz in Philosophie, Theologie und Sozialtheorie. Anschließend folgten weitere Studienaufenthalte in Maryknoll (New York) und an der ETH Zürich. Im Jahr 1999 habilitierte er an der katholisch-theologischen Privatuniversität Linz in Fundamentaltheologie und ein Jahr später an der Universität Innsbruck in Philosophie. Sedmak ist verheiratet und hat drei Kinder.