Zu: Emmanuel Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit. Vorwort von Astrid Nettling, Übersetzt von Astrid Nettling und Ulrike Wasel, Herausgegeben von Peter Engelmann, 2. Überarbeitete Auflage, Passagen Verlag Wien 2013, ISBN 978-3-7092-0084-1, Preis: 29,00 Euro
Emmanuel Lévinas (1905 – 1995) stammte aus einer litauischen Familie, geboren 1905 in Kaunas (damals Kovno, Russland). Die Familie lebte zwischenzeitlich in der Ukraine, kehrte aber nach Litauen zurück. 1924 begann Lévinas sein Studium in Frankreich (Straßburg), studierte aber auch zwei Semester in Freiburg bei Edmund Husserl und Martin Heidegger, Denkern, denen er zeitlebens verbunden blieb. Er wurde 1931 Franzose, kämpfte für die französische Armee und verbrachte die restliche Zeit des zweiten Weltkriegs in deutscher Kriegsgefangenschaft. Seine Eltern fielen der Ausrottung durch die Deutschen zum Opfer. Lévinas, seit 1931 französischer Staatsbürger, lehrte Philosophie als Professor von 1967 an, seit 1973 an der Pariser Sorbonne, wo er 1976 emeritiert wurde. (Informationen aus Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Emmanuel_Levinas (31.08.2014))
Bemerkenswert ist das Nachwort von Astrid Nettling (im Titel irrtümlich als Vorwort bezeichnet), in dem sie mit Gedanken von Husserl und Lévinas über die Methode und den Anspruch der Übersetzung meditiert. Daraus wird deutlich, dass die Übersetzung ein schwieriges, aber notwendiges philosophisches Geschäft ist, um Gedanken über nationale und sprachliche Grenzen hinweg zu verbreiten.
Interessant ist die Editionsgeschichte dieses Buches, das aus Mitschriften von Schülerinnen und Schülern der letzten Vorlesungen von Emmanuel Lévinas als Professor an der Sorbonne aus dem Semester 1975/76 entstanden ist. Der Text wurde also nicht von Emmanuel Lévinas selbst schriftlich bearbeitet. Die französische Ausgabe wurde im Jahr 1993, zwei Jahre vor seinem Tod herausgegeben. Die erste Auflage der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1995 ist inzwischen vergriffen. Sicherlich trägt das Buch seine Handschrift, und insofern ist die Nennung seines Namens als Autor berechtigt. Trotzdem ist es als Bearbeitung von Nachschriften eine besondere Art von Literatur, die Vorlesungstätigkeit dokumentiert. Die Anmerkungen im Text stammen auch nicht vom Autor, sondern von den französischen Bearbeitern und Herausgebern.
Diese Vorlesungen wurden zeitlich direkt nacheinander an je einem Vormittag abgehalten und orientieren sich an Heideggers Sein und Zeit. Die erste Vorlesung hat den Titel „Der Tod und die Zeit“, die zweite wird überschrieben mit: „Gott und die ‚Onto-Theo-Logie’“. Es ist anzunehmen, dass die meisten Hörerinnen und Hörer beide Vorlesungen hintereinander gehört haben.
Einige Bemerkungen sollen jeweils den Einstieg der beiden Vorlesungen reflektieren.
Die erste Vorlesung beginnt mit Gedanken über die Zeit und zwar mit der erstaunlichen Bemerkung, dass die Zeit kein Element des Seins ist. Lévinas orientiert sich an Heideggers Werk „Sein und Zeit“, setzt sich aber an entscheidenden Stellen auch davon ab. Indem er die Zeit von Sein unterscheidet, will er das Leben nicht als „Sein zum Tode“ verstanden wissen. Im Gegensatz zu Heidegger, der den Tod als Negativum sah, als Ende und Vernichtung des Lebens und insofern als Grenze, reflektiert Lévinas den Tod als Erfahrung über den Anderen (so schreibt Lévinas und meint „die Andere“ oder „die Anderen“ mit). Genauso wie der Tod eine Reduktion, ein Ende des Seins ist, ist er auch ein Aufbruch ohne Wiederkehr (S.19). Vielleicht kann man sagen, dass Lévinas dem Existenzialismus eine soziale Kategorie gibt. Hier treten die Vorteile des Vorlesungscharakters zu Tage. Die Sätze sind klar und einprägsam formuliert: „Die Zeit ist nicht die Begrenzung des Seins, sondern seine Beziehung zum Unendlichen. Der Tod ist nicht Vernichtung, sondern notwendige Frage, damit diese Beziehung zum Unendlichen oder die Zeit entsteht.“ (S.28) Lévinas spricht nicht zu Unrecht von einem „Dialog mit Heidegger“, den diese Vorlesungen leisten. Wenn auch Heidegger selbst schon das Mit-Sein bedacht hat, so kommt doch bei Levinas durch die Kategorie des Anderen die Sinnfrage viel deutlicher zu Tage. Die Vorlesungen folgt neben Heidegger Gedanken von Kant, Hegel und zuletzt von Ernst Bloch.
Im zweiten Teil des Buches, der anderen Vorlesung über die Onto-Theologie geht es ebenfalls darum, Elemente des Werkes von Heidegger aufzunehmen, zu kritisieren und weiterzuführen. Indem Levinas bemerkt, dass in der Philosophie Heideggers der Begriff Gottes mit dem Sein gleichgesetzt worden sei, stellt er nun die Frage: „Bedeutet Gott nicht das Andere des Seins?“ (Deutsche Sprache ist im Text kursiv gedruckt) (S.136 – Anmerkung des Rezensenten: Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass Derrida mit dem Ausdruck Wiederkehr der Religion unter anderem die Philosophie von Emmanuel Lévinas meint, die er vor dem Hintergrund säkularen Denkens in der Philosophie als eine erneute Bezugnahme der Religion beschreibt.) Es ist schon interessant, dass der Begriff Gott und damit die Religionsphilosophie nach Lévinas‘ aus der Philosophie nicht wegzudenken ist, wenn auch beim Umgang damit nun Vorsicht geboten ist. Geht es damit vor allem um negative Theologie, und ist Gott das „Jenseits des Seins“ (S. 137), oder ist er, wenn schon nicht das Sein selbst, dann wenigstens die „Offenbarkeit des Seins“ (S. 138)? In diesem Zusammenhang kommt es in dieser Vorlesung zu einer Bemerkung, die in Klammern gesetzt ist und die die Bearbeitung in einem Exkurs oder einer Anmerkung verlangte (der Rezensent), die aber hier fehlt: „(Aber „Offenbarkeit des Seins“ stellt für die Griechen ein Pleonasmus dar. Das Sein ist Offenbarkeit, „Sein“ = „Offenbarkeit“. – Und Heidegger behält diese Position bei.“ [S. 138]) Die Anmerkung (11), die an dieser Stelle notiert ist, geht darauf ein, dass Lévinas hier Michel Henry zitiert, der den Begriff Offenbarkeit als „Manifestation“ bezeichnet. Es wird aber nicht deutlich, wie die Aussage gemeint und von wem überliefert ist, dass “Offenbarkeit des Seins“ für die Griechen einen Pleonasmus darstelle. Ebenso bleibt unklar, inwiefern dies Heidegger beibehält. Klar ist, dass es in der Ontologie immer um Sprache geht und auch unausgesprochen mit dem Wort „Sein“ der sprachliche Ausdruck dessen mitgedacht ist. Dies zeigt Lévinas in der gleichen Vorlesung später mit dem Begriff „Seinsvollzug“ (S.140), da hierbei deutlich wird, inwiefern der Vollzug des Seins an die Sprache gekoppelt ist. Wenn der Begriff des Pleonasmus hier diskutiert worden wäre, hätte man zeigen können, dass auch das Wort „Selbstvollzug“ nur pleonastisch denkbar ist. Offen bleibt weiterhin, inwiefern ein Pleonasmus überhaupt verwendbar ist (z. B. der Sinn des Lebens ist das Leben). Der weitere Fortgang der Vorlesungen geht darauf nicht mehr ein, sondern widmete sich der eigenständigen Weiterentwicklung der Ontologie durch Lévinas, der in der Ethik eine „Beziehung zum Anderen, zum Nächsten“ (S. 146) sieht, und diese zugleich definiert: „Eine Beziehung ist eine Nähe, die eine Verantwortung für den Anderen darstellt.“ (ebd.) Bei Lévinas bleibt die Verwendung des Wortes Gott und des Anderen m. E. in der Schwebe, so dass Gott hier nicht wie in der dialektische Theologie der oder das Ganz – Andere ist, sondern die Transzendierung des eigenen Lebens zum Anderen und zum Nächsten hin. Die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz, wie sie in der Theologie manchmal begegnet, erübrigt sich damit, da beide nicht als Gegensatz gedacht werden müssen. Der Vorteil der Beschäftigung Lévinas‘ mit der Ontologie ist gegenüber Heidegger, dass er eine Ethik nicht nur einschließt, sondern geradezu fordert. Aus der Beschäftigung mit dem Sein folgt die Ethik, die selbst nicht Ontologie ist, aber von der Verantwortung her zu denken ist, die aus dem Denken des Wortes Gottes und vom Sein aus folgt. Der Schluss weist aber darauf hin, dass Gott nicht mit dem Nächsten und Anderen identisch ist, sondern „transzendent bis hin zur Abwesenheit, bis hin zur möglichen Verwechslung mit dem Lärm des Es gibt.“ (S. 231)
Mit dieser Rezension ist der Inhalt des Buches nicht referiert, sondern werden seine Argumentationslinien angerissen und den möglichen Leserinnen und Lesern eine Vorausschau der Lektüre gegeben. Es wird deutlich, dass Religion und Philosophie nicht derart unvereinbar sind, wie es zuletzt in der abendländischen Philosophie erschien. Wer dies Buch theologisch liest, wird jedoch nicht umhin kommen, manche religiösen Gedanken erfrischend neu denken zu können, ohne die Welt in zwei Wirklichkeiten einteilen zu müssen. Ein Manko bleibt, dass es ein redaktionelles Werk aus Vorlesungsmitschriften ist, und daher kein vom Autor selbst bis ins Letzte durchformuliertes Buch.