Das Gehirn tickt sozial, Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2014

Zu: Dirk Baecker: Neurosoziologie, ein Versuch, edition unseld 52, Suhrkamp Verlag Berlin 2014, ISBN 978-3-518-25052-4, Preis: 18,00 Euro

Die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit Naturwissenschaft führt nicht selten zu ideologischen Konstrukten. Besser wäre es wahrscheinlich mit Sokrates zu sagen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Indem Dirk Baecker, Lehrstuhlinhaber für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität Friedrichshafen, die Soziologie ins Gespräch mit der Gehirnforschung bringt, vollzieht er zunächst die Dekonstruktion des Wissens um das Gehirn, da gerade die leicht zu postulierende soziale Funktion in der Entstehung des Gehirns wissenschaftlich auf Grenzen stößt.

Dirk Baecker skizziert: „Die Gehirnforschung ist aktuell so weit entwickelt, dass man sich vorstellen kann, dass das Gehirn zu Formen eines kreativen Selbstumbaus in der Lage ist, die das Gehirn in die Reichweite einer Phänomenologie des Geistes rücken, die diesen Geist aus der Dialektik des Umgangs mit selbsterzeugten Problemen entstehen sah. Aber wenn Jo Reichertz die Fähigkeit zum Selbstumbau mit Peirce auf einen abduktiven ‚Rateinstinkt‘ des Gehirns zurückführt, so gilt diese Notwendigkeit des Rückgriffs auf einen Instinkt wohl erst für einen Umbau der Soziologie zu einem möglichen Beitrag zu einer soziologischen Theorie des neuronalen Systems. Auch die Soziologie muss hier ‚raten‘. Und ‚Instinkt‘ heißt, einem Wissen zu folgen, das man zwar längst erlebt, verkörpert und erhandelt, deswegen aber noch lange nicht hat geschweige denn beschreiben kann.“ (S. 28).
Trotzdem ist schon seit Edmund Husserl von einer „Bewusstseinsphilosophie“ (S. 13) die Rede. Medizinisch und biologisch ist das Gehirn gut erforscht, da die Beobachtungsmittel sich stark verbessert haben. Doch wie soll man mit diesen auf einzelne Personen zugeschnittenen Bildgebungsverfahren soziologische Fakten beschreiben, wobei andererseits die Entwicklung des Gehirns ohne die soziale Qualität nicht denkbar zu sein scheint: „Erst diese positiven Emotionen und deren dauernde Pflege hätten die Ausdifferenzierung von Kernfamilienstrukturen,… sowie die Entstehung vielfältiger weiterer Formen sozialer Solidarität, positiver Sanktionen und emotional aufgeladene Symptome (usw., d. Rez.) ermöglicht. (S. 25).
Warum bekommt die Hirnforschung eine Art Leitfunktion in der neueren geisteswissenschaftlichen Diskussion? Welche Ideologie muss dahinter vermutet werden, wenn das Gehirn und die künstliche Intelligenz in einem Wettstreit gesehen werden? „Das Gehirn droht an die Stelle zu rücken, die vom Menschen, von Personen, Individuen und Akteuren geräumt werden musste, seit ihnen Strukturalisten und Poststrukturalisten ihre mangelnde Autonomie vorrechneten.“ (S. 39).
Bevor jedoch solche Subjekte ihren Ort verlieren, ist Dirk Baecker davon überzeugt, dass das Gehirn und die Gesellschaft gleichermaßen auf soziologische Weise beschrieben werden sollten. Damit ist der Versuch der Neurosoziologie im eigentlichen Sinn des Wortes eine Kritik, die die Forschungsliteratur aufarbeitet und in einem Kontext schlüssig darstellt.
Die Hirnforschung darf nicht zur neuen Leitwissenschaft werden, wenn sie dem Ideal einer künstlichen Intelligenz nacheifert. Es ist jedoch auch keine Lösung, sie soziologisch zu ignorieren und abzuwarten, während allerorts wichtige Impulse aus der Beschäftigung mit dem Gehirn abgeleitet werden. Erst als soziales Organ ist das Gehirn richtig verstanden. Der Versuch einer Neurosoziologie bleibt bei der notwendigen Kritik nicht stehen.
Die Lektüre des Rezensenten bricht hier ab, sollte jedoch beizeiten fortgesetzt werden. Das Buch legt einen stabilen Steg in den spiegelglatt erscheinenden Teich der Hirnforschung, allerdings auf einem ebenso hohen sprachlichen und wie wissenschaftlichen Niveau.

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Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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