Diese Predigt hält Diakon Behnert am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres in der Christuskirche (Hamm) und richtet sich nach der zur Erprobung freigegebenen Neuen Perikopenordnung.
Die Gnade Gottes, unseres Vaters und die Liebe unsres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft im Heiligen Geist sei mit uns allen. Amen.
Liebe Gemeinde!
Die Zeit zwischen den Jahren ist für viele Menschen eine Gelegenheit, Bilanz zu ziehen. Rückschau zu halten, auf das, was war. Ausschau zu halten in eine nicht bekannte Zukunft hinein, die aber trotzdem schon oftmals angefüllt ist von Plänen und Träumen. Keine Sorge! Ich weiß sehr wohl, dass wir noch nicht am Ende des kalendarischen Jahres angekommen sind. Und doch leben wir auch in diesen Wochen seit dem letzten Sonntag bis hin zum 1. Advent in einer besonderen Zeit zwischen den Jahren. Das alte Kirchenjahr geht, beginnend mit dem vergangenen drittletzten Sonntag zu Ende, bis dann am 1. Advent das neue Kirchenjahr beginnen wird. In besonderer Weise wird dabei, gegen alle unsere Pläne, Hoffnungen und Träume unser Blick immer wieder auf die Begrenztheit unseres Lebens gerichtet. Manch einer mag es schon am letzten Sonntag gehört und gebetet haben, was wir heute miteinander im Psalmgebet gesprochen haben: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“ Ein Angst machender und Mut machender Satz gleichermaßen, auch wenn man das Letztere unter Umständen nur sehr verzögert wahrnimmt. Wir werden hingewiesen auf die Begrenztheit unserer Lebenszeit auf Erden, wir werden gleichermaßen aber auch heraus genommen aus dem ewigen Kreislauf des „Stirb und Werde“. Wir werden hingewiesen auf die Begrenztheit unserer Lebenszeit auf Erden und werden doch hineingestellt in die ganz andere Zeitrechnung Gottes. „Denn tausend Jahre sind vor Dir, wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.“ Doch gerade dies ist eine Größenordnung, die wir oftmals übersehen, und die, wenn wir sie denn wahrnehmen uns eher erschreckt und ängstigt, als dass sie uns tröstet. Und schnell kommt in uns die Frage auf: Was ist der Mensch überhaupt? Und nicht wenige sind es, die diese Frage angesichts einer scheinbar unaufhaltsamen Vergänglichkeit des Seins, erweitern und nach dem Wert des Menschen und seines jeweiligen Lebens fragen. Insbesondere in persönlichen Krisenzeiten, in Zeiten, in denen wir mit der Begrenzung des Lebens unmittelbar konfrontiert werden, wird diese Frage immer wieder – und ich denke auch, nicht zu Unrecht – mal mehr mal weniger laut, deutlich und bewusst gestellt. „Was ist der Mensch?“ Eine Frage die Menschen angesichts der Grenzerfahrungen des Lebens zu allen Zeiten gestellt haben. Eine der bekanntesten überlieferten datiert etwa 2500 Jahre zurück und wir finden sie in einem Buch des Tennach, einem Buch unseres Alten Testamentes. Dort fragt ein Mensch – und klagt an:
„Was ist der Mensch, von einer Frau geboren? Sein Leben ist nur kurz, doch voller Unrast. Wie eine Blume blüht er und verwelkt, so wie ein Schatten ist er plötzlich fort. Und trotzdem lässt du ihn nicht aus den Augen, du ziehst ihn vor Gericht, verurteilst ihn! Du musst doch wissen, dass er unrein ist, dass niemals etwas Reines von ihm ausgeht!Im Voraus setzt du fest, wie alt er wird, auf Tag und Monat hast du es beschlossen. Du selbst bestimmst die Grenzen seines Lebens, er kann und darf sie niemals überschreiten.
Darum blick weg von ihm, lass ihn in Ruhe und gönne ihm sein bisschen Lebensfreude! Für einen Baum gibt es noch eine Hoffnung: Wenn man ihn fällt, dann schlägt er wieder aus. Selbst wenn die Wurzeln in der Erde altern, der Stumpf im Boden abstirbt und verdorrt er muss nur ein klein wenig Wasser spüren, dann treibt er wieder wie ein junges Bäumchen. Doch stirbt ein Mensch, so ist es mit ihm aus. Wenn er gestorben ist, wo bleibt er dann? Verbirg mich doch dort unten bei den Toten, versteck mich, bis dein Zorn vorüber ist! Bestimme doch, wie lang ich warten muss, bis du mir deine Güte wieder zeigst. Du würdest rufen, ich dir Antwort geben. Du würdest wieder Freude an mir haben und daran denken, dass ich dein Geschöpf bin. Du würdest alle meine Schritte zählen, doch keine Liste meiner Sünden führen.
Für immer würdest du die Schuld verschließen, du decktest alle meine Fehler zu.“ (Hiob 14 i.A.)
Hier spricht ein Mensch, der – zumindest vorübergehend – ganz am Ende angekommen ist, der jede Perspektive, jeden Lebensmut und Lebenswillen verloren hat, Wahrheiten aus, die durchaus auch heute noch gültig sind. Und die doch viel tiefer gehen, als wir beim ersten Hören und Lesen u.U. ahnen und wahrnehmen.
Die Vergänglichkeit des Menschen, seine dauerhafte Unruhe und Unrast stehen uns auch heute noch Tag für Tag, wahrscheinlich mehr denn jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte vor Augen. Allezeit erreichbar zu sein, in kürzester Zeit zur Gewinnmaximierung das Größtmögliche erreichen und jederzeit omnipräsent zu sein gehören in besonderem Maße zu Charakteristika unserer Zeit und Gesellschaft. Und kaum einer nimmt dabei die Begrenzungen unseres Seins noch wirklich wahr, geschweige denn, dass er zu sagen vermag, worauf hin diese Unrast und Unruhe gerichtet ist, als einzig und allein auf den schnell vergänglichen Augenblick. Genau in diese Unruhe hinein dringt aber auch der Satz des heiligen Augustinus, in dem er unserer Unruhe durchaus ein Ziel gibt: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir!“ Dieser Satz weist über uns hinaus und eröffnet uns bei aller Begrenzung, die wir, mitunter immer wieder erleben müssen, eine Perspektive über diese Grenzen hinaus. Wir, die wir uns zu Jesus Christus bekennen, dürfen uns dabei auch an die Liedstrophen erinnern lassen, in denen Eleonore Fürstin von Reuß darauf hingewiesen hat:
„Es ist eine Ruh vorhanden für das arme, müde Herz; sagt es laut in allen Landen: Hier ist gestillet der Schmerz. Es ist eine Ruh gefunden für alle fern und nah: In des Gotteslammes Wunden, am Kreuze auf Golgatha.“
„Was ist der Mensch, vom Weibe geboren? Diese Frage beinhaltet doch letztlich auch die Frage: „Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst?“
Doch gerade dieses Gedenken Gottes an den Menschen vermisst der Sprecher unseres Textes, möchte es aber auch gar nicht mehr wahrhaben.
Hiob sitzt auf den Scherben dessen, was einmal sein Leben ausgemacht hat. Alles hat er verloren. Zuerst alle materiellen Güter. Das war ihm zunächst nicht so wichtig. Daran hatte er nicht sein Herz gehängt.
„Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Gelobt sei der Name des Herrn“.
Doch nachdem nun auch noch seine 10 Kinder dahingerafft worden waren und er selbst schwerst erkrankt die Wunden seiner Seele und seines Körpers mit den Scherben seines vergangenen Wohlstands zu reinigen versucht, ist es mit all seiner Fassung vorbei. Unendliche Trauer, tiefste seelische Erschütterungen und die Erfahrung körperlicher Hinfälligkeit bestimmen seine Situation, die auch durch das scheinbare Mitgehen von Freunden nicht verbessert wird. Während sie das wohltuende Schweigen ihrer Nähe mit der argumentativen Suche nach der moralischen Schuld Hiobs beenden und Hiob so noch zusätzlich belasten, wendet Hiob selbst sich noch im Gespräch mit seinen Freunden, noch im Ansatz einer Rechtfertigung an Gott selbst, den er auch in dieser Situation nicht loslassen, an dem er auch jetzt noch festhalten möchte. Auch, wenn das in unseren Ohren vielleicht doch anders klingen mag. Beachten wir dabei aber, dass auch schon bei Hiob gegolten hat, was wir auch heute noch in Anspruch nehmen (dürfen): Der Aufforderung Hiobs an Gott selbst: Blick doch weg von mir! Lass mich einfach in Ruhe und in meinem Frieden mein Leben beschließen, bis ich es wieder an Dich zurückgebe! stehen die Worte des aronitischen Segens gegenüber, möglicherweise auch entgegen, unter denen auch wir nach jedem Gottesdienst in die neue Woche aufbrechen: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Dir und sei Dir gnädig, Der Herr erhebe sein Angesicht auf Dich und schenke Dir Frieden!“ —– Eine Erfahrung, von der Hiob weit entfernt zu sein scheint. Genau wie die Hiobs unserer Tage und aller Zeiten. Die junge Kollegin, die sich zunächst auf die notwendige Therapie ihrer bösartigen Erkrankung einlassen kann, dann aber plötzlich gegen ihre Ängste ankämpfen muss, als sie tatsächlich auf die Krebsstation verlegt wird und das Leiden und Sterben in ganz anderer Weise vor Augen hat. Jener ältere Mann, der noch die Hoffnung hat, sechs Jahre zu leben bis zur goldenen Hochzeit. Und auf einmal ist alles vorbei. Alle Träume und Hoffnungen zerplatzen und das Sterben wird so unendlich schwer. Wie viele in ähnlichen Situationen mögen beten: Nimm Dein Angesicht von mir!? Und können wir’s ihnen verübeln? Aber auch jene Frau, die mich vor vielen Jahren fragte: Wie können Sie noch an Gott glauben und zur Kirche gehen? Wo war Ihr Gott, damals, als mein Kind starb? Damals in Auschwitz, Dachau, Birkenau? — Ich gestehe: Manchmal bin ich sprachlos in solchen Gesprächssituationen. Aber das ist vielleicht auch gut so. Muss ich und kann ich denn diesen scheinbar so fernen und fremden, fremd gewordenen Gott überhaupt erklären, geschweige denn verteidigen, ohne am Ende so überheblich zu werden, wie jene Freunde, die Hiob ihren Beistand und ihr Mitgehen anbieten?! Inzwischen bin ich sicher: Genau dort, wo wir unsere Not in den Himmel schreien und auch die unbequemen Fragen stellen nach Recht und Gerechtigkeit, nach der Gegenwart des fremden und fernen Gottes, genau dort ist Gott uns am Nächsten. Egal, ob wir unser eigenes Schicksal bedenken, oder die Unglücksfälle unserer Gesellschaft, Zeit und Geschichte vor Augen haben und vor Gott bringen.
Am heutigen Volkstrauertag gedenken wir der über 67 Mio. Menschen, die seit dem 1. Weltkrieg der Gewalt, die von unserem Land und Volk ausgegangen ist zum Opfer gefallen sind. Weit mehr als 123 Mio. Menschen sind es, die unter den Kriegsfolgen insgesamt zu leiden hatten und ihr Leben in einer Form gestalten mussten, die sie nicht als die ihre ansehen konnten.
An diesem Sonntag sehe ich gerade heute aber auch all jene, die auch heute auf der Strecke bleiben, weil wir ihnen aus egoistischen Gründen untersagen, bei uns wirklich anzukommen. Ein Leben in Sicherheit und Würde, in dem Bewusstsein angenommen zu sein zu führen. Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien, aus Nord – und Zentralafrika. Verzweifelte Hiobs, deren Ruf nicht nur Gott hören sollte, sondern auch wir!
Es wird Zeit, dass wir erkennen: Dass Gott das Leid der Welt, der Menschen und des Einzelnen sieht, wird erst dann für alle erkennbar, wenn wir aufhören, wegzuschauen!
Was ist der Mensch? Diese Frage stelle ich auch immer am Rand eines Grabes bei einer Beerdigung. Was ist der Mensch? – Er ist mehr, als wir vor Augen haben und begreifen. Wertgeachtet der Liebe in den Augen Gottes, wird der Mensch, jeder Einzelne von uns, Du, Du, und auch ich die Herrlichkeit des Himmels schauen. Nicht erst dereinst am jüngsten Tag, sondern schon jetzt, und dann in dem Augenblick, wenn wir hinüberwechseln von der einen Hand Gottes in seine andere. Ja, das von Hiob beschworene und im Evangelium beschriebene jüngste Gericht wird damit relativiert. Ich möchte – auch auf dem Aschehaufen meiner Existenz – festhalten an der Erkenntnis des Beters in den Klageliedern: „Der Herr verstößt uns nicht für immer. Auch wenn er uns Leiden schickt, erbarmt er sich doch wieder über uns, weil seine Liebe so reich und groß ist.“ (Klagelieder 3, 31 + 32).
Und mit Karl Rahner dazu stehen, dass „die Hölle am Ende leer sein wird“. Denn gegen alle Augenscheinlichkeit bin ich der Überzeugung, dass Gottes letztes Wort über ein Menschenleben immer ein Wort der Gnade ist.
Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.